Psychotherapie für (sehr oft) traumatisierte Flüchtlinge scheitert nicht nur am Asylbewerberleistungsgesetz
Dossier
„Die psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten
und Asylbewerbern ist in Deutschland unzureichend. Dem hohen Anteil traumatisierter Menschen können die wenigen Einrichtungen kaum gerecht werden. Zu dieser Schlussfolgerung kommt eine Expertise, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt wurde. Bei den bundesweit gut 30 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer warteten 2015 der Expertise zufolge rund 8000 Patienten auf eine Behandlung. Nur 1500 davon schafften es auf die offizielle Warteliste. Im Durchschnitt vergehen sieben Monate, bis Patienten ein Erstgespräch führen. Die meisten müssen dafür weite Wege zurücklegen…“ Meldung vom 19.10.2016 in der ÄrzteZeitung online
(„Psychotherapie: Flüchtlinge benachteiligt“) und dazu:
- Psychische Erkrankungen bei Geflüchteten: »Wir brauchen Lösungen statt Stigmatisierungen«
„In den vergangenen Monaten erschütterten Attentate die Bundesrepublik. In einigen Fällen, wie in Aschaffenburg, hat der Täter eine psychische Erkrankung.“ Was im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten falsch läuft und worauf es bei ihrer psychosozialen Versorgung ankommt, erklärt Lukas Welz, Experte für psychische Erkrankungen bei Geflüchteten, im Interview von Pro Asyl vom 26. Februar 2025: „Laut internationaler Studienlage benötigen mindestens dreißig Prozent der Menschen mit Fluchterfahrung potenziell psychotherapeutische Hilfe. Doch in Deutschland wird lediglich ein Bruchteil dieser Menschen angemessen versorgt. Aktuell erhalten nur drei Prozent aller geflüchteten Menschen mit psychologischem Behandlungsbedarf aufgrund traumatisierender Erfahrungen wie Folter, Krieg und Flucht die entsprechende Versorgung. Doch das steht nicht im Fokus. Die politische Debatte nach Anschlägen wie in Aschaffenburg und München dreht sich nicht darum, die tatsächlichen Probleme zu lösen. Stattdessen suggerieren viele Politiker*innen: »Weniger Geflüchtete heißt weniger Probleme.« Außerdem erleben wir nun verstärkt das Narrativ, dass Geflüchtete mit psychosozialem Behandlungsbedarf ein »Sicherheitsrisiko« darstellen. So hat es kürzlich Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei Markus Lanz dargestellt. Und der hat das als »politischen Sprengstoff« bezeichnet. Es ist eine brandgefährliche Debatte, wenn wir so über Menschen sprechen, die unsere Hilfe benötigen. (…) Gewalt aufgrund einer psychischen Erkrankung richtet sich in erster Linie gegen sich selbst und nur zu einem verschwindend geringen Teil gegen Andere. Die Annahme, dass psychisch erkrankte Menschen besonders gewalttätig seien, beruht oft auf verzerrten Statistiken und Interpretationen der Polizeilichen Kriminalstatistik: Erfasst sind dort Fälle, in denen eine psychische Erkrankung bereits mit einer Straftat verknüpft ist. Das ist nicht repräsentativ für die Beurteilung aller Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Psychisch Erkrankte sind häufiger Opfer als Täter*innen. Wissenschaftliche Analysen zeigen: Pauschale Stigmatisierungen entbehren jeder Grundlage. (…) [Jeder] investierte Euro, der in die psychosoziale Versorgung investiert wird, reduziert massiv Folgekosten. Das hat eine Studie der Uni Bielefeld ergeben. Die psychosoziale Versorgung Schutzsuchender ist also nicht nur gesellschaftlich wichtig, sondern auch ökonomisch rational: Sie entlastet perspektivisch alle anderen Sozialsysteme, etwa die Kranken- und Rentenversicherungssysteme. Es ist teurer für den Sozialstaat, erkrankte Geflüchtete verspätet zu behandeln, als sie sofort medizinisch angemessen zu versorgen. (…) Formulierungen und Forderungen, die psychisch kranke Geflüchtete stigmatisieren und noch dazu das gefährliche Potenzial haben, dass man sich dieser Menschen