BVerfG für ein vom BGB abweichendes Sonderrecht nur für Bedarfgemeinschaften nach SGB II: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Berücksichtigung von Einkommen eines Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung
„… Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Dabei hat der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann daher grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann. Eine Anrechnung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn zivilrechtlich kein oder nur ein geringerer Unterhaltsanspruch besteht. Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“. (…) Zwar sind dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. (…) Der Gesetzgeber geht plausibel davon aus, dass die Existenzsicherung nur in dem Umfang erforderlich ist, in dem sie nicht durch Mitglieder einer häuslichen und familiären Gemeinschaft erfolgt. Der Gesetzgeber darf sich von der Annahme leiten lassen, dass eine verwandtschaftliche Bindung in der Kernfamilie, also zwischen Eltern und Kindern, grundsätzlich so eng ist, dass ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann und regelmäßig „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird. Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein…“ BVerfG-Pressemitteilung vom 7. September 2016 zum Beschluss 1 BvR 377/11 vom 27. Juli 2016 . Siehe dazu:
- [Kommentar zur BVerfG-Unterhaltsentscheidung] Umzug U25 nach SGB II: Die Norm statuiert lediglich einen Vorbehalt, kein Verbot.
„In Fällen, in denen das Existenzminimum durch die Familie tatsächlich nicht gewährleistet wird, ist daher auch die Zustimmung zum Umzug im Wege der Zusicherung nach § 22 Abs. 2a SGB II – heute nach § 22 Abs. 5 SGB II – zu erteilen. Wenn es unüberbrückbare Zerwürfnisse zwischen Eltern und Kindern gibt oder die Eltern ernsthaft eine über die Unterhaltspflichten hinausgehende Unterstützung verweigern, trägt die Annahme wechselseitigen Einstehens füreinander offensichtlich nicht mehr. Die Vorschrift ist auch nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung (…) so zu verstehen, dass an die Erteilung der Zusicherung auch unter angemessener Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des erwachsenen Kindes keine übermäßigen Anforderungen gestellt werden dürfen. Damit wird die Möglichkeit, die Bedarfsgemeinschaft im Fall tatsächlich fehlender Unterstützung zu verlassen und dann Ansprüche auf Existenzsicherung in voller Höhe und auch hinsichtlich der Kosten für eine eigene Wohnung geltend zu machen, zwar erschwert, aber nicht verstellt…“ Kommentar zu BVerfGE 1 BvR 371/11 vom 27. Juli 2016 von „Herrn Z.“ vom 7. September 2016 beim Tacheles-Forum – wir danken Norbert Hermann von Bochum Prekär für den Hinweis! Und:Rechtliche Leserart ist möglich und naheliegend, hat allerdings nur sehr wenig was mit dem neusten Urteil zu tun. Weshalb soll es überhaupt verfassungsgemäß sein, dass von Sozialleistungen abhängige Eltern erst ihre Kinder rausschmeißen müssen, damit diese volle Unterstützung bekommen?Deshalb siehe dazu auch:
- Hartz-IV-Urteil – jetzt wird Armut ansteckend
„Auch von 615 Euro Rente muss man abgeben, sagt das Bundesverfassungsgericht. Hartz IV macht die Familien kaputt, dafür werden Besserverdiener mit Samthandschuhen angefasst. (…) An dem Fall erkennt man die sozial zersetzende Wirkung der Hartz-IV-Gesetzgebung in Reinkultur. Kam früher ein Familienmitglied in Not, war es der erste Impuls der Verwandten, ihm Obdach zu gewähren. Heute muss man sagen: Alles, nur das nicht! Ist der Arme erst einmal in der Wohnung, wird eine Bedarfsgemeinschaft vom Amt unterstellt und die Verwandten werden bis aufs Hemd ausgezogen. (…) Offiziell gelten diese Regeln für alle. Praktisch haben sie nur für die Ärmeren Auswirkungen. Wer in seiner Mietwohnung mit drei Zimmern die Tochter mit Kind aufnimmt, die vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen ist, wird schnell auf die Bedarfsgemeinschaft festgenagelt. Eine Küche, ein Bad, ein Kühlschrank – da ist es schwer zu beweisen, dass man nicht aus einem Topf wirtschaftet. Nehmen Besserverdiener und Cleverle ihre mittellose Tochter mitsamt Enkel auf, haben sie tausend Möglichkeiten der Hartz-Haftung zu entgehen. Das geht, weil sie wirtschaftlich so beweglich sind, dass sie durch passende Gestaltung der Anrechnung für die Leistungen der Tochter leicht entgehen können.(…) Der unterlegene Kläger soll dagegen von seiner kümmerlichen Erwerbsunfähigkeitsrente abgeben. Mit 615 Euro Rente habe er schließlich „hinreichende Mittel“ und müsse „zur Existenzsicherung seines Sohnes beitragen“ Kommentar von Gernot Kramper vom 8. September 2016 bei Stern online