Was gesund erhält und was krank macht. Die entscheidenden Determinanten von Krankheit sind gesellschaftlich
„Der Aufstieg der Naturwissenschaften im 19.Jahrhundert befeuerte die Illusion, Krankheiten seien durch medizinische Maßnahmen zu »besiegen« oder gar durch eine erbbiologisch basierte Bevölkerungspolitik »auszumerzen«. Doch gab es innerhalb der Medizin auch kritische Stimmen, bspw. die von Rudolf Virchow. Er führte Krankheiten wesentlich auf mangelhafte soziale Verhältnisse zurück. Deshalb plädierte er für eine »soziale Medizin«, die die Arbeits-, Wohn- und Ernährungsverhältnisse in den Blick nimmt. (…) Richard Wikinson und Kate Pickett haben viel Material zusammengetragen, das eindeutig zeigt: Mit fallendem sozioökonomischem Status steigen Krankheitswahrscheinlichkeit und frühe Sterblichkeit. Dazu tragen unter anderem Stressfaktoren bei, die durch Ausgrenzung und Diskriminierung verursacht werden…“ Artikel von Wolfgang Hien in der Soz 02/2023 und mehr daraus:
- Weiter im Artikel von Wolfgang Hien in der Soz 02/2023 : „… Viele angebliche Verhaltensfehler sind verhältnisbedingt. Dass bspw. Arme mehr rauchen, liegt an der soziopsychosomatischen Lebenssituation und der erhöhten Stressbelastung. Wenn in Studien der Tabak- und Alkoholkonsum exakt erhoben und ihr Beitrag zu den Erkrankungen herausgerechnet wird, bleiben starke Unterschiede bei Morbidität und Mortalität bestehen. Eine Schlüsselrolle spielen die Arbeits- und Wohnverhältnisse. Lungenkrebs und einige andere Krebserkrankungen hängen eng mit krebserzeugend wirkenden Stäuben und Gasen am Arbeitsplatz und in der Wohnumwelt zusammen; Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Akkordstress, Nachtschichtarbeit und Lärmbelastungen; Rückenerkrankungen mit schwerer körperlicher Arbeit und mit Stressbelastungen. Gut belegt ist auch der Zusammenhang zwischen der Epidemie an psychischen Erkrankungen und Taylorismus und Posttaylorismus, d.h. der zunehmenden Intensität und Kontrolle der ökonomischen Verwertungsprozesse. Wissenschaftlich verfügen wir eigentlich über einen beachtlichen Erkenntnisstand – der auch unseren Alltagswahrnehmungen entspricht –, um systematisch Gesundheitsvorsorge, Prävention, zu betreiben. Dafür müssten jedoch Industrialisierung und Mobilität massiv heruntergefahren werden. Krebserzeugende und krebsfördernde Stoffe müssten, ebenso wie Industrielebensmittel, weitgehend verboten und Industrie- und Autoabgase auf ein Mindestmaß reduziert werden. Die überbordende Plastikwelt, die uns umgibt, müsste schrittweise auf wenige ökologisch und gesundheitlich verträgliche Stoffe und Anwendungsgebiete reduziert werden. Von alldem sind wir bekanntermaßen Lichtjahre entfernt. Stattdessen hat sich eine immer mächtiger werdende Chemie-, Pharma- und Medizingeräteindustrie etabliert, die zunehmend auch die medizinische Grundlagenforschung in die gewünschte Richtung lenkt. (…) Die Menschen sind nicht nur gesundheitsschädlichen Einflüssen ausgesetzt, sondern auch einer symbolisch-imaginären Ordnung, einem ideologischen Gefühls- und Denkgebäude, das die ganze kapitalistische Gesellschaft durchdringt. Arbeiter:innen sollen sich nicht nur anpassen und unterwerfen, sie sollen sich die Schuld an Krankheit, Not und Elend selbst zuschreiben. Diese Tendenz findet sich nicht nur in der staatlichen Gesundheitspolitik, sondern auch in der Naturheilkunde, wenn zum Beispiel von der Eigenverantwortlichkeit eines und einer jeden für sein oder ihr Immunsystem gesprochen wird.
Sowohl die Impfpflicht als auch die Rede von der Eigenverantwortung kommen dem, was im Nationalsozialismus »Pflicht zur Gesundheit« hieß, verdächtig nahe. Wer es nicht schafft, sich gesund zu erhalten, hat versagt, ist zu schwach, hat nicht die richtigen Gene oder ist nicht diszipliniert genug. Das sozialdarwinistische Konzept dahinter ist – um ein beliebtes Wortspiel der akademischen Gesundheitsforschung aufzugreifen – »evident«. (…) Für eine »Gesundheitspolitik von unten« bedarf es neuer Bündnisse in Betrieben und Stadtteilen und einer kontinuierlichen Zusammenarbeit von Basisaktivisten:innen, kritischen Wissenschaftler:innen und Medizinern:innen und anderen Akteur:innen, denen eine betroffenenorientierte und systemsprengende Gesundheitsarbeit am Herzen liegt. In den linken Debatten geht die ethische und moralische Frage oftmals unter. Gesundheitspolitik ist aber fundamental mit ethischen und moralischen Herausforderungen in der konkreten Lebenspraxis verknüpft. Eine entsprechende persönliche Haltung gerät mit den herrschenden Machtstrukturen unweigerlich in Konflikt. Aber nur so ist eine Vernetzung und Verzahnung von Basisbewegungen in den Betrieben und Stadtteilen mit den Basisbewegungen von Gesundheitsarbeiter:innen denkbar. Und genau dies wäre die Voraussetzung für eine andere, solidarische und systemsprengende Gesundheitspolitik von unten.“
Siehe von vielen sein Buch Kranke Arbeitswelt. Ethische und sozialkulturelle Perspektiven