Streit um EU-Mindestlohn (und Tarifbindung)
Dossier
„Die neue Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat im Juli eine Initiative für einen EU-weiten Mindestlohn angekündigt. Viele Gewerkschafter aus der Staatengemeinschaft jubeln. Nicht so die schwedischen Kollegen. Deshalb gibt es Streit in der Bewegung. (…) Der skandinavischen Tradition folgend, verbaten sich die schwedischen Gewerkschaften daraufhin einen Eingriff in ihre Lohnfindungssysteme. (…) In Paragraph 153 des EU-Vertrags, wo geregelt ist, auf welchen Gebieten die EU arbeitsmarktpolitisch aktiv werden kann, heißt es unmissverständlich: »Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.« Letztlich dürfte es sich bei von der Leyens Mindestlohnplänen daher um nicht viel mehr handeln als ein sozialpolitisches Plazebo. Die Diskussionen zeigen allerdings, welcher Sprengstoff in dem Thema steckt – und wie schwierig es für Gewerkschaften ist, auf EU-Ebene zusammenzuarbeiten.“ Artikel von Steffen Stierle in der jungen Welt vom 12. Dezember 2019 , siehe dazu:
- Am 15. November, Stichtag für die Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie, haben viele Länder die Frist nicht eingehalten oder sehr minimalistisch wie Ungarn und Deutschland
- Hat sich die EU-Mindestlohnrichtlinie ausgewirkt?
„Der 15. November war der Stichtag für die Umsetzung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union („Mindestlohnrichtlinie“) durch die EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht.
Torsten Müller, Senior Researcher am Europäischen Gewerkschaftsinstitut, hat sich mit der Kommunikationsbeauftragten Bethany Staunton zusammengesetzt, um den aktuellen Stand der Umsetzung der Richtlinie und die bisherigen Fortschritte bei den beiden wichtigsten Aspekten – angemessene Mindestlöhne und Förderung von Tarifverhandlungen – zu diskutieren. (…)
Ich denke, wir können sagen, dass der Umsetzungsprozess ziemlich enttäuschend verlaufen ist. Es gab zwei Haupttrends. Der erste ist, dass viele Länder spät dran sind und die Frist nicht eingehalten haben. Das kann daran liegen, dass sie noch über Gesetzesentwürfe diskutieren oder dass die Regierung keinen Handlungsbedarf sieht. Der zweite Trend ist, dass dort, wo die Umsetzung erfolgt ist, sie sehr minimalistisch war – dies ist zum Beispiel in Ungarn und Deutschland der Fall. Hier besteht die Umsetzung im Wesentlichen darin, zu bestätigen, dass die bestehenden Rechtsvorschriften mit der Richtlinie übereinstimmen. Die meisten Regierungen der Mitgliedstaaten haben für die Richtlinie gestimmt, aber jetzt, wo es hart auf hart kommt, sehen wir einen Mangel an Ehrgeiz. Natürlich müssen wir berücksichtigen, dass es in einigen Ländern zu Regierungswechseln gekommen ist. Die politischen Bedingungen auf nationaler Ebene sind nicht mehr so wie im Jahr 2022, als die Richtlinie verabschiedet wurde…“ engl. Beitrag vom 15.11.2024 bei BRAVE NEW EUROPE (maschinenübersetzt) - Mindestlohn: Bundesregierung festigt Status quo fürs Kapital. Bundesregierung bleibt bei Umsetzung der EU-Richtlinie untätig
„… »In vielen Punkten ist die Mindestlohnrichtlinie vage und dann kommt es auf ihre Auslegung und Umsetzung an«, bemängelt der Arbeitsrechtler Ernesto Klengel im Gespräch mit »nd«. Er ist Direktor des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts (HSI) und beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen des Arbeitsrechts in der EU. »Klar ist nur, dass es Referenzwerte geben muss, welche das dann sind, ist eine politische Frage«, sagt er. Ein solcher Wert könnte bei 60 Prozent des Medianlohns liegen. Das wären nach aktuellem Stand etwa 14 Euro, wie auch der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert. Derzeit liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 12,41 Euro.
Doch ein solcher Referenzwert fehlt im deutschen Mindestlohngesetz. Dennoch gab die Bundesregierung Mitte Oktober offiziell bekannt, dass die Anforderungen der Richtlinie durch bestehendes Recht erfüllt seien. Der deutsche Gesetzgeber habe sich für den auf internationaler Ebene anerkannten Wert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns entschieden, heißt es auf nd-Anfrage aus dem Arbeitsministerium. Der »Orientierungswert« werde auch bei künftigen Entscheidungen der Mindestlohnkommission zu berücksichtigen sein. Über dieses Verständnis des bestehenden Mindestlohnrechts habe Bundesminister Hubertus Heil (SPD) »Anfang September auch die Mindestlohnkommission informiert.«
Dass das Arbeitsministerium den Referenzwert lediglich als »Orientierungswert« heranzieht, ist aus Sicht Klengels verfehlt. »Denn die Kriterien, für die sich der Mitgliedstaat entscheidet, müssen klar definiert sein«, meint der Rechtsexperte. Auch, weil es keine klaren Vorgaben gibt, konnten die Unternehmen bei der letzten minimalen Erhöhung die Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission mit der Stimme des Vorstands überstimmen. Dass die Rechtsauslegung des Arbeitsministeriums tatsächlich Bestand haben wird, ist mehr als fraglich…“ Artikel von Felix Sassmannshausen vom 14.11.2024 in ND online
- Hat sich die EU-Mindestlohnrichtlinie ausgewirkt?
