Quiet Quitting oder doch lieber „Rest Revolution“? Das Buch “Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“ von Nadia Shehadeh geht dieser Frage nach
In den letzten Jahren häufen sich die Stellungnahmen von Arbeitgeberverbänden, sie würden nicht genügend Personal finden. Die Millenials seien zu „egoistisch“ oder „narzistisch“, weil sie auf ein Wochenende, auf Freizeit, auf Pausenzeiten oder einfach Rumhängen auf dem Sofa und den Tag-in-die-Matratze-drücken-bis-das-Kissen-an-der-Backe-klebt bestehen. Es wäre schön, wenn die Millenials und Co das tatsächlich von sich behaupten könnten. Doch viele arbeiten, insbesondere bevor sie 30 werden, meist in prekären, befristeten Jobs, wo sie insbesondere als weibliche, queere und migrantisierte Kolleg*innen wenig Anerkennung geschweige denn Lohn erhalten. Daneben bleibt gerade an letzteren die Hausarbeit, die emotionale Sorgearbeit in Familien und Beziehungen hängen. Der Mental Overload ist also vorgeschrieben, ebenso wie Burnout in einer Gesellschaft, die zusätzlich mit Vollgas auf den Abgrund zurast. Was den Chefetagen nicht passt, ist dass der neoliberale Leistungsethos „du kannst es schaffen, wenn du dich nur richtig anstrengst“ endlich bröckelt. Und damit noch mehr Arbeitende diesem Märchen nicht mehr auf den Leim gehen, hat Nadia Shehadeh wichtige Gedanken und Beobachtungen dazu für euch zusammengestellt, wie diese: „Kein Job wird euch jemals lieben“ und „Ausruhen ist ein widerständiger Akt“. Weiteres in der Rezension von Anne Engelhardt vom 22. Mai 2023:
Ich habe Anti-Girlboss gelesen, nicht damit ihr es nicht machen müsst, sondern, damit ihr es auch lest. Es wird für einige eine Wohltat sein, endlich Bestätigung für eigene Beobachtungen zu erhalten. Für andere wird es eine bittere Pille sein, sich dabei ertappt zu fühlen, dem Märchen vielleicht zu lange nachgegangen zu sein. Wahrscheinlich ist es für die allermeisten eine Mischung aus beidem.
Nadia Shehadeh, die einige aus dem Blog Mädchenmannschaft, dem Missy Magazin oder dem ND zu popkulturellen Beobachtungen kennen, hat ein wunderschönes Statement gegen die kapitalistische und patriarchale Arbeitsmoral verfasst. Das Buch ist einerseits biografisch: Es zeichnet die Familiengeschichte von ihr, ihren vier Geschwistern und ihren Eltern nach. Ihr Vater, ein aus Palästina stammender Mediziner, stürzt sich in Arbeit, um nicht mit seiner Vergangenheit oder aktuellen Problemen aufräumen zu müssen. Die einst studierende Mutter ist als Hausfrau unglücklich, scheitert an verschiedenen kleinen Versuchen sich selbst zu verwirklichen, und stürzt sich ebenfalls in Arbeit (Elternsprecherin, Haushalt, Sorgearbeit und und und). Am Ende bröckelte die Ehe längst. Nadia wird als älteste Tochter die Vorzeigeschülerin, aber hinter der Fassade auch die Ersatzmutter ihrer jüngsten Geschwister. Sie lernt mit neun Jahren wickeln, trägt ihre Schwester durch die Gegend, bringt ihr schließlich Laufen und Fahrrad fahren bei und hilft ihr bei den Hausarbeiten.
In ihren späteren Beziehungen setzt sie ihre Mutterrolle und ihr ständiges „Am Limit sein“, fort. Sie heiratet früh, schmeißt den Haushalt, inklusive das Leben des eher weniger selbstständigen Partners, arbeitet neben dem Studium und schlittert mit Ende zwanzig geradewegs in die Krise. Irgendwann wird ihr klar, dass ihr „Mutterakku“ aufgebraucht ist, dass sie ihr Leben und ihre Ansprüche umstellen muss, um klarzukommen.
Dabei weiß Shehadeh inzwischen genau, dass sie nicht die einzige ist, der es so geht, sondern dass das ganze kapitalistische System auf dieser patriarchalen Extraausbeutung von weiblichen und migrantisierten Lohnabhängigen aufbaut. Ihnen wird eingetrichtert, dass sie keinen Wert als Mensch haben, wenn sie nicht die Extrameile an Putzen, Umsorgen, Kochen, Aufräumen, Lohnarbeit usw. zurücklegen, die meist weiße, männliche Kollegen gar nicht kennen. Ein Familienvater wird bewundert, wenn er mehr als zwei Monate Elternzeit nimmt. Eine Kollegin mit Migrationshintergrund wird als besonders faul angegangen, wenn sie vergessen hat die Spülmaschine in der Teeküche anzuschmeißen.
Shehadeh appelliert daran, sich zu organisieren und zu solidarisieren und aus dieser Tretmühle aus individuellem Ehrgeiz und den Glauben an Selbstverwirklichung durch Eigenleistung auszusteigen. Erst in Streiks, wie dem Frauenstreik in Island, haben weibliche Arbeitende erkannt, dass sie nur gemeinsam ihre Bedingungen verbessern können und gemeinsam eine bessere Welt für alle erreichen. Das bricht mit dem „Girlboss“ Ethos einiger, insbesondere aus wohlhabenden Verhältnissen stammender Frauen, die selbst Unternehmen gründeten und dann statt nach ihren moralischen Vorstellungen gerechtere Bedingungen zu schaffen, selbst vor allem eins wurden: Bosse.
