Groko ignoriert eigene Berater*innen: Kein gesundes Essen mit Hartz IV
„… Die Bundesregierung ignoriert den Hinweis der eigenen Berater*innen, dass gesunde Ernährung für Hartz-IV-Bezieher*innen nicht zu bezahlen ist. Das steht in der Antwort des SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums auf eine kleine Anfrage des Grünen-Sozialpolitikers Sven Lehmann. (…) Es geht dabei um eine Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats des Landwirtschaftsministeriums. Dieser hatte im vergangenen Sommer ein Gutachten für eine „Politik für nachhaltigere Ernährung“ vorgelegt, in dem es eindringlich heißt: „Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren.“…“ Artikel von Alina Leimbach vom 7. April 2021 in der taz online, siehe mehr daraus und dazu:
- Ernährung: Auch mit Hartz IV sei gesunde Ernährung möglich, antwortet die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage. Ein Gutachten widerspricht dem.
„Die Ausführungen der Bundesregierung sind unmissverständlich: Dass eine „gesunderhaltende Ernährung“ mit Hartz IV nicht möglich sei, will sie nicht bestätigen. Einen „informierten, preisbewussten Einkauf“ vorausgesetzt, sei gesundes Essen auch mit wenig Geld „grundsätzlich“ drin. So argumentiert die Bundesregierung am 6. Oktober in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken. Zum Beleg verweist das federführende Bundesernährungsministerium auf das Gutachten seines wissenschaftlichen Beirats von 2020. Allerdings lässt sich auch dieses Gutachten schwerlich missverstehen: Es belegt das glatte Gegenteil. Schon lange vor der Rekord-Inflation rechneten darin 18 namhafte Wissenschaftler:innen vor, dass eine deutliche „Deckungslücke“ zwischen Hartz IV und den Kosten einer gesunden Ernährung besteht. Sie fordern deshalb eine „erhebliche“ Erhöhung der Regelsätze. Bisher dagegen seien zusätzliche Ressourcen wie angesparte Vermögen oder Unterstützung durch Freunde nötig, damit sich Hartz-IV-Empfänger zumindest „theoretisch“ eine gesunde Ernährung leisten können. (…) Harald Grethe kommentierte das süffisant: „Wir leben realweltlich, nicht theoretisch“, so der Agrarwissenschaftler. Er hatte dem Beirat vorgesessen, als dieser das Gutachten veröffentlichte. Realweltlich aber besteht aus seiner Sicht nun mal ein „materiell deutlich eingeschränkter Handlungsspielraum“ für Menschen in Armut – im Gutachten heißt es: „Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger.“ Grethes Fazit: „Die Bundesregierung gibt den Wissenschaftlichen Beirat nicht korrekt wieder.“ (…) Die Bundesregierung hingegen erkennt auch in den anderen Passagen ihrer Antwort an die Linksfraktion keinen akuten Handlungsbedarf: Das menschenwürdige Existenzminimum sei gesichert, „der Bedarf für Ernährung berücksichtigt“. Mit der geplanten Anhebung der Regelsätze um 12 Prozent beim neuen Bürgergeld würden die aktuellen Preissteigerungen zudem abgemildert. Auch damit geht die Bundesregierung auf Kollisionskurs zur wissenschaftlichen Evidenz. Gerade erst belegten zwei aktuelle Studien, dass eine angemessene Ernährung, etwa nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), mehr Geld kostet als bei Hartz IV vorgesehen. Und wie ein um 12 Prozent erhöhter Regelsatz eine Teuerung abmildern soll, die zuletzt binnen Jahresfrist bei 18,7 Prozent lag, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung…“ Artikel von Martin Rücker vom 24. Oktober 2022 in der Frankfurter Rundschau online - Weiter im Artikel von Alina Leimbach vom 7. April 2021 in der taz online : „… Das Gremium attestierte sogar: „Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“. Folgerichtig seien „im Sinne einer den Nachhaltigkeitszielen verschriebenen Politik die Berechnungsgrundlagen und -methoden der Regelbedarfsermittlung zu überprüfen“. Die Bundesregierung scheint aber nicht daran interessiert zu sein, diesen Ratschlag umzusetzen. Sie schreibt in der Antwort auf Lehmanns Anfrage, man sehe keinen Überprüfungsbedarf. Die Aufgabe der Regelbedarfsermittlung sei auch im Bereich Ernährung, „dass existenzsichernde Leistungen beziehende Menschen so gestellt werden wie alle einkommensschwachen Haushalte“. Konkret bedeutet das: Gesunde Ernährung sicherzustellen sei gar nicht das Ziel. Die Regelsätze sollen nur die – sehr knappen Mittel – der untersten Einkommen widerspiegeln. Allerdings werden in der Grundsicherung noch einige Ausgabenposten herausgerechnet. (…) Für Lebensmittel und Getränke sind für Singles dabei aktuell rund 5,09 Euro täglich als Ausgabenposten vorgesehen. Für Kinder und Jugendliche sowie Menschen in Paarhaushalten liegt der Betrag noch niedriger. Damit könne man sich nicht gesund ernähren, betont die Soziologieprofessorin Sabine Pfeiffer von der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie zu Ernährungsarmut in Deutschland forscht…“
Siehe zum Thema z.B. auch im LabourNet:
- vom Dezember 2020: Tafeln fordern Unterstützung vom Bund: Fehlende staatliche Armutsbekämpfung führt zu immer mehr Abhängigkeit von Lebensmittelspenden
- oder vom Mai 2019: Empörung bei der Berliner Tafel: Essen als Einnahmen verrechnet – »Es hat eine strafende Sicht Einzug gehalten«
- und vom Oktober 2018: Hartz IV: Lebensmittelgutscheine – Beschämend und menschenunwürdig