- EU-Mindestlohnrichtlinie gibt Referenz für Mindestlohn deutlich über 14 Euro – in Deutschland droht oberflächliche Umsetzung
„Bis zum 15. November 2024 muss die Europäische Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Das Ziel: EU-weit etwas gegen Armut durch Niedriglöhne zu erreichen. Bei der Umsetzung haben die Mitgliedsstaaten allerdings erhebliche Freiheiten, die auch dazu genutzt werden können, sich auf kosmetische Änderungen zu beschränken. Auch in Deutschland droht eine nur sehr oberflächliche Umsetzung, ergibt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. So hat die Bundesregierung gerade erklärt, dass aus ihrer Sicht die bestehende Gesetzeslage ausreiche und keine gesonderten Anpassungen nötig seien. Bleibe es dabei, stehe das „politisch für eine verpasste Chance, um in Deutschland angemessene Mindestlöhne durchzusetzen“, warnt Prof. Dr. Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs. Beispielsweise liefert die Richtlinie fundierte Richtgrößen dafür, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein sollte, um als „angemessen“ zu gelten: Nach WSI-Berechnungen wären das in Deutschland aktuell 14,61 Euro und im kommenden Jahr 15,12 Euro. Zur Stärkung des Tarifsystems, die die EU ebenfalls als Ziel setzt, wären ein wirkungsvolles Bundestariftreuegesetz nötig und zusätzlich weitere Reformen…“ HBS-Pressemitteilung vom 29.10.2024 zu Thorsten Schulten: Die (fehlende) Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie in Deutschland, WSI Kommentar Nr. 4, Oktober 2024 - Europäische Gewerkschaften mobilisieren „systemrelevante“ Berufe zur Demo am 1. Oktober in Brüssel für bessere EU-Vergabevorschriften
- Beschäftigte der Grundversorgung aus ganz Europa demonstrieren in Brüssel für bessere EU-Vergabevorschriften
„Nachdem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Überarbeitung der EU-Richtlinie über das öffentliche Auftragswesen angekündigt hat, fordern die Gewerkschaften neue Regeln, um die Tarifverhandlungen zu stärken, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und qualitativ hochwertige Dienstleistungen für die Kommunen zu gewährleisten.
Am 1. Oktober 2024 werden 1.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes – Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Beschäftigte in der Gastronomie – aus acht europäischen Ländern in Brüssel auf die Straße gehen, um die EU-Vorschriften für das öffentliche Auftragswesen zu ändern, die zu einem Wettlauf nach unten bei den Arbeitsbedingungen geführt haben. Das öffentliche Beschaffungswesen, d. h. die Vergabe von Aufträgen an private Unternehmen durch die öffentliche Hand zur Lieferung von Waren und Dienstleistungen, beläuft sich auf zwei Billionen Euro, was etwa 14 Prozent des BIP der Europäischen Union entspricht. Millionen von Arbeitnehmern sind in der EU im Rahmen dieser Verträge beschäftigt, und die durch das öffentliche Auftragswesen geschaffenen Standards haben Einfluss auf die Löhne und Arbeitsbedingungen im gesamten Privatsektor. Jetzt kommen die unentbehrlichen Arbeitskräfte, die in den dunkelsten Tagen der Covid-19-Pandemie für die Sicherheit, Sauberkeit und Ernährung der Bevölkerung gesorgt haben, in Brüssel zusammen und drängen auf dringend benötigte Reformen der EU-Richtlinie über das öffentliche Auftragswesen, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für ihre nächste Amtszeit angekündigt hat. Anderthalb Jahre, nachdem die WHO Covid-19 zum globalen Gesundheitsnotstand erklärt hat, ist der soziale Notstand, dem viele Beschäftigte in den wichtigsten Bereichen ausgesetzt sind, noch nicht überwunden…“ engl. Aufruf der UNI vom 17.9.2024 (maschinenübersetzt)- Veranstalter: UNI Europa (EU), EFFAT (EU), FGTB-ABVV (Belgien), ACV-CSC (Belgien), CGSLB-ACLVB (Belgien), CFDT Services (Frankreich), IG BAU (Deutschland), ver.di (Deutschland), OGB-L (Luxemburg), FNV Schonmaak (Niederlande), NAF (Norwegen), CGIL Filcams (Italien), UGT-FeSMC (Spanien), PAM (Finnland)
- Demo in Brüssel für faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen: Über 1000 Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Beschäftigte des Gastgewerbes werden erwartet
„Über 1.000 Demonstrierende werden am Dienstag, 1. Oktober, in Brüssel erwartet. Dann werden Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Beschäftigte des Gastgewerbes aus ganz Europa auf die Straße gehen und auf die dringend benötigte Reform der öffentlichen Auftragsvergabe drängen. Europäische Gewerkschaften der systemrelevanten Branchen fordern neue Regeln, die Tarifverhandlungen stärken, die Arbeitsbedingungen verbessern und hochwertige Dienstleistungen sicherstellen. Bislang hätten die EU-Vorschriften nur „zu einem Wettlauf nach unten bei den Arbeitsbedingungen geführt“. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode eine Überarbeitung der entsprechenden Richtlinie angekündigt.
