Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – durch das Bundesarbeitsgericht

Dossier

Mag Wompel: Jagd auf Kranke - Rückkehrgespräche auf dem VormarschKündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. (…) Dessen Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelingt das dem Arbeitgeber, muss der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war. Der Beweis kann insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen…Pressemitteilung vom 08.09.2021 beim Bundesarbeitsgericht externer Link zum Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – siehe dazu einen Kommentar und weiteren Fall bei passiver Kündigung:

  • Bundesarbeitsgericht erlaubt dem AG die Verweigerung der Entgeltfortzahlung bei der AU nach Zugang der Kündigung – kritisch kommentiert von Armin Kammrad New
    • Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
      „Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt. Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2. Mai 2022, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022. Mit Folgebescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 wurde Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. Mai 2022 und bis zum 31. Mai 2022 (einem Dienstag) bescheinigt. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Dem widersprach der Kläger, weil die Arbeitsunfähigkeit bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe. Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für die Zeit vom 1. bis zum 31. Mai 2022 stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai 2022 – Erfolg. Ein Arbeitnehmer kann die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nachweisen. Diese sind das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Deren Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben. (…) Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung ist nicht gegeben. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa durch eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 2 Satz 4 BetrVG. Weitere Umstände hat die Beklagte nicht dargelegt. Bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 ist der Beweiswert dagegen erschüttert. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestand und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat. Dies hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Da das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen hat, war die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.“ Aus der BAG-Pressemitteilung vom 13. Dezember 2023 zum Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 externer Link
    • Kommentar von Armin Kammrad
      Auch wenn einiges für den Verdacht des AG (Beklagte) spricht, überzeugt das Urteil schon deshalb nicht, weil das BAG dem AG hier ein Recht einräumt, was gesetzlich gar nicht vorgesehen ist, nämlich die Verweigerung der Entgeltfortzahlung bei Zweifel an der Korrektheit ärztlich ordnungsgemäß erstellter (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Für solche Fälle hat der AG die Möglichkeit „zur Beseitigung von Zweifel an der Arbeitsfähigkeit, eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen“ (§ 275 Abs.1 Pkt. 3b SGB V). Die Willkür auf AG-Seite toleriert das BAG leider nicht nur, sondern es erzeugt so auch eine Umkehr der Beweislast bereits im Vorfeld, da nicht der AG wegen zu Unrecht erbrachter Entgeltfortzahlung, sondern der Betroffene um sein Geld gerichtlich streiten muss. Wo sieht das BAG überhaupt eine Grenze für die AG-Seite, um nicht aufgrund eines vagen Verdachts einfachmal gesetzwidrig zu handeln? Das Urteil des BAG ist auch deshalb rechtlich sehr fragwürdig, weil das BAG dem klagenden abhängig Beschäftigten in diesem Fall durchaus zugesteht (bzw. zugestehen muss), dass zwischen seiner Krankmeldung und der Kündigung kein (!) Zusammenhang besteht. Worauf beruht also irgendeine Rechtmäßigkeit für die Verweigerung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wenn es eher so aussieht als hätte der AG aufgrund der Erkrankung gekündigt, als dass der Betroffene grundlos krankgemacht hätte? Das BAG zweifelt nur an den Folgebescheinigungen, die jedoch auch als Folge weiter bestehender Erkrankung betrachtet werden könnten, sofern die erste Krankschreibung nicht beanstandet werden kann.
      Noch etwas stößt bei der Sachbewertung durch das BAG unangenehm auf: Was ist eigentlich mit dem Schutz der persönlichen Daten im Krankheitsfall (vgl. hierzu z.B. Art. 4 Pkt.15 DSGVO)? Zumindest aus der Pressemitteilung geht nicht hervor, dass einem erkrankten AN ein unverbrüchliches Recht auf Verschwiegenheit über die Art seiner Erkrankung vom BAG zugestanden wird, sofern ordnungsgemäße ärztliche Arbeitsunfähigkeitserklärung vorliegen. Stattdessen meint das BAG, dass der Betroffene bei Zweifel an seiner Arbeitsunfähigkeit „die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit“ haben soll. Faktisch kann das der Betroffene schon deshalb nicht, weil er kein Arzt ist. Und nur dieser unterschreibt die Arbeitsunfähigkeitserklärung. Sofern hier nichts zu beanstanden gibt, hat nicht der Betroffene eine Darlegungs- und Beweislast, sondern vorrangig die Justiz vorrangig eine Pflicht zum Schutz persönlicher Gesundheitsdaten. Was sollte der Betroffene auch zu seiner Entlastung vortragen, ohne dass sein Schutz persönlicher Daten noch gewahrt bleibt? So würde auch eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht wohl kaum einen Arzt oder eine Ärztin dazu bewegen, die ursprünglichen medizinischen Gründe für eine Krankschreibung nachträglich zu widerrufen. Hier bewegt sich das BAG also auf einen sehr gefährlichen Weg, geht doch die Krankheit dem AG grundsätzlich nichts an. Aber was ist mit der – laut BGA-PM – „passgenauen“ Dauer der Folgekrankschreibungen bis zur neuen Stelle? Verschwörungstheoretiker werden manchmal dafür kritisiert, weil sie grundsätzlich den Zufall vernachlässigen oder gar ganz ausschließen. Entsprechend täte auch das BAG gut daran, arbeitgeberseitige Zweifel nicht zu ernst zunehmen, bzw. zumindest in solchen Fällen auf den gesetzlich vorgeschriebenen Weg zu verweisen: Statt der Verweigerung der Entgeltfortzahlung, bitte rechtlich korrekt die Krankenkasse zwecks Überprüfung konsultieren.“ Kommentar von Armin Kammrad vom 16. Dezember 2023 – wir danken!
  • »Gelber Schein« reicht nicht. Bundesarbeitsgericht: Keine Lohnfortzahlung trotz Krankschreibung
    „… Der Musterfall im Schnelldurchlauf: Eine Mitarbeiterin einer Zeitarbeitsfirma hatte Anfang Februar 2019 zum Monatsende gekündigt und am selben Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) eingereicht. Sie soll, behauptete die Gegenseite, am Tag der Ausstellung einem Kollegen in ihrem damaligen Einsatzbetrieb telefonisch angekündigt haben, nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Von einer Arbeitsunfähigkeit sei in dem Gespräch keine Rede gewesen. Die Geschäftsführung verweigerte die Entgeltfortzahlung. Die Beschäftigte klagte. Sie machte hingegen geltend, aufgrund eines Burnouts ordnungsgemäß krankgeschrieben worden zu sein. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (LAG) hatte der Klage der Frau stattgegeben und den Anspruch auf Weiterzahlung von Einkommen bestätigt. Die Zeitarbeitsfirma legte Revision ein. Erfolgreich. Nach Ansicht des BAG-Senats wurde der Beweiswert der AU erschüttert, weil diese zeitlich exakt mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses abschloss. Das reichte den roten Roben vom BAG, die Krankschreibung anzuzweifeln. Die Klägerin hätte laut BAG darlegen und beweisen müssen, dass sie tatsächlich nicht arbeiten konnte. Klarer Fall: Beweisumkehr. Nur, wie sollen Betroffene ihr Kranksein sonst dokumentieren? Durch eine Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht etwa, so das BAG. Dem sei die Klägerin trotz eines Hinweises des Senats nicht nachgekommen. Offenbar ein Affront, eine Offerte eines Bundesgerichts zu ignorieren…“ Artikel von Oliver Rast in der jungen Welt vom 13.09.2021 externer Link

Siehe zum Thema auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=193348
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