Vom Aschenputtel zur Königin, ist auch ein von Disney und Co. immer noch gerne reproduziertes Bild. In der Neuinterpretation von 101 Dalmatiner „Cruella“ wird das Girlbossing besonders deutlich auf die Spitze getrieben: Die junge Talentierte versus die alte Talentierte. Dass am Ende alle Strukturen gleichbleiben, egal, wer an der Macht ist, wird nicht kritisch hinterfragt. Hauptsache die junge Heldin hat sich durchgesetzt. Eingesetzt hat sie sich jedoch nicht.
Und genau daran scheitern gesellschaftliche Veränderungen. Nicht als einzelne, sondern nur gemeinsam können wir einen Kampf gegen Bosse jeglicher Art führen und gegen eine Arbeitskultur, die krank macht. Aber auch bei diesem Kampf ist Reflexion über die eigene Rolle dringend geboten: Auch in politisch linken und antikapitalistischen Zusammenhängen passiert es leicht, dass einige „Genossen“ den Ton angeben, während die „Genoss*innen“ dafür sorgt, dass es Essen gibt, genügend Schlafplätze, es allen gut geht, die Kinderbetreuung steht usw. Und auch hier gilt es, die Zwänge und Arbeitsteilungen zu hinterfragen. Trotz dem gemeinsamen und dringenden Kampf gegen das System, gilt es auch in linken Strukturen mal lieber ein Nickerchen auf dem Sofa oder „Quiet Qutting“ zu machen, anstatt unnötig auszubrennen.
Shehadeh schreibt dazu passend: „Ausruhen ist ein wahrhafter Akt des Widerstandes – und zwar gegen ein ausbeuterisches, kapitalistisches System, das 24/7 unsere Ressourcen anzapft. Ja, bitte merken: Chillen kann politisch sein!“ (Seite 184)
[Buch] „Anti-Girlboss – Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“ von Nadia Shehadeh
- „»Work hard, party hard!« »Leistung zahlt sich aus!« Solche hohlen Phrasen kann Nadia Shehadeh nicht mehr hören. Was, wenn der Führungsjob mit Verantwortung keinen Spaß macht, Papier sortieren am Kopierer aber schon? Was, wenn man kein Leben auf der Überholspur führen möchte, sondern lieber auf der Couch liegt und auf »productivity« pfeift? Und was, wenn das von vielen gelobte Leistungsprinzip eigentlich nur eine Mär ist, die Statusunterschiede nicht erklären kann und Menschen unglücklich macht?
Vor allem Frauen wird eingetrichtert, dass sie sich mit individuellem Ehrgeiz aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsstrukturen befreien könnten. Das ist kollektiver Selbstbetrug, der uns auf perfide Art Chancengleichheit vortäuscht und zu immer mehr bezahlter und unbezahlter Arbeit antreibt, findet Nadia Shehadeh. Statt ein stressiges Leben auf der Überholspur befürwortet sie das Leben als Anti-Girlboss: Ambition spielt darin keine Hauptrolle mehr und das Durchschnittliche wird nicht verachtet, sondern begrüßt. Sie plädiert dafür, sich eine Komfortzone zu bewahren, die davor schützt, für Anforderungen von außen auszubrennen.
Wenn wir erkennen, dass es nicht so wichtig ist, alles zu haben, alles zu können und immer am Limit zu arbeiten, lebt sich das Leben nicht nur leichter, sondern auch glücklicher. “ Inhaltsangabe zum Buch - Nadia Shehadeh, geboren 1980, ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Livemusik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie betreibt ihren eigenen Blog shehadistan.com und ist Mitbetreiberin des Blogprojekts maedchenmannschaft.net. Shehadeh ist Kolumnistin des Missy Magazine sowie bei Neues Deutschland und freie Autorin bei der taz. Hauptberuflich arbeitet sie seit 2007 als Soziologin in der Erwachsenen- und Jugendarbeit.
- Berlin 2023
- Ullstein Verlag
- ISBN: 978-3-550-20220-9
- 224 Seiten
- 17,99 Hardcover / 15,99 E-Book
- Siehe weitere Informationen und Bestellungen beim Ullstein Verlag
Siehe zum Hintergrund auch im LabourNet Germany:
- Beitrag: Vorstandsvorsitzende der BA, Andrea Nahles: „Arbeit ist kein Ponyhof“ Aber: Wer will schon mehr Überstunden machen?
- Dossier: [„Quiet Quitting“ noch nur in USA?] Dieser neue Arbeitstrend treibt Arbeitgeber in die Verzweiflung – keine Überstunden mehr, nur das Nötigste erledigen…
- Beitrag: Mit mehr Balance das Soll erfüllen: Die Generation der Millennials stellt den grundlegenden Zwang zur Erwerbsarbeit selten in Frage
- Beitrag: Studie zu (immer noch zu vielen) Workaholics in Deutschland: Rund zehn Prozent der Erwerbstätigen arbeiten „suchthaft“
- Siehe auch die Rubrik Fetisch Arbeit