„Öffentliche Aufträge sollten keine Armutsjobs schaffen“, sagt Bedra Duric, die ebenfalls in Brüssel sein wird. Sie ist Betriebsratsvorsitzende und in der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Bundesfachgruppenvorsitzende des Gebäudereinigungs-Handwerks. „Während der Pandemie haben die Kolleg*innen ihre Gesundheit riskiert, um Deutschland sauber zu halten. Obwohl allen klargeworden ist, dass wir unverzichtbare Jobs machen, werden wir immer noch missachtet und unterbezahlt.“ An der Demonstration werden Reinigungskräfte der europäischen Institutionen und Sicherheitskräfte des Brüsseler Flughafens zusammen mit Kolleg*innen aus mindestens acht weiteren europäischen Ländern teilnehmen.
Das Volumen des öffentlichen Beschaffungswesens, das heißt die Beauftragung von Privatunternehmen durch öffentliche Behörden mit der Lieferung von Waren und Dienstleistungen, beläuft sich auf rund zwei Billionen Euro, was etwa 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union entspricht. Millionen von Arbeitnehmer*innen sind in der EU über diese Verträge beschäftigt. Die durch das öffentliche Beschaffungswesen geschaffenen Standards beeinflussen die Löhne und Arbeitsbedingungen auch im gesamten Privatsektor.
Eine Studie von UNI Europa zeigt, dass die Hälfte aller öffentlichen Ausschreibungen in der EU ausschließlich auf der Grundlage des niedrigsten Preises vergeben werden. Das ist meistens auf die Beschaffungsregeln zurückzuführen. Diese Regeln übersehen die sozialen Kosten für die Kommunen und unterminieren das Versprechen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Tarifbindung zu erhöhen, um „faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und faire Arbeitsplatzwechsel für Arbeitnehmer*innen zu unterstützen“. Pressemitteilung vom 24.09.2024 der IG BAU
- Beschäftigte der Grundversorgung aus ganz Europa demonstrieren in Brüssel für bessere EU-Vergabevorschriften
- EU-Mindestlohnrichtlinie: „Wichtiger Tag für soziales Europa“ (DGB)
„Zum Ausgang der Abstimmung im Plenum des EU-Parlaments über die EU-Mindestlohnrichtlinie sagte Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied, am Mittwoch in Berlin: „Dies ist ein wichtiger Tag für das soziale Europa und nicht zuletzt ein Erfolg der europäischen Gewerkschaften. Das Signal lautet: Die Beschäftigten am untersten Ende der Lohnskala werden nicht mehr alleingelassen. Erwerbsarmut wird nicht mehr geduldet. Politisch wird auf mehr Tarifverträge und – wo keine Tarifverträge gelten – auf angemessene gesetzliche Mindestlöhne gesetzt. Das ist eine Entwicklung in die richtige Richtung und kommt gerade jetzt zum richtigen Zeitpunkt! (…)“ Die neue Richtlinie bedeutet konkret, dass Mitgliedstaaten beurteilen müssen, ob die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns adäquat ist und dabei u.a. die Kaufkraft und die Höhe der Lebenshaltungskosten beachten müssen. [S]taatlicherseits die Verpflichtung besteht, dass die Tarifbindung gefördert wird und gewerkschaftsfeindliche Aktionen bekämpft werden. [N]un ein nationaler Aktionsplan in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Gewerkschaften aufgestellt werden muss, da die Tarifabdeckung in Deutschland unter 80 Prozent liegt – mit dem Ziel dass die Tarifabdeckung kontinuierlich steigt. Unternehmen und deren Nachunternehmer, die öffentliche Aufträge erhalten, das Recht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, sowie das Recht auf Tarifverhandlungen respektieren müssen.“ DGB-Pressemitteilung vom 14. September 2022 und darin zum Hintergrund:- „Die neue Richtlinie bedeutet konkret, dass
- Mitgliedstaaten beurteilen müssen, ob die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns adäquat ist und dabei u.a. die Kaufkraft und die Höhe der Lebenshaltungskosten beachten müssen.
- staatlicherseits die Verpflichtung besteht, dass die Tarifbindung gefördert wird und gewerkschaftsfeindliche Aktionen bekämpft werden.
- nun ein nationaler Aktionsplan in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Gewerkschaften aufgestellt werden muss, da die Tarifabdeckung in Deutschland unter 80 Prozent liegt – mit dem Ziel dass die Tarifabdeckung kontinuierlich steigt.
