Psychotherapie für (sehr oft) traumatisierte Flüchtlinge scheitert nicht nur am Asylbewerberleistungsgesetz
Dossier
„Die psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten
und Asylbewerbern ist in Deutschland unzureichend. Dem hohen Anteil traumatisierter Menschen können die wenigen Einrichtungen kaum gerecht werden. Zu dieser Schlussfolgerung kommt eine Expertise, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt wurde. Bei den bundesweit gut 30 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer warteten 2015 der Expertise zufolge rund 8000 Patienten auf eine Behandlung. Nur 1500 davon schafften es auf die offizielle Warteliste. Im Durchschnitt vergehen sieben Monate, bis Patienten ein Erstgespräch führen. Die meisten müssen dafür weite Wege zurücklegen…“ Meldung vom 19.10.2016 in der ÄrzteZeitung online
(„Psychotherapie: Flüchtlinge benachteiligt“) und dazu:
- „Entmenschlichung“: CSU/CDU wollen die Messerattacke in Aschaffenburg für Zwangsmaßnahmen und Datenschutz-Aus für psychisch auffällige, auch minderjährige Personen mißbrauchen
- Nach Aschaffenburg: Minister beraten über Zwangsbehandlung und Datenschutz-Aus
„Nach der Messerattacke in Aschaffenburg sprechen sich Politiker für eine Lockerung von Datenschutz für Ausländer aus – Ärzte sollen Krankenakte an Polizei weitergeben. In Bayern wird über Behandlungen gegen den Willen debattiert – auch bei Minderjährigen.
Nach der tödlichen Messerattacke in Aschaffenburg haben die Innenminister der Länder am Montag mehr rechtliche Möglichkeiten für eine vernetzte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden gefordert. Psychisch auffällige Personen mit einem Risikopotenzial müssten frühzeitig erkannt und die Informationen über sie ausgetauscht werden können, sagte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) nach einer digitalen Sonderkonferenz der Ministerinnen und Minister. An der Sitzung unter dem Vorsitz von Mäurer nahm auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) teil. Faeser nannte den strikteren Umgang mit psychisch kranken Gewalttätern einen wichtigen Beschluss. „Dafür müssen Polizei-, Gesundheits-, Ausländer- und Waffenbehörden mehr Daten austauschen können“, sagte sie. (…) Nicht der Datenschutz dürfe Priorität haben, sondern der Schutz der Bevölkerung, unterstrich der Senator [Mäurer]. (…)
CSU will Umgang mit psychisch Kranken reformieren
Im bayerischen Landtag wurde bereits über konkrete Maßnahmen beraten. Nach Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach sich auch die CDU-Fraktion dafür aus, die Behandlung psychisch kranker Menschen auch gegen deren Willen zu ermöglichen. „Es muss in Zukunft möglich sein, dass Personen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine Fremdgefährdung vorliegen, schneller und unter leichteren Voraussetzungen zu einer fachärztlichen Untersuchung vorgeladen oder notfalls auch gegen ihren Willen einer solchen Untersuchung zugeführt werden können“, sagte der Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek der Deutschen Presse-Agentur in München. Das müsse vor allem für Menschen gelten, die schon Straftaten begangen hätten.