künftig einfach entledigen will, bringen uns nicht weiter. Eine verantwortungsvolle politische Debatte wäre eine, die tatsächlich nach Lösungen sucht. Zum Beispiel sollte der Zugang zur Gesundheitsversorgung inklusive psychosozialer Unterstützung von Tag eins an auch im Asylbewerber-leistungsgesetz verankert sein. Wir thematisieren das seit 25 Jahren, aber es gibt eine politische Verweigerungshaltung, sich damit auseinanderzusetzen. Ich wünsche mir sachorientierte Debatten, in der wir und andere Expert*innen einbezogen werden. Wir schicken unseren Versorgungsbericht jedes Jahr an Parlamentarier*innen, fühlen uns aber ein bisschen wie ein einsamer Rufer in der Wüste.“
- Lehre aus Aschaffenburg: 153 Cent für die psychologische Betreuung von Geflüchteten
„Die Bundesregierung will in die psychologische Begleitung von Schutzsuchenden investieren. Nach Aschaffenburg wurde das Thema verstärkt diskutiert. Nach dem neuen Budget entfällt auf jeden Schutzsuchenden 1,53 Euro.
Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums sind für dieses Jahr 4,9 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt für die psychosoziale Betreuung geflüchteter Menschen gesichert. Bundesfinanzminister Jörg Kukies habe dem angemeldeten Bedarf zugestimmt, hieß es aus dem Ministerium von Lisa Paus (Grüne). Damit seien drohende Einschnitte im „Bundesprogramm für die Beratung und Betreuung ausländischer Flüchtlinge“ verhindert worden. Die Mittel blieben damit ungefähr auf dem Niveau des Vorjahres, hieß es. Ministerin Paus lobte die Förderzusage in Höhe von 4,9 Millionen Euro als Erfolg, verwies aber auch darauf, dass die „tatsächlichen Bedarfe“ größer seien. „Die Herausforderungen, die in der Flüchtlingshilfe bestehen, sind enorm: Sie reichen von rechtlichen und kulturellen Hürden bis hin zu schweren traumatischen Erfahrungen“, sagte sie der dpa…“ Meldung vom 23.02.2025 im Migazin - [Migrationspädagogische Stellungnahme zum Mitzeichnen] Wie das Reden über Migration das Schweigen über soziale Herausforderungen organisiert
„Wie viele andere Menschen sind wir erschrocken und besorgt angesichts der eskalierenden Debatte um Migration im aktuellen Bundestagswahlkampf. Wie viele andere Menschen sind wir erschrocken und besorgt, wie durch eine zunehmende Angleichung der Politik an die AfD-Programmatik kaum mehr eine Partei die Migrationsgesellschaft sowie die Grund- und Menschenrechte offensiv verteidigt. Wie viele andere Menschen solidarisieren wir uns mit all den Menschen, die aufgrund der verallgemeinernden Stereotypisierungen und Hetze in den letzten Wochen von rassistischen Übergriffen betroffen sind. (…) Wir beobachten mit großer Sorge, wie immer mehr das Reden über Migration das Schweigen über tatsächliche soziale und gesellschaftliche Herausforderungen ‚organisiert‘. Die Reaktionen in Politik und Medien nach der tödlichen Amokfahrt in Magdeburg sowie dem tödlichen Angriff auf eine Kindergruppe in Aschaffenburg sehen wir als Blaupause eines Narrativs, das seit vielen Jahren tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Ein Narrativ, das ermöglicht, jedes Problem in der Gesellschaft als Folge von Migration zu beschreiben, ohne dass dafür ein sachlicher Zusammenhang aufgezeigt werden muss. Rassistisch pauschalierende Bilder können jederzeit aktiviert werden. Dies führt dazu, dass weitere Fragen, die meist wesentlich relevanter sind, nicht mehr gestellt oder ausgeklammert werden. All dies hat weitreichende Konsequenzen und muss uns auch in unseren professionellen Zusammenhängen systematisch beschäftigen, denn:
1. Ganz unmittelbar von den aktuellen Diskursen und den angestrebten Gesetzesverschärfungen betroffen sind die als ‚Sündenböcke‘ konstruierten Anderen, die im Alltag eine zunehmende Normalisierung von rassistischen Zuschreibungen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen erfahren.