- Unternehmen und deren Nachunternehmer, die öffentliche Aufträge erhalten, das Recht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, sowie das Recht auf Tarifverhandlungen respektieren müssen.“
- „Die neue Richtlinie bedeutet konkret, dass
- Mindestlöhne in Europa im Jahr 2022 – sowie die Frage, ob und wie man in inflationären Zeiten wie diesen angemessene Mindestlöhne sicherstellen kann
„Eurofound, die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der EU mit Sitz im irischen Dublin, hat den jährlichen Bericht über die Mindestlöhne in Europa für das Jahr 2022 veröffentlicht (…) Nach einer zurückhaltenden Anpassungsrunde der Mindestlöhne für 2021 wurden die Nominalsätze für 2022 deutlich angehoben, da die negativen Folgen der Pandemie nachließen und sich die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte erholten. In diesem Zusammenhang haben 20 der 21 EU-Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ihre Sätze erhöht. In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten war ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen, während der größte Anstieg in Deutschland erfolgte. Unter Berücksichtigung der Inflation stiegen die Mindestlöhne real jedoch nur in sechs Mitgliedstaaten. (…) Wenn sich die gegenwärtigen Inflationstrends fortsetzen, werden die Mindestlöhne im Jahr 2022 in keinem Land real steigen und erhebliche Verluste bei der Kaufkraft der Mindestlohnempfänger werden das Bild beherrschen – es sei denn, das Problem wird durch zusätzliche Aufstockungen oder andere Unterstützungsmaßnahmen für die Geringverdiener im Laufe des Jahres angegangen. Ausgehend von den Mindestlohngesetzen scheint nur etwa die Hälfte der Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen die Inflation oder die Entwicklung der Lebenshaltungskosten bei der Festlegung der Sätze zu berücksichtigen. Angesichts der beispiellosen Inflation wäre es lohnenswert zu überprüfen, inwieweit die Systeme und Praktiken zur Festsetzung von Mindestlöhnen an die aktuellen Umstände angepasst werden können und werden. (…) Nur etwa die Hälfte der Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ist gesetzlich verpflichtet, die Inflation oder die Entwicklung der Lebenshaltungskosten bei der Festlegung der Sätze zu berücksichtigen. Dies ist ein Bereich, in dem die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne bedeutende Änderungen bewirken könnte. Indem die Lohnfestsetzer verpflichtet werden, klare Kriterien wie die Kaufkraft des Mindestlohns zu verwenden, wird die Richtlinie sie dazu verpflichten, die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen, um den Lebensstandard der Mindestlohnempfänger zu erhalten. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie schnell die Lohnfestsetzer reagieren oder reagieren können, wenn sich die Umstände ändern. (…) Wie angemessen die Löhne der Mindestlohnempfänger Ende 2022 sein werden, hängt von der Flexibilität der etablierten Verfahren zur Festsetzung des gesetzlichen Mindestlohns und dem politischen Willen ab, die Kaufkraft der Geringverdiener zu erhalten. Es wird auch vom Willen der Sozialpartner und ihrer Fähigkeit abhängen, Verhandlungsergebnisse zu erzielen, die dem Inflationsdruck Rechnung tragen.“ Beitrag von Stefan Sell vom 21. Juni 2022 auf seiner Homepage mit Link zur englischsprachigen 76-seitigen Eurofound-Studie - Keine Lohnerhöhungen und einheitlicher Mindestlohn in der EU – dafür weiterhin Extraprofite für transnationale Konzerne durch grenzüberschreitendes Lohndumping
„… Einen EU-weiten Mindestlohn wird es somit nicht geben. Dieses Ziel zu erreichen, war ja eigentlich auch niemals Sinn der Übung. Die Forderungen der europäischen Gewerkschaftsvereinigungen nach höheren Löhnen und einen Europäische Union (EU)-weiten einheitlichen Mindestlohn waren immer schon recht leise und zurückhaltend, wenn es ums Konkrete ging. „Pay Rise“ hieß zuletzt die Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), die in ganz Europa die Umverteilung in den Blick nehmen sollte. Sie ist still und leise verpufft. Die Schieflage bei der Lohnentwicklung, die vom deutschen Modell des Ausbaus des Niedriglohnsektors ausging, hat man auch völlig aus dem Blick verloren. (…) Statt die Löhne in den neuen EU-Mitgliedsstaaten zu erhöhen, steigt der Druck auf den Verdienst in den alten Mitgliedsstaaten. Böse Zungen behaupten, dies sei auch gewollt, die Lohnunterschiede in der EU werden nicht geringer, dafür wächst das grenzüberschreitende Lohndumping und lässt die Profite der transnationalen Konzerne explodieren. Damit das so bleibt, soll die wirtschaftliche Angleichung innerhalb Europas verlangsamt werden, man steht auf der Bremse. Die Wirtschaftsentwicklung in den osteuropäischen Ländern hat nicht nur unter der Abwanderung der Arbeitskräfte erheblich gelitten, sondern auch darunter, dass die Gewinne in osteuropäischen Betrieben in die Konzernzentralen Westeuropas abfließen – mittlerweile gehört mehr als die Hälfte der produzierenden Betriebe in Osteuropa Eigentümern aus dem Ausland. Die kargen Löhne verbleiben im Land. (…)