Die SPD im bayerischen Landtag widersprach und warf der CSU Stimmungsmache vor. „In Bayern haben wir nicht zu wenig Zwangsbehandlung, sondern zu wenig psychiatrische Versorgung und lange Wartezeiten auf eine Therapie . Das ist das Problem“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin Ruth Waldmann (…)
Austausch von Krankendaten
Wie Mäurer forderten Holetschek und der gesundheitspolitische Sprecher der CSU-Fraktion, Bernhard Seidenath, außerdem, den Datenaustausch mit Sicherheitsbehörden zu erleichtern: „Bei Personen mit erheblichem Fremdgefährdungspotential, die sich in psychiatrische Behandlung begeben und bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wird, muss es möglich sein, dass Polizei und Sicherheitsbehörden informiert werden.“ Menschen im Alter unter 18 Jahren, die sich in akuter psychiatrischer Not befänden, sollten im Zweifel auch ohne Zustimmung der Eltern in eine Klinik kommen können. (…) Experten warnen, Menschen mit Gesetzen und gegen ihren Willen in Therapiezwang zu setzen…“ Meldung vom 29. Januar 2025 im MiGAZIN - Offener Brief: Psychiater:innen gegen Merz
„Mehr als 30 Psychiater:innen und Wissenschaftler:innen haben sich in einem offenen Brief an CDU-Chef Friedrich Merz gewandt. Sie wehren sich „gegen den politischen Missbrauch“ der Tat von Aschaffenburg. (…) Mit dem Umgang mit psychisch kranken Straftätern hat sich am Montag auch die Innenminister:innenkonferenz beschäftigt. Das Ergebnis: Nicht etwa mehr Unterstützung für Betroffene, sondern mehr Kompetenzen für Nachrichtendienste und Polizei. (…)
Die psychiatrische Hilfe für Geflüchtete in psychischen Notsituationen steht vor zwei Problemen: zu wenige Kapazitäten und zu wenig Geld. Auch die Psychosozialen Zentren, welche die Lücken der Regelversorgung zu schließen versuchen, sind vom Staat nur prekär finanziert. Das Bundesprogramm für die psychosoziale Versorgung Geflüchtete wurde gar gerade um knapp die Hälfte zusammengekürzt…“ Artikel von Marco Fründt vom 31.1.2025 in der taz onlinezum
- Offenen Brief
: „Bitte Nerven bewahren, Herr Merz“: „… Keiner Ihrer aktuellen Vorschläge hätte den schrecklichen Vorfall von Aschaffenburg verhindert. Im Gegenteil können die durchklingende Pauschalisierung und der massive öffentliche Druck die seelische Situation von Migranten nur verschlimmern. Das mögliche Dilemma der Anlaufstellen ist subtiler, die Balance von Hilfs- und Schutzmaßnahmen immer schwierig. Viele Fragen sind offen. Wir wehren uns gegen den politischen Missbrauch dieser komplexen Situation. Warum, Herr Merz, fordern Sie nicht mehr und noch sorgfältigere psychiatrische und psychotherapeutische Diagnostik für alle Menschen in seelischer Not – egal welcher Nationalität? Warum fordern Sie nicht nachhaltige Hilfen für alle, die sich an die Psychiatrie wenden? Warum fordern Sie nicht mehr Resonanz für Menschen in existenzieller seelischer Not – egal, woher sie kommen und wohin sie (bald) gehen. Sie hätten vielleicht nicht die Stimmen der AFD, aber eine große Mehrheit in der deutschen Bevölkerung und vermutlich auch im Bundestag hinter sich…“
- Offenen Brief
- „Entmenschlichung“: Kritik an CSU-Plänen zum Umgang mit psychisch Kranken
„Weil der mutmaßliche Täter von Aschaffenburg wohl psychisch krank ist, hat Ministerpräsident Söder angekündigt, Gesetze schärfen zu wollen. Daran gibt es nun deutliche Kritik.
Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) kritisiert den Vorstoß der CSU zu einer Reform des Umgangs mit psychisch Kranken. „Die aktuellen Forderungen der CSU erinnern in ihrer Grundhaltung bedenklich an vergangene Zeiten, in denen psychisch erkrankte Menschen als ‚Gefahr‘ für die Gesellschaft stigmatisiert wurden. Besonders im Kontext der NS-Zeit zeigt die deutsche Geschichte eindrücklich, wohin derartige Denkweisen führen können“, sagte die kommissarische Vorsitzende des BApK, Heike Petereit-Zipfel, der Deutschen Presse-Agentur. „Zwangsmaßnahmen, die unter dem Deckmantel von ‚Schutz‘ und ‚Sicherheit‘ eingeführt werden, öffnen die Tür zu Entmenschlichung und Diskriminierung. Stattdessen müssen wir uns fragen, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, die Betroffene frühzeitig unterstützt, Krisen deeskaliert und ihnen eine Perspektive gibt“, betonte sie. Schnelle, vermeintlich einfache Lösungen wie härtere Gesetze oder eine Verschärfung von Zwangsmaßnahmen seien „weder angemessen noch wirksam. Sie tragen vielmehr dazu bei, Betroffene und ihre Familien weiter zu stigmatisieren und die Kluft zwischen ihnen und der Gesellschaft zu vergrößern“, sagte Petereit-Zipfel. (…) „Die Ereignisse in Aschaffenburg müssen als Mahnung verstanden werden, endlich die Ressourcen und Mittel in die Hand zu nehmen und so zu lenken, dass eine umfassende und menschenwürdige Versorgung sichergestellt werden kann“, sagte Petereit-Zipfel vom BApK. „Reflexhafte Forderungen nach mehr Härte sind dabei ein Irrweg, der den Fortschritt der letzten Jahrzehnte gefährdet.“…“ Meldung vom 29. Januar 2025 von und bei MiGAZIN, höre auch:
- Psychisch auffällige Flüchtlinge – Integrationsbeauftrage beklagt fehlende Hilfe. Audio des Beitrags von Sonja Meschkat und Claudia Kruse am 24. Januar 2025 im Deutschlandfunk
- Siehe zum aktuellen Hintergrund auch das Dossier: Härtere Regeln für Geflüchtete nach jedem migrantischen kriminellen Einzelfall im Wettbewerb von Innenministerum und Opposition
- Nach Aschaffenburg: Minister beraten über Zwangsbehandlung und Datenschutz-Aus
- Nach Würzburg: Psychiaterin beklagt mangelnde psychologische Hilfe für Asylsuchende
„Posttraumatische Störungen kommen bei Asylsuchenden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zehnmal häufiger vor. Trotzdem erhalten sie selten psychologische Hilfe. Experten warnen im Hinblick auf Würzburg vor mangelnden Angeboten – und warnen vor Pauschalisierungen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sieht einen erheblichen Mangel bei psychologischen Hilfsangeboten für Asylsuchende in Deutschland. Nach wie vor gebe es nur wenige spezialisierte Einrichtungen, sagte die Psychiatrie-Professorin Meryam Schouler-Ocak von der Charité in Berlin dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ mit Blick auf die Messerattacke eines möglicherweise psychisch kranken Somaliers am Freitag in Würzburg. Auch die Integration in die Regelversorgungssysteme sei nur unzureichend erfolgt.
„Oftmals fehlt es an der Bereitschaft der Institutionen, die Betroffenen in die Behandlung und Beratung aufzunehmen“, sagte die Leitende Oberärztin, die das Referat „Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration“ bei der DGPPN leitet. Auch das Asylbewerberleistungsgesetz stelle eine große Hürde für die Betroffenen dar: „Es sieht vielerorts in Deutschland vor, dass in den ersten 18 Monaten der Zugang zum Gesundheitssystem nur in Krisen gewährt wird.“ Dazu komme noch die mögliche Unwissenheit über die psychosozialen Behandlungs- und Hilfsangebote auf Seiten der Betroffenen…“ Meldung vom 30.06.2021 im Migazin - Tausende traumatisierte Flüchtlinge ohne Therapieplatz: Psychosoziale Zentren mussten allein 2017 mehr als 7000 Menschen abweisen / Hohe Dunkelziffer
„In Deutschland bekommen tausende traumatisierte Asylsuchende nach Angaben der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) keinen Therapieplatz. Seit 2013 mussten Beratungsstellen jährlich mehrere tausend Menschen abweisen, wie aus einem Bericht der BAfF hervorgeht, aus dem die Zeitungen der Funke-Mediengruppe zitieren. So seien allein 2017 »mindestens 7212 Geflüchtete« abgewiesen worden, die um Hilfe bei den Psychosozialen Zentren der BAfF baten. Dies sei allerdings nur die Zahl der registrierten Fälle, warnen die Flüchtlingsberater. »Die Dunkelziffer ist hoch, weil nicht alle Anfragen dokumentiert werden.« Viele Flüchtlinge könnten »weder versorgt, noch auf die Warteliste gesetzt werden«. 2016 habe die Anzahl der Abweisungen sogar bei 10.360 Menschen gelegen. Der Dachverband der Behandlungszentren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und politischer Verfolgung gibt in dem Bericht an, dass 2017 insgesamt 21.418 Menschen in deutschlandweit 37 Hilfsstellen betreut wurden. Dies seien doppelt so viele Menschen wie noch fünf Jahre zuvor.“ Meldung von und bei neues Deutschland vom 12. November 2019