2. Die so geframten gewaltvollen Handlungen werden von den Akteur_innen politischer Parteien instrumentalisiert; dies führt dazu, dass eine immer weitgehendere Entrechtung von Geflüchteten und migrantisierten Menschen öffentlich gefordert wird.
3. Durch die Verschiebung des Diskurses wird der zunehmende Abbau von psycho-sozialen, beratenden und unterstützenden Angeboten in der Flüchtlingssozialarbeit, sowie in vielen anderen Feldern sozialer und pädagogischer Arbeit, ermöglicht.
4. Aber auch wir selbst, die professionellen Akteur_innen in den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, Bildung und Beratung, sind von diesen Diskursen beeinflusst und nicht davor gefeit, in konkreten Einzelfällen aufgrund einer zu schnellen, nahegelegten Antwort nicht mehr nach allen relevanten Hintergründen zu fragen.
5. Nicht zuletzt ermöglicht dieses Narrativ – wie wir in den letzten Tagen erleben durften – eine Verschiebung des politisch Möglichen und eine schleichende Aushöhlung der Bedeutung von Grund- und Menschenrechten. (…) Um dem vorherrschenden Narrativ die Macht zu nehmen, müssen wir gemeinsam auch an anderen Narrativen arbeiten. (…) Wir wollen mit dieser Stellungnahme dazu beitragen, die Debatte auf eine fachlich-professionelle Grundlage zu stellen und damit auch angemessene politische Entscheidungen zu befördern.“ Stellungnahme vom Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik vom Februar 2025mit der Möglichkeit sich durch Mitunterzeichnung anzuschließen (wir haben)
- Jahrelang in Auffanglagern oder Asylbewerberheimen zu leben sei „definitiv nicht gut für die psychische Gesundheit“
„Der tödliche Messerangriff in Aschaffenburg hat eine Migrationsdebatte ausgelöst. Gesundheitsverbände rufen zu Zurückhaltung auf. Psychiatrieprofessor Bönsch sieht das Hauptproblem woanders. (…) Die Verbände sähen es „mit großer Sorge“, dass derzeit nichtdeutsches Fachpersonal im Gesundheitswesen zutiefst verunsichert werde durch Schlagworte wie Remigration und Massenabschiebungen. Einige der Beschäftigten würden bereits darüber nachdenken, anderswo in Europa zu arbeiten. Rund 15 Prozent der Ärzte und Pflegefachpersonen in Deutschland hätten eine ausländische Staatsbürgerschaft, hieß es. (…) Der Leiter des psychiatrischen Bezirkskrankenhauses in Aschaffenburg, Dominikus Bönsch, sieht in der Gewalttat einen Hauptrisikofaktor: „schizophrene Erkrankung in Kombination mit Alkohol- und Drogenkonsum und männlichem Geschlecht“, sagte der Professor der „Main-Post“. Migration sei ein zusätzlicher Risikofaktor, weil sie für psychiatrische Erkrankungen prädestiniere. Jahrelang in Auffanglagern oder Asylbewerberheimen zu leben sei „definitiv nicht gut für die psychische Gesundheit“, so Bönsch. „Es hätten in Aschaffenburg und Würzburg aber genauso gut deutsche Patienten sein können. Diese Gefahr geht nicht per se von Menschen mit Migrationshintergrund aus“, sagte Bönsch. Der Mediziner kritisiert die derzeitigen rechtlichen Möglichkeiten zur psychiatrischen Unterbringung. Die Schwelle, jemanden in die Psychiatrie zu bringen, sei in Bayern extrem niedrig. Aber die Schwelle, die Betroffenen weiterzubehandeln, unter anderem auch gegen ihren Willen, sei wahnsinnig hoch. Zudem fehle es an Präventionsangeboten. „Wir bräuchten einen Ausbau der sozialpsychiatrischen Dienste, wir bräuchten aufsuchende Hilfen und gerade im Bereich Alkohol und Drogen mehr niederschwellige Angebote, die die Patienten langfristig begleiten“, so Bönsch…“ Meldung vom 10. Februar 2025 von und bei MiGAZIN(„Leben im Flüchtlingsheim ist „nicht gut für die Gesundheit““)
- In der Debatte über Migration und Flucht werden deren Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland missachtet