Auch der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der selbst keine tarifpolitischen Kompetenzen hat, forderte höhere Löhne in Europa im Rahmen der „Pay Rise“ Kampagne, die aber sang und klanglos verschwand, ohne das ständige Wachstum des Niedriglohnsektors, ausgehend von Deutschland, zu thematisieren. Man hatte den Eindruck, die Nichterwähnung des Begriffs Niedriglohnsektor war vorgegeben, damit er nicht in den Begründungen für überfällige Lohnsteigerungen im Zusammenhang mit Deutschland auftauchen sollte. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass der heutige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, damals Vize-Generalsekretär des EGB, aktiv an der Gestaltung des deutschen Niedriglohnsektors beteiligt war. Der EGB beklagt, es seien Politiker, Ökonomen und Unternehmen gewesen, die ausschließlich auf Export ausgerichteten Wirtschaftsmodells mit eingebautem Niedriglohnsektor favorisierten und installierten, ohne die tragende Rolle der Gewerkschaft dabei auch nur leise zu erwähnen. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Während früher die südländischen Gewerkschaften in der EU eine Binnenkonjunkturstrategie favorisierten, sind heute wohl alle europäischen Gewerkschaften Anhänger der Exportstrategie. Die Gewerkschaften oder auch die linken Parteien in der EU müssen Druck aufbauen und die Konzerne verpflichten, durch ihre Löhne das Lohnniveau in den neuen Mitgliedsstaaten zu heben…“ Beitrag vom 9. Juni 2022 beim Gewerkschaftsforum - Kein EU-Mindestlohn aber regelmäßig angepasst: EU einigt sich auf vage Mindestlohnregeln, höhere Tarifbindung (als in Deutschland) angestrebt
„Europaweite Regeln für Mindestlöhne sollen den Lebensstandard für Millionen von Menschen im Niedriglohn-Sektor verbessern. Das haben die EU-Staaten und das Europaparlament nun beschlossen. Keine einheitlichen Mindestlöhne in den Staaten der Gemeinschaft, aber einheitliche Standards zur Überprüfung und Anpassung der Mindestlöhne: Darauf haben sich die Verhandlungspartner der EU nun in einem Kompromiss geeinigt. Der Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments, Dennis Radtke (CDU), nannte laut Nachrichtenagentur dpa Details der Regelung. Demnach sollen gesetzliche Mindestlöhne nach einem einheitlichen Verfahren festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden. So sollen Mindestlöhne künftig mindestens alle zwei Jahre aktualisiert werden. Eine Ausnahme gibt es den Angaben zufolge für Länder, die einen automatischen Indexierungsmechanismus anwenden. Hier gilt eine Frist von vier Jahren. Die Sozialpartner, also Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, müssen an den Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der Mindestlöhne beteiligt werden. Europaparlament und die EU-Staaten müssen den Kompromiss noch formell bestätigen. Für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht haben die Staaten dann zwei Jahre Zeit. (…) Die geplante EU-Richtlinie sieht neben den Mindestlohnregelungen auch vor, dass EU-Länder Aktionspläne festlegen müssen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liegt, wie der Abgeordnete Radtke bestätigte. Eine Tarifbindung besteht, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf die Anerkennung und Anwendung eines Tarifs geeinigt haben. In Deutschland liegt die Tarifbindungsquote deutlich unter den nun angestrebten 80 Prozent. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag sie im zuletzt bundesweit bei rund 44 Prozent…“ Meldung vom 07.06.2022 bei tagesschau.de („Regelmäßige Anpassungen geplant: EU einigt sich auf Mindestlohnregeln“), siehe auch:- Bye-bye, Mindestlohn. EU-Parlament und Mitgliedstaaten einigen sich nach langen Verhandlungen auf vage Standards für Lohnuntergrenzen
