Existenz statt Minimum – Living Wage (»Lebenslohn«) statt (höherem) Mindestlohn?
In Großbritannien zahlen einige Firmen freiwillig mehr als den Mindestlohn. Arbeitsminister Heil will das Konzept nach Deutschland holen. Hilft das Geringverdienern? „… »Das Problem ist, dass der staatliche Mindestlohn nicht darauf basiert, was die Menschen zum Leben brauchen«, erklärt die Living-Wage-Foundation , auf die die Idee des Existenzlohns zurückgeht. Im Gegensatz zum politisch festgelegten Mindestlohn berechnet sich der Living Wage auf Grundlage der tatsächlichen Kosten des Lebens für Essen, Miete, kulturelle Teilhabe, Transport und vieles mehr für eine Familie. Anhand eines Warenkorbs wird er von einem unabhängigen Institut jährlich neu kalkuliert. Und wie am Beispiel London klar wird, bezieht er regionale Unterschiede ein…“ Artikel von Alina Leimbach vom 5. Oktober 2019 in Neues Deutschland online und mehr daraus zur Übertragbarkeit auf Deutschland:
- ILO-Verständigung auf Existenzlohn-Definition (living wage): “ein Sprung nach vorn für die soziale Gerechtigkeit”
„Die ILO hat sich formell auf die Definition eines existenzsichernden Lohns verständigt, der ein wesentlicher Bestandteil des neuen Sozialvertrags ist, um die Weltwirtschaft im Interesse arbeitender Menschen umzugestalten. Die im Februar bei einer dreigliedrigen Sachverständigentagung zum Thema Lohnpolitik erzielte Vereinbarung wurde am 13. März vom Verwaltungsrat der ILO bestätigt.
Laut neuer Definition ist ein existenzsichernder Lohn „das Lohnniveau, das erforderlich ist, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen, wobei länderspezifische Gegebenheiten zu berücksichtigen sind und der Lohn für die während der normalen Arbeitszeit geleistete Arbeit berechnet wird”.
Die ILO-Vereinbarung unterstreicht die entscheidende Rolle, die Institutionen und Instrumente der Lohnfindung, insbesondere der soziale Dialog und Tarifverhandlungen, spielen müssen, und betont, dass Regierungen und Sozialpartner „den schrittweisen Übergang von Mindestlöhnen zu existenzsichernden Löhnen sicherstellen sollten”. Darüber hinaus werden mehrere Grundprinzipien für die Veranschlagung existenzsichernder Löhne festgelegt, darunter:
– Verwendung evidenzbasierter Methoden und solider Daten, die transparent und öffentlich verfügbar sind
– Anhörung der Sozialpartner
– Regelmäßige Anpassung an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten unter Berücksichtigung der regionalen und sozioökonomischen Gegebenheiten.
Außerdem ist es Aufgabe der ILO, Regierungen und Sozialpartnern bei der evidenzbasierten Lohnfindung zu helfen. Dazu gehören Unterstützung bei der Datenerhebung für Lohndiskussionen, das Angebot technischer Unterstützung bei der Ermittlung des Bedarfs an existenzsichernden Löhnen und die Bewertung relevanter wirtschaftlicher Bedingungen, sofern dies gewünscht wird. Die Vereinbarung soll für mehr Kohärenz mit laufenden nationalen und internationalen Initiativen zur Definition, Veranschlagung und Umsetzung existenzsichernder Löhne sorgen…“ Meldung am 26.03.2024 beim IGB- Siehe auch die entsprechende (engl.) Meldung der ILO vom 15.3.24
- Weiter aus dem Artikel von Alina Leimbach vom 5. Oktober 2019 in Neues Deutschland online : „… Im weniger marktliberalen Deutschland fordern Gewerkschafter*innen, Wohlfahrtsverbände und Politiker*innen, etwa der Linkspartei und der SPD, schon länger eine Anhebung des Mindestlohns auf 60 Prozent des mittleren Einkommens, was derzeit etwa zwölf Euro entspräche – bislang ohne Erfolg. Gerade erst erklärte das Arbeitsministerium, es spreche sich gegen einen »politisch gesetzten Mindestlohn aus«, liest man im Ergebnisbericht des Zukunftsdialogs. (…) Der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung der Gewerkschaft ver.di, Norbert Reuter, hat vor allem wegen der Freiwilligkeit Bedenken: »Ohne einen nochmaligen Eingriff der Politik wird man kaum schnell zu existenzsichernden Mindestlöhnen kommen.« (…) Der Sozialforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen betont, dass politischer Druck nötig sei: »Es ist eine gute Sache, wenn aus dem Vorschlag von Hubertus Heil eine politische Kampagne entsteht, die Druck ausübt für höhere Mindestlöhne gerade in Regionen mit hohen Lebenshaltungskosten.« Bosch hält allerdings vollkommen freiwillige Richtwerte für eine »Scheinlösung«. Ziel müsse sein, in teuren Regionen verbindliche Mindestlöhne festzulegen, die über der bundesweiten Untergrenze liegen. Damit dies möglich ist, könne man Städten das Recht geben, Gehaltsvorgaben zu machen. In den USA, wo es bereits erfolgreiche Living-Wage-Kampagnen gibt, sei genau dies gegeben. Dort legten der Bundesstaat, Einzelstaaten und Städte Mindestlöhne fest. In Deutschland gebe es überdies weitere wirkungsvolle Instrumente gegen Niedriglöhne: So könne die Politik die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen drastisch vereinfachen und festlegen, dass nur noch Unternehmen öffentliche Aufträge erhalten, die ihre Beschäftigten nach Tarif zahlen.“