„Die Zahl der Geflüchteten erreichte laut des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 2023 weltweit einen neuen Höchststand: 117,3 Millionen Menschen, darunter 47 Millionen Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre sind, mussten aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Land verlassen. Mehr als ein Drittel der 2022 nach Deutschland geflüchteten Menschen waren Kinder. Fast 500.000 geflüchtete Kinder aus Ländern wie der Ukraine, Syrien oder Palästina besuchen derzeit deutsche Schulen. Ihre Fluchterlebnisse sind ständiger und nicht bearbeiteter Begleiter ihres Alltags. Nach ihrer Ankunft in Deutschland sind geflüchtete Kinder und Jugendliche oft prekären Bedingungen in Sammelunterkünften ausgesetzt. So fehlt es ihnen laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) dort an Privatsphäre, kindgerechten Räumen und adäquater Hygiene. Die Kinder und Jugendlichen sind oft Gewalt ausgesetzt und haben nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialen Kontakten außerhalb der Unterkünfte. (…)
Einen rechtlichen Rahmen und Richtlinien für den Schutz geflüchteter Kinder in Aufnahmeländern soll die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) von 1992 bieten. Artikel 22 verpflichtet Staaten, den Kindern spezifischen Schutz und Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und einem sicheren, gewaltfreien Umfeld zu bieten – unabhängig von ihrem rechtlichen Status. In der Praxis scheitert die Umsetzung dieser Rechte jedoch häufig, wie die Situation geflüchteter Kinder in Deutschland und anderen Ländern zeigt. (…)
Darüber hinaus verpflichtet Artikel 24 die Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass jedes Kind Zugang zu medizinischer Versorgung und Gesundheitsdienstleistungen hat. Er garantiert das Recht auf Gesundheit. Dies umfasst auch psychosoziale Unterstützung, denn die Flucht birgt besondere Risiken für die psychische Gesundheit. Eine Studie unter syrischen Geflüchteten in Istanbul zeigt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen von Angststörungen, Depressionen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betroffen sind. In Deutschland gibt es jedoch kaum systematische Diagnosen psychischer Störungen Geflüchteter. Bei der Registrierung in einer deutschen Erstaufnahmestelle gibt es nur eine ärztliche Untersuchung nach infektiösen körperlichen Krankheiten. Das widerspricht den Anforderungen in Artikel 24 der UN-KRK. (…)
Staaten dürfen die UN-KRK nicht nur ratifizieren, sondern müssen auch gezielt lokale Maßnahmen ergreifen, etwa für eine bessere Gesundheitsversorgung und mehr Schutz, die Überwindung bürokratischer Hürden und eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die besonderen Bedürfnisse geflüchteter Kinder. Nur so kann gewährleistet werden, dass die UN-KRK nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis wirkt. Ein gesamtgesellschaftliches Engagement ist erforderlich, um den Zugang zu psychischen Interventionen wie traumafokussierter Psychotherapie sicherzustellen.“ Beitrag von Sabrina Seikh, David Phan und Hadi Merhi vom 5. Februar 2025 bei der GEW(„Kinder zwischen Flucht und mentaler Gesundheit“)
- „Entmenschlichung“: CSU/CDU wollen die Messerattacke in Aschaffenburg für Zwangsmaßnahmen und Datenschutz-Aus für psychisch auffällige, auch minderjährige Personen mißbrauchen
- Nach Aschaffenburg: Minister beraten über Zwangsbehandlung und Datenschutz-Aus
„Nach der Messerattacke in Aschaffenburg sprechen sich Politiker für eine Lockerung von Datenschutz für Ausländer aus – Ärzte sollen Krankenakte an Polizei weitergeben. In Bayern wird über Behandlungen gegen den Willen debattiert – auch bei Minderjährigen.