„Die vor fünf Jahren mit großem Tamtam präsentierte »europäische Säule sozialer Rechte« bleibt auch beim Thema Mindestlöhne weitgehende unwirksam. Bei der Verabschiedung der Grundsätze war unter anderem der Anspruch formuliert worden, dass in allen EU-Mitgliedstaaten »angemessene Mindestlöhne gewährleistet« werden sollen. Deshalb hatte die EU-Kommission im Oktober 2020 einen Richtlinienentwurf vorgelegt, mit der ebendies erreicht werden sollte. Nach zähen Verhandlungen mit Vertretern des EU-Parlaments sowie dem Rat der Mitgliedstaaten wurde am Dienstag ein Kompromiss präsentiert. Einen EU-weiten Mindestlohn wird es demnach nicht geben. So steht am Ende der monatelangen Auseinandersetzung lediglich eine vage Verständigung über gemeinsame Standards darüber, wie Mindestlöhne künftig festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Die extremen Unterschiede im Umgang mit Lohnuntergrenzen werden nicht abgebaut. (…)In dem Kompromiss nicht enthalten ist die ursprünglich von der Kommission vorgeschlagene Festlegung, dass Mindestlöhne künftig mindestens 60 Prozent des Medianlohns des jeweiligen Landes betragen müssen. Dies hätte in den meisten Mitgliedstaaten eine Anhebung zur Folge gehabt. Nur in wenigen Ausnahmen wie Portugal und Frankreich liegt der Mindestlohn oberhalb dieser Schwelle. In Deutschland lag der Mindestlohn in den vergangenen Jahren bei knapp 50 Prozent des Median. Mit der Erhöhung auf zwölf Euro rückt er in die Nähe der 60-Prozent-Marke.“ Artikel von Sebastian Edinger in der jugen Welt vom 08.06.2022
- Bye-bye, Mindestlohn. EU-Parlament und Mitgliedstaaten einigen sich nach langen Verhandlungen auf vage Standards für Lohnuntergrenzen
- Gesamtmetall: Arbeitgeber wollen EU-Gesetz zu Mindestlöhnen bekämpfen
„… Deutschlands größter Arbeitgeberverband sagt einem umstrittenen EU-Gesetz zu Mindestlöhnen und Tarifverträgen den Kampf an: „Wir werden dagegen vorgehen mit allen politischen und juristischen Mitteln, die wir haben“, sagte Oliver Zander, der Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, der Süddeutschen Zeitung. Die Mitgliedsverbände seiner Organisation vertreten Unternehmen mit 2,4 Millionen Arbeitsplätzen, etwa aus der Auto- oder Elektroindustrie. An diesem Montag werden sich die Sozialminister der EU-Staaten bei einem Treffen in Brüssel vermutlich auf eine Verhandlungsposition für diese Richtlinie einigen. Der Rechtsakt soll Standards für die Ermittlung von Mindestlöhnen festschreiben und dazu beitragen, dass möglichst viele Jobs von Tarifverträgen abgedeckt sind. Lobbyist Zander hält diesen Ansatz für grundfalsch. Der 53-jährige Jurist spricht von „Kompetenzüberschreitung“ und einer „Werbekampagne für alle EU-Kritiker“. Mit seinem Ärger steht er nicht alleine: Andere Arbeitgeberverbände lehnen die vor einem Jahr von der Kommission vorgeschlagene Richtlinie ebenfalls ab. Auf der anderen Seite loben die meisten Gewerkschaften das Vorhaben. Und das Europaparlament billigte vor anderthalb Wochen eine Verhandlungsposition, die den Gesetzentwurf sogar noch verschärft. (…) Der Gesamtmetall-Chef fürchtet um die im Grundgesetz verankerte Tarifautonomie, also das Recht von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ohne staatliche Einmischung Tarifverträge auszuhandeln. Ein Aktionsplan der Regierung für eine höhere Tarifbindung werde „darauf hinauslaufen, dass man die Tarifautonomie einschränkt: Statt Freiwilligkeit ist staatlicher Zwang angesagt“, sagt er. Die Regierung könnte zum Beispiel mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. Dann gelten sie auch für Firmen, die nicht im Arbeitgeberverband organisiert sind. Zander warnt, dies mindere den Anreiz, überhaupt einer Gewerkschaft oder einem Unternehmerverband beizutreten: „Das untergräbt unser bewährtes System der Sozialpartnerschaft.“…“ Artikel von Björn Finke vom 5. Dezember 2021 in der Süddeutschen Zeitung online – seltsam warum Zander, der sich über Brüssler Eingriffe in die Tarifautonomie des Grundgesetzes so erregt, nicht ganz vorn dabei ist, wenn es um die Streichung des Tarifeinheitsgesetzes und gegen staatliche Regulierungen des Streikrechts, also gerade um Eingriffe in die Tarifautonomie, geht? - Der EU-Mindestlohn kommt: Die neue Koalition in Berlin hat schon einen Mindestlohn von 12 Euro verabredet. Aber auch die neuen EU-Mindestlohnregeln zwingen sie zum Handeln
„… Der Vorstoß der Europäischen Kommission für die Einführung „fairer Mindestlöhne“ hat eine weitere Hürde genommen. Nach dem Europäischen Parlament hat sich am Montag auch der Ministerrat, das Gremium der Mitgliedstaaten, hinter den Vorschlag gestellt. Die EU legt damit einheitliche Kriterien fest, nach denen die Mitgliedstaaten ihren Mindestlohn festlegen sollen. Dazu gehört die allgemeine Lohnentwicklung, die Entwicklung der Produktivität, aber auch die Kaufkraft der Mindestlöhne mit Blick auf die Lebenshaltungskosten. Eine generelle Untergrenze für die nationalen Mindestlöhne ist nicht vorgesehen etwa bezogen auf das mittlere Einkommen in einem Land. Es wird nur als nicht verbindlicher Orientierungsrahmen erwähnt, dass ein fairer Lohn 60 Prozent des mittleren Einkommens oder Medianlohns überschreiten sollte. Die Europäische Kommission wollte das ursprünglich strikter fassen. Damit hätte sie aber die in den EU-Verträgen verankerten Kompetenzen der EU überschritten. Auch eine Pflicht zur Einführung von Mindestlöhnen