Entfremdete Hilfe. Biographien Langzeitarbeitsloser zwischen entgrenzter Lebensbewältigung und professioneller Beschäftigungsförderung
Dissertation von Dirk Kratz aus dem Jahr 2013 an der Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Pädagogik
(592 S., 17,6 MB)
- Kurzfassung: „Trotz vielfacher politischer Bemühungen erweist sich die Gruppe der sog. Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland als verfestigte Größe, die weitgehend alle Integrationsbemühungen in den Arbeitsmarkt zu ignorieren scheint. Umso intensiver wird auf der Seite der Vermittlungsbehörden nach „passgenauen“ Hilfen gesucht, welche sich einerseits an die sozialstaatliche Individualisierungslogik anpassen und andererseits eine Bedarfsfeststellung über immer detaillierte, ökonomisierte Verfahrensabläufe vornehmen. Soziale Arbeit wird im Handlungsfeld der Arbeitsvermittlung zunehmend als Profession adressiert, um etwa sog. „Vermittlungshemmnisse“ abzubauen und somit die jeweilige „Beschäftigungsfähigkeit“ zu erhöhen. Sie steht dabei im Konflikt zwischen den heterogenen Bedürfnissen der KlientInnen als häufig fremdbestimmte Akteure im Vermittlungsregime und den Anweisungen und Logiken der Arbeitsvermittlung und Sozialpolitik, die gebündelt im Begriff „Aktivierung“ auftauchen. Die vorliegende Arbeit untersucht mithilfe narrativ-biographischer Interviews, innerhalb welcher Prozesslinien Langzeitarbeitslose ihre Lebenslage rekonstruieren und klärt dabei u.a. die Frage, in welcher Weise soziale Hilfe aus Sicht der AdressatInnen gestaltet werden kann.
Dabei wird deutlich, dass jene komplexe Lebenslage Erfahrungen des Verlusts berufsbiographischer Handlungsfähigkeit verdichtet, die sich biographisch als „Entfremdung“ niederschlagen. Anhand des Verlaufskurvenkonzeptes wird nachgezeichnet, wie sich Potentiale des Erleidens über Transformationsbewegungen verstetigen, die maßgeblich über das Handeln der Arbeitsvermittlung gesteuert werden: Arbeitslosigkeit in ihrer biographisch-verfestigten Form wird demnach durch die sozialstaatlichen Vermittlungsbemühungen nicht bearbeitet, sondern – im Gegenteil – erst generiert. Subjektive Verarbeitungsmodi und Formen sozialer Unterstützung lassen sich zwar auf sozialräumlicher Ebene als Aufbau „kreativer Inseln“ sowie in Organisationsformen der Selbsthilfe und Vernetzung erkennen, jedoch sind diese Hilfe- und Bewältigungskulturen nur selten mit den Deutungsmustern des Vermittlungsregimes vereinbar. So bilden sich immer wieder Konfliktfelder in einer asymmetrischen Interaktionsgestaltung, die zum einen die Aushandlung adressatInnenzentrierter Hilfepläne behindern und zum anderen die jeweilige „Beschäftigungsfähigkeit“ immer wieder neu vermessen: Einschränkungen in den sog. beruflichen Sekundärkompetenzen bis hin zu Krankheitsformen schmälern als Akzeptanzdefizite immer weiter die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt, so dass eine Vermittlung in biographisch-passende Formen von Erwerbsarbeit immer unwahrscheinlicher wird. Mithilfe kritischer Hinsichten auf das „arbeitsnehmerInnenorientiere Integrationskonzept“ der Bundesagentur für Arbeit werden lang- wie auch kurzfristige Reformvorschläge für die Architektur einer Arbeitsvermittlung präsentiert, die die selbstbestimmte Einbindung Sozialer Arbeit zulässt. Neue Handlungsansätze werden u.a. als Konzept der „akzeptanzorientierten Hilfe bei Arbeitslosigkeit“ diskutiert.“
- Langzeitarbeitslose: „Die Jobcenter richten großen Schaden an“
Dirk Kratz hat untersucht, was Langzeitarbeitslosen wirklich hilft. Er sagt: Die Betreuung läuft grundlegend falsch. Arbeitslose werden behandelt wie kleine Schulkinder. Ein Interview von Alexandra Endres vom 24. Februar 2014 in der Zeit online
Aus dem Text: „… So wie die Hilfe derzeit angelegt ist, richten die Jobcenter großen Schaden an. Sie machen mehr kaputt, als dass sie helfen. Das ist ein ganz zentrales Ergebnis meiner Arbeit. (…) Das kann so weit gehen, dass die Arbeitssuchenden behandelt werden wie kleine Schulkinder. (…) Allein die Jobagentur entscheidet, wo die Defizite liegen, und was als echte Kompetenz angesehen wird. Mit dem wirklichen Bedarf der Betroffenen hat das gar nichts zu tun. Sie bräuchten oft eine ganz andere Hilfe. (…) Wenn die Arbeitslosen trotz aller Qualifikationsmaßnahmen keine neue Stelle finden – was oft der Fall ist – reagiert das Amt mit immer neuen Defizit-Diagnosen. Irgendwann schreibt man den Arbeitslosen nicht nur fachliche Defizite zu, sondern auch psychologische oder medizinische Probleme. Da kommen sie nur schwer wieder raus. (…) Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Betroffenen mit am Tisch sitzen und mitreden können – statt dass über ihren Kopf hinweg entschieden wird, was mit ihnen geschieht, so wie bisher. Darüber hinaus bräuchten sie auch Mitbestimmungsmöglichkeiten auf der politischen Ebene. Das ist ein weiteres zentrales Ergebnis meiner Arbeit. (…) Ich fände es zu einfach, Hartz IV komplett zu verdammen. Sicher wäre es gut, wenn der finanzielle Druck für Hartz-IV-Empfänger nicht so groß wäre. Der entscheidende Fehler liegt aus meiner Sicht aber im Paradigma des Forderns und Förderns – vor allem in den Sanktionen, die damit verbunden sind…“