Nach der tödlichen Messerattacke in Aschaffenburg haben die Innenminister der Länder am Montag mehr rechtliche Möglichkeiten für eine vernetzte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden gefordert. Psychisch auffällige Personen mit einem Risikopotenzial müssten frühzeitig erkannt und die Informationen über sie ausgetauscht werden können, sagte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) nach einer digitalen Sonderkonferenz der Ministerinnen und Minister. An der Sitzung unter dem Vorsitz von Mäurer nahm auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) teil. Faeser nannte den strikteren Umgang mit psychisch kranken Gewalttätern einen wichtigen Beschluss. „Dafür müssen Polizei-, Gesundheits-, Ausländer- und Waffenbehörden mehr Daten austauschen können“, sagte sie. (…) Nicht der Datenschutz dürfe Priorität haben, sondern der Schutz der Bevölkerung, unterstrich der Senator [Mäurer]. (…)
CSU will Umgang mit psychisch Kranken reformieren
Im bayerischen Landtag wurde bereits über konkrete Maßnahmen beraten. Nach Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach sich auch die CDU-Fraktion dafür aus, die Behandlung psychisch kranker Menschen auch gegen deren Willen zu ermöglichen. „Es muss in Zukunft möglich sein, dass Personen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine Fremdgefährdung vorliegen, schneller und unter leichteren Voraussetzungen zu einer fachärztlichen Untersuchung vorgeladen oder notfalls auch gegen ihren Willen einer solchen Untersuchung zugeführt werden können“, sagte der Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek der Deutschen Presse-Agentur in München. Das müsse vor allem für Menschen gelten, die schon Straftaten begangen hätten.
Die SPD im bayerischen Landtag widersprach und warf der CSU Stimmungsmache vor. „In Bayern haben wir nicht zu wenig Zwangsbehandlung, sondern zu wenig psychiatrische Versorgung und lange Wartezeiten auf eine Therapie . Das ist das Problem“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin Ruth Waldmann (…)
Austausch von Krankendaten
Wie Mäurer forderten Holetschek und der gesundheitspolitische Sprecher der CSU-Fraktion, Bernhard Seidenath, außerdem, den Datenaustausch mit Sicherheitsbehörden zu erleichtern: „Bei Personen mit erheblichem Fremdgefährdungspotential, die sich in psychiatrische Behandlung begeben und bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wird, muss es möglich sein, dass Polizei und Sicherheitsbehörden informiert werden.“ Menschen im Alter unter 18 Jahren, die sich in akuter psychiatrischer Not befänden, sollten im Zweifel auch ohne Zustimmung der Eltern in eine Klinik kommen können. (…) Experten warnen, Menschen mit Gesetzen und gegen ihren Willen in Therapiezwang zu setzen…“ Meldung vom 29. Januar 2025 im MiGAZIN - Offener Brief: Psychiater:innen gegen Merz
„Mehr als 30 Psychiater:innen und Wissenschaftler:innen haben sich in einem offenen Brief an CDU-Chef Friedrich Merz gewandt. Sie wehren sich „gegen den politischen Missbrauch“ der Tat von Aschaffenburg. (…) Mit dem Umgang mit psychisch kranken Straftätern hat sich am Montag auch die Innenminister:innenkonferenz beschäftigt. Das Ergebnis: Nicht etwa mehr Unterstützung für Betroffene, sondern mehr Kompetenzen für Nachrichtendienste und Polizei. (…)
Die psychiatrische Hilfe für Geflüchtete in psychischen Notsituationen steht vor zwei Problemen: zu wenige Kapazitäten und zu wenig Geld. Auch die Psychosozialen Zentren, welche die Lücken der Regelversorgung zu schließen versuchen, sind vom Staat nur prekär finanziert. Das Bundesprogramm für die psychosoziale Versorgung Geflüchtete wurde gar gerade um knapp die Hälfte zusammengekürzt…“ Artikel von Marco Fründt vom 31.1.2025 in der taz onlinezum
- Offenen Brief