ist nicht vorgesehen. Momentan gibt es in 21 Mitgliedstaaten einen gesetzlichen Mindestlohn. Österreich, die skandinavischen Staaten und Italien gehören nicht dazu. Deutschland müsste seine Regeln wohl anpassen. Bisher orientiert sich die deutsche Mindestlohnkommission am Anstieg der Tariflöhne, Kriterien wie Kaufkraft oder Produktivität spielen eine Nebenrolle in deren Verfahren. Der von der Koalition aus SPD, FDP und Grünen vereinbarte Mindestlohn von 12 Euro übertrifft aber die Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns. (…) Größere Auswirkungen – auch für Deutschland – dürfte damit am Ende der zweite Aspekte des neuen Gesetzes haben: die Vorgaben, dass für mindestens 70 Prozent der Beschäftigten in den Staaten Tarifverträge gelten sollen. Die Kommission hatte das vorgeschlagen, weil in den Staaten mit hoher Tarifbindung höhere Löhne gezahlt werden. Erreichen die Staaten diese Schwelle nicht, müssen sie der Kommission einen Aktionsplan dafür vorlegen, wie sie das ändern wollen. In Deutschland beträgt der Anteil momentan nur 50 Prozent…“ Artikel von Hendrik Kafsack vom 6. Dezember 2021 in der FAZ online - Große Mehrheit für EU-Richtlinie zu Mindestlöhnen und Tarifbindung: Umstrittenes EU-Gesetz stärkt Gewerkschaften
„… Da hat das Drängen der Lobbyisten nichts genutzt: Am Donnerstag stimmte das Plenum des Europaparlaments in Straßburg mit großer Mehrheit für eine umstrittene EU-Richtlinie zu Mindestlöhnen und Tarifbindung. Der Sozialausschuss hatte sich vor zwei Wochen auf eine Verhandlungsposition für dieses wegweisende Gesetz geeinigt; das Plenum bestätigte sie nun. Sobald der Ministerrat als Vertretung der Mitgliedstaaten seine Haltung festgezurrt hat, können die Verhandlungen zwischen den beiden Gesetzgebungskammern beginnen. Vor dem Votum im Parlament hatte der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die Abgeordneten noch eindringlich gebeten, die Position nicht freizugeben. Der Rechtsakt sei nicht „vereinbar mit dem deutschen Grundgesetz“ und greife tief in die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ein, heißt es in einer E-Mail von Gesamtmetall-Chef Oliver Zander an die EU-Parlamentarier. Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke, der als einer der Berichterstatter zuständig für dieses Gesetz war, beteuert hingegen, dass die Richtlinie „bestehende Systeme nicht in Frage“ stelle: „Unser Ziel ist es vielmehr, die Sozialpartnerschaft zu stärken.“ Nach den „hochemotionalen Debatten“ der vergangenen Monate sei er „froh und stolz“ über die Zustimmung des Plenums. Was Kritiker – auch in Radtkes eigener Partei – so aufregt, ist ein Passus in der Richtlinie, der die EU-Regierungen dazu zwingt, Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung zu entwerfen. Dies ist der Anteil der Arbeitnehmer, deren Betrieb von Gehaltstarifverträgen erfasst wird. Solche Pläne sollen alle EU-Länder mit einer Tarifbindung von unter 80 Prozent verabschieden, heißt es in der Verhandlungsposition des Parlaments. Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Kommission lag der Richtwert nur bei 70 Prozent. 80 Prozent erreichen bislang bloß sieben EU-Länder: Österreich, Frankreich, Belgien, Italien, Finnland, Dänemark und Schweden – sämtliche anderen müssten darauf hinarbeiten, etwa Deutschland, wo der Satz um die 50 Prozent beträgt. (…) Daneben legt das EU-Gesetz Standards für die Ermittlung von staatlichen Mindestlöhnen fest. Die europäische Ebene hat aber wenig Befugnisse in der Sozialpolitik. Daher verzichtet die Richtlinie darauf, konkrete und verbindliche Vorgaben zur Höhe der Mindestlöhne zu machen. Zumal sechs der 27 Mitgliedstaaten gar keine gesetzlichen Lohnuntergrenzen kennen. Diese Länder werden auch nicht gezwungen, welche einzuführen.“ Artikel von Björn Finke vom 25. November 2021 in der Süddeutschen Zeitung online - Untergrenze für Malocher. EU-Parlament will Standards für Mindestlöhne in Europa durchsetzen. DGB sieht »historische Chance« für sozialere Union
„Wenn die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, oben und unten, Arm und Reich zu groß werden, zeigt sich der Kapitalismus schon mal von seiner generösen Seite. Auf Ebene der EU kapriziert sich der neu entdeckte Sinn für Gerechtigkeit seit geraumer Zeit auf ein Lieblingsprojekt: den Mindestlohn. Selbst Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hat ihr Herz dafür entdeckt. Im September 2020 – unter dem Eindruck einer neuen, durch Corona befeuerten Verelendungsrunde – proklamierte sie in ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union: »Mindestlöhne funktionieren, und es ist Zeit, dass sich Arbeit lohnt.