- Psychotherapie: Klage über Hürden für Migranten
„Die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) fordert eine rasche Korrektur des Asylbewerber-Leistungsgesetzes. Ziel müsse es sein, seelisch erkrankten Migranten unabhängig von ihren Aufenthaltsstatus einen zeitnahen Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung zu ermöglichen. Ferner müssten notwendige Dolmetscherleistungen finanziert werden. Die Vereinigung schließt sich damit den Forderungen der Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer an. Beklagt wird, dass die im Herbst 2015 geschaffene Möglichkeit, Psychotherapeuten für die Behandlung Asylsuchender auf Kosten der GKV zu ermächtigen, leer laufe. Bis Ende 2016 seien 90 Ermächtigungen erteilt worden. Der Zugang sei aufgrund komplizierter und einschränkender Vorgaben stark erschwert oder gar unmöglich. Ein weiteres Hemmnis seien lange Bearbeitungszeiten von Therapieanträgen…“ Meldung vom 03.05.2017 in der ÄrzteZeitung online - Flüchtlinge: Nur winzige Chance auf Psychotherapie
„Ein Drittel bis die Hälfte der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge gilt als traumatisiert. Doch vor einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung stehen kaum überwindbare Barrieren, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt.
Durch politische Verfolgung, Krieg und Umstände auf der Flucht traumatisierte Asylbewerber haben fast keine Chance, eine adäquate psychotherapeutische Behandlung zu erhalten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Als Ursachen werden genannt: ein Leistungsrecht, das nur Akutbehandlungen vorsieht, viel zu kleine Behandlungskapazitäten, unüberwindbare Sprachbarrieren und prekäre Finanzierungsstrukturen.
Prävalenz von bis zu 50 Prozent
Nach internationalen Studien und laut Leitlinie der deutschen Fachgesellschaft für Psychotraumatologie liege die Prävalenz von Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern zwischen über 30 und bis zu 50 Prozent. Der GKV-Spitzenverband stellt diese hohen Prävalenzen in Frage und sieht die Übertragung westlicher Studien auf andere Kulturkreise kritisch. Faktisch, so eines der zentralen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie, bleibe aber der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen den meisten Asylbewerbern in den ersten 15 Monaten verwehrt. Dies resultiert aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, wonach nur Anspruch auf Akutbehandlung, nicht jedoch auf Langzeittherapie besteht. (…)
Die Psychosozialen Zentren erhalten für ihre Leistungen keine strukturelle Finanzierung. Die Refinanzierung von Psychotherapien durch Sozialbehörden, Krankenkassen und Jugendämtern liegt gerade bei drei Prozent. Landesmittel machen etwa 14 Prozent aus, Kommunen steuern elf Prozent zu. Ein Teil der Leistungen wird durch Spenden finanziert, 25 Prozent der Leistungen werden ehrenamtlich erbracht. Drei Millionen Euro spendiert das Bundesfamilienministerium. (…) Da fremdsprachige Psychotherapeuten mit Kassenzulassung rar sind, müsse parallel zum Antrag auf Psychotherapie auch die Übernahmen von Dolmetscherkosten geklärt werden. Das ist bis heute ausgeschlossen. Generell ist die Sprachbarriere ein Hemmnis – in der Psychotherapie aber besonders bedeutend.“ Artikel von Helmut Laschet vom 31.10.2016 in der ÄrzteZeitung online
Siehe auch:
- Kampagne „Gesundheit für alle! Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!“
- Das Dossier zum Thema Gesundheit
bei der Kampagne für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Dossier: Erhöhung der Asylbewerberleistungen: Die Regierung steht in der Pflicht [Denkste! Bezahlkarte!]
- und unser Dossier: Medizinische Minderversorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beenden – aber so war das nicht gemeint!
- „Internationaler Tag zur Unterstützung der Folteropfer“ am 26. Juni: Besonders Schutzbedürftige identifizieren und versorgen! und
- Abschiebepraxis in der BRD: Gewalt auf allen Ebenen. Psychotherapeuten beklagen Umgang mit traumatisierten Geflüchteten