: „Bitte Nerven bewahren, Herr Merz“: „… Keiner Ihrer aktuellen Vorschläge hätte den schrecklichen Vorfall von Aschaffenburg verhindert. Im Gegenteil können die durchklingende Pauschalisierung und der massive öffentliche Druck die seelische Situation von Migranten nur verschlimmern. Das mögliche Dilemma der Anlaufstellen ist subtiler, die Balance von Hilfs- und Schutzmaßnahmen immer schwierig. Viele Fragen sind offen. Wir wehren uns gegen den politischen Missbrauch dieser komplexen Situation. Warum, Herr Merz, fordern Sie nicht mehr und noch sorgfältigere psychiatrische und psychotherapeutische Diagnostik für alle Menschen in seelischer Not – egal welcher Nationalität? Warum fordern Sie nicht nachhaltige Hilfen für alle, die sich an die Psychiatrie wenden? Warum fordern Sie nicht mehr Resonanz für Menschen in existenzieller seelischer Not – egal, woher sie kommen und wohin sie (bald) gehen. Sie hätten vielleicht nicht die Stimmen der AFD, aber eine große Mehrheit in der deutschen Bevölkerung und vermutlich auch im Bundestag hinter sich…“
- Offenen Brief
- „Entmenschlichung“: Kritik an CSU-Plänen zum Umgang mit psychisch Kranken
„Weil der mutmaßliche Täter von Aschaffenburg wohl psychisch krank ist, hat Ministerpräsident Söder angekündigt, Gesetze schärfen zu wollen. Daran gibt es nun deutliche Kritik.
Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) kritisiert den Vorstoß der CSU zu einer Reform des Umgangs mit psychisch Kranken. „Die aktuellen Forderungen der CSU erinnern in ihrer Grundhaltung bedenklich an vergangene Zeiten, in denen psychisch erkrankte Menschen als ‚Gefahr‘ für die Gesellschaft stigmatisiert wurden. Besonders im Kontext der NS-Zeit zeigt die deutsche Geschichte eindrücklich, wohin derartige Denkweisen führen können“, sagte die kommissarische Vorsitzende des BApK, Heike Petereit-Zipfel, der Deutschen Presse-Agentur. „Zwangsmaßnahmen, die unter dem Deckmantel von ‚Schutz‘ und ‚Sicherheit‘ eingeführt werden, öffnen die Tür zu Entmenschlichung und Diskriminierung. Stattdessen müssen wir uns fragen, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, die Betroffene frühzeitig unterstützt, Krisen deeskaliert und ihnen eine Perspektive gibt“, betonte sie. Schnelle, vermeintlich einfache Lösungen wie härtere Gesetze oder eine Verschärfung von Zwangsmaßnahmen seien „weder angemessen noch wirksam. Sie tragen vielmehr dazu bei, Betroffene und ihre Familien weiter zu stigmatisieren und die Kluft zwischen ihnen und der Gesellschaft zu vergrößern“, sagte Petereit-Zipfel. (…) „Die Ereignisse in Aschaffenburg müssen als Mahnung verstanden werden, endlich die Ressourcen und Mittel in die Hand zu nehmen und so zu lenken, dass eine umfassende und menschenwürdige Versorgung sichergestellt werden kann“, sagte Petereit-Zipfel vom BApK. „Reflexhafte Forderungen nach mehr Härte sind dabei ein Irrweg, der den Fortschritt der letzten Jahrzehnte gefährdet.“…“ Meldung vom 29. Januar 2025 von und bei MiGAZIN, höre auch:
- Psychisch auffällige Flüchtlinge – Integrationsbeauftrage beklagt fehlende Hilfe. Audio des Beitrags von Sonja Meschkat und Claudia Kruse am 24. Januar 2025 im Deutschlandfunk
- Siehe zum aktuellen Hintergrund auch das Dossier: Härtere Regeln für Geflüchtete nach jedem migrantischen kriminellen Einzelfall im Wettbewerb von Innenministerum und Opposition
- Nach Aschaffenburg: Minister beraten über Zwangsbehandlung und Datenschutz-Aus
- Nach Würzburg: Psychiaterin beklagt mangelnde psychologische Hilfe für Asylsuchende
„Posttraumatische Störungen kommen bei Asylsuchenden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zehnmal häufiger vor. Trotzdem erhalten sie selten psychologische Hilfe. Experten warnen im Hinblick auf Würzburg vor mangelnden Angeboten – und warnen vor Pauschalisierungen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sieht einen erheblichen Mangel bei psychologischen Hilfsangeboten für Asylsuchende in Deutschland. Nach wie vor gebe es nur wenige spezialisierte Einrichtungen, sagte die Psychiatrie-Professorin Meryam Schouler-Ocak von der Charité in Berlin dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ mit Blick auf die Messerattacke eines möglicherweise psychisch kranken Somaliers am Freitag in Würzburg. Auch die Integration in die Regelversorgungssysteme sei nur unzureichend erfolgt.
„Oftmals fehlt es an der Bereitschaft der Institutionen, die Betroffenen in die Behandlung und Beratung aufzunehmen“, sagte die Leitende Oberärztin, die das Referat „Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration“ bei der DGPPN leitet. Auch das Asylbewerberleistungsgesetz stelle eine große Hürde für die Betroffenen dar: „Es sieht vielerorts in Deutschland vor, dass in den ersten 18 Monaten der Zugang zum Gesundheitssystem nur in Krisen gewährt wird.“ Dazu komme noch die mögliche Unwissenheit über die psychosozialen Behandlungs- und Hilfsangebote auf Seiten der Betroffenen…“ Meldung vom 30.06.2021 im Migazin - Tausende traumatisierte Flüchtlinge ohne Therapieplatz: Psychosoziale Zentren mussten allein 2017 mehr als 7000 Menschen abweisen / Hohe Dunkelziffer
„In Deutschland bekommen tausende traumatisierte Asylsuchende nach Angaben der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) keinen Therapieplatz. Seit 2013 mussten Beratungsstellen jährlich mehrere tausend Menschen abweisen, wie aus einem Bericht der BAfF hervorgeht, aus dem die Zeitungen der Funke-Mediengruppe zitieren. So seien allein 2017 »mindestens 7212 Geflüchtete« abgewiesen worden, die um Hilfe bei den Psychosozialen Zentren der BAfF baten. Dies sei allerdings nur die Zahl der registrierten Fälle, warnen die Flüchtlingsberater. »Die Dunkelziffer ist hoch, weil nicht alle Anfragen dokumentiert werden.« Viele Flüchtlinge könnten »weder versorgt, noch auf die Warteliste gesetzt werden«. 2016 habe die Anzahl der Abweisungen sogar bei 10.360 Menschen gelegen. Der Dachverband der Behandlungszentren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und politischer Verfolgung gibt in dem Bericht an, dass 2017 insgesamt 21.418 Menschen in deutschlandweit 37 Hilfsstellen betreut wurden. Dies seien doppelt so viele Menschen wie noch fünf Jahre zuvor.“ Meldung von und bei neues Deutschland vom 12. November 2019
- Psychotherapie: Klage über Hürden für Migranten
„Die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) fordert eine rasche Korrektur des Asylbewerber-Leistungsgesetzes. Ziel müsse es sein, seelisch erkrankten Migranten unabhängig von ihren Aufenthaltsstatus einen zeitnahen Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung zu ermöglichen. Ferner müssten notwendige Dolmetscherleistungen finanziert werden. Die Vereinigung schließt sich damit den Forderungen der Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer an. Beklagt wird, dass die im Herbst 2015 geschaffene Möglichkeit, Psychotherapeuten für die Behandlung Asylsuchender auf Kosten der GKV zu ermächtigen, leer laufe. Bis Ende 2016 seien 90 Ermächtigungen erteilt worden. Der Zugang sei aufgrund komplizierter und einschränkender Vorgaben stark erschwert oder gar unmöglich. Ein weiteres Hemmnis seien lange Bearbeitungszeiten von Therapieanträgen…“ Meldung vom 03.05.2017 in der ÄrzteZeitung online - Flüchtlinge: Nur winzige Chance auf Psychotherapie
„Ein Drittel bis die Hälfte der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge gilt als traumatisiert. Doch vor einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung stehen kaum überwindbare Barrieren, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt.
Durch politische Verfolgung, Krieg und Umstände auf der Flucht traumatisierte Asylbewerber haben fast keine Chance, eine adäquate psychotherapeutische Behandlung zu erhalten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Als Ursachen werden genannt: ein Leistungsrecht, das nur Akutbehandlungen vorsieht, viel zu kleine Behandlungskapazitäten, unüberwindbare Sprachbarrieren und prekäre Finanzierungsstrukturen.
Prävalenz von bis zu 50 Prozent
Nach internationalen Studien und laut Leitlinie der deutschen Fachgesellschaft für Psychotraumatologie liege die Prävalenz von Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern zwischen über 30 und bis zu 50 Prozent. Der GKV-Spitzenverband stellt diese hohen Prävalenzen in Frage und sieht die Übertragung westlicher Studien auf andere Kulturkreise kritisch. Faktisch, so eines der zentralen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie, bleibe aber der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen den meisten Asylbewerbern in den ersten 15 Monaten verwehrt. Dies resultiert aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, wonach nur Anspruch auf Akutbehandlung, nicht jedoch auf Langzeittherapie besteht. (…)
Die Psychosozialen Zentren erhalten für ihre Leistungen keine strukturelle Finanzierung. Die Refinanzierung von Psychotherapien durch Sozialbehörden, Krankenkassen und Jugendämtern liegt gerade bei drei Prozent. Landesmittel machen etwa 14 Prozent aus, Kommunen steuern elf Prozent zu. Ein Teil der Leistungen wird durch Spenden finanziert, 25 Prozent der Leistungen werden ehrenamtlich erbracht. Drei Millionen Euro spendiert das Bundesfamilienministerium. (…) Da fremdsprachige Psychotherapeuten mit Kassenzulassung rar sind, müsse parallel zum Antrag auf Psychotherapie auch die Übernahmen von Dolmetscherkosten geklärt werden. Das ist bis heute ausgeschlossen. Generell ist die Sprachbarriere ein Hemmnis – in der Psychotherapie aber besonders bedeutend.“ Artikel von Helmut Laschet vom 31.10.2016 in der ÄrzteZeitung online
Siehe auch:
- Kampagne „Gesundheit für alle! Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!“
- Das Dossier zum Thema Gesundheit
bei der Kampagne für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Dossier: Erhöhung der Asylbewerberleistungen: Die Regierung steht in der Pflicht [Denkste! Bezahlkarte!]
- und unser Dossier: Medizinische Minderversorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beenden – aber so war das nicht gemeint!
- „Internationaler Tag zur Unterstützung der Folteropfer“ am 26. Juni: Besonders Schutzbedürftige identifizieren und versorgen! und
- Abschiebepraxis in der BRD: Gewalt auf allen Ebenen. Psychotherapeuten beklagen Umgang mit traumatisierten Geflüchteten