« Also, so ihre Ankündigung, müssten zügig Vorschläge dafür her, wie sich Standards für die Festlegung und Geltung von Lohnuntergrenzen für alle Mitgliedstaaten schaffen lassen. Nicht ganz so »zügige« 14 Monate später hat das EU-Parlament geliefert: Am Donnerstag befasste sich der Arbeits- und Sozialausschuss mit einem Richtlinienentwurf, der erstmals konkrete Leitlinien für Mindestlöhne in der Union vorgibt. Demnach sollen diese als gerecht gelten, sofern sie die Einkommensverteilung verbessern und den »Arbeitnehmern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichern«, zitierte die Deutsche Presseagentur (dpa) aus der Vorlage. Derzeit verhandeln auch die EU-Staaten über ihre Position in der Frage, mit einem Ergebnis ist Anfang Dezember zu rechnen. Danach müssen Länder und Parlament eine gemeinsame Linie finden, erst dann kann aus dem Entwurf ein Gesetz werden. Bis dahin dürfte noch viel Zeit vergehen, und die Chancen, dass am Ende ein »großer Wurf« herauskommt, stehen auch nicht gerade günstig. Die EU-Verträge erlauben keine direkten Eingriffe in die Lohnpolitik der Länder, die Festsetzung einer konkreten Lohnhöhe ist damit ausgeschlossen. (…) Der Gesetzentwurf sieht die Einleitung von Aktionsplänen für Staaten vor, deren Tarifbindung in der einheimischen Wirtschaft unterhalb von 70 Prozent liegt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat dies in einem vor einem Monat vorgelegten Positionspapier als Schritt gewürdigt, »wodurch der Trend zu sinkender Tarifabdeckung endlich gebrochen wird«. Ein bisschen Lob vom DGB gab es zudem für die geplante Festlegung von Tariftreueklauseln bei der öffentlichen Auftragsvergabe…“ Artikel von Ralf Wurzbacher in der jungen Welt vom 12.11.2021 - Höhere Löhne und einheitlicher Mindestlohn in der EU oder Extraprofite für transnationale Konzerne durch grenzüberschreitendes Lohndumping
„Die Forderungen der europäischen Gewerkschaftsvereinigungen nach höheren Löhnen und einen Europäische Union (EU)-weiten einheitlichen Mindestlohn waren immer schon recht leise und zurückhaltend, wenn es ums Konkrete ging. „Pay Rise“ hieß zuletzt die Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), die in ganz Europa die Umverteilung in den Blick nehmen sollte. Sie ist still und leise verpufft. Die Schieflage bei der Lohnentwicklung, die vom deutschen Modell des Ausbaus des Niedriglohnsektors ausging, hat man auch völlig aus dem Blick verloren. Im Herbst 2020 schlug die EU-Kommission eine „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ (MiLoRL) vor, die Maßstäbe für die Festsetzung von gesetzlichen Mindestlöhnen in den Mitgliedsstaaten klar- und sicherstellen soll. Sie will einen europaweiten Rechtsrahmen für angemessene Mindestlöhne schaffen, ohne dass den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen wird, den gesetzlichen Mindestlohn festzulegen. In Deutschland hatten sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag auf die Einführung der Mindestlohnregelung auf der EU-Ebene geeinigt, doch gibt es Streit über die Umsetzung. Vor allem blockiert das Bundeswirtschaftsministerium das Vorhaben, weil der deutsche Niedriglohnsektor den Unternehmen auch in der EU große Konkurrenzvorteile bietet. Die Diskussion um höhere Löhne und einen EU-weiten einheitlichen Mindestlohn bekam mit der EU-Osterweiterung noch einmal Rückenwind. War es doch offensichtlich, dass die Löhne innerhalb der EU extrem auseinanderspreizten, mit der Folge, dass immer mehr Fabriken in den billigeren Osten abwanderten und immer mehr Arbeitskräfte aus dem Osten in den Westen kamen und kommen. (…) Statt die Löhne in den neuen EU-Mitgliedsstaaten zu erhöhen, steigt der Druck auf den Verdienst in den alten Mitgliedsstaaten. Böse Zungen behaupten, dies sei auch gewollt, die Lohnunterschiede in der EU werden nicht geringer, dafür wächst das grenzüberschreitende Lohndumping und lässt die Profite der transnationalen Konzerne explodieren. Damit das so bleibt, soll die wirtschaftliche Angleichung innerhalb Europas verlangsamt werden, man steht auf der Bremse. Die Wirtschaftsentwicklung in den osteuropäischen Ländern hat nicht nur unter der Abwanderung der Arbeitskräfte erheblich gelitten, sondern auch darunter, dass die Gewinne in osteuropäischen Betrieben in die Konzernzentralen Westeuropas abfließen – mittlerweile gehört mehr als die Hälfte der produzierenden Betriebe in Osteuropa Eigentümern aus dem Ausland. Die kargen Löhne verbleiben im Land. (…) Auch der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der selbst keine tarifpolitischen Kompetenzen hat, forderte höhere Löhne in Europa im Rahmen der „Pay Rise“ Kampagne, die aber sang und klanglos verschwand, ohne das ständige Wachstum des Niedriglohnsektors, ausgehend von Deutschland, zu thematisieren. Man hatte den Eindruck, die Nichterwähnung des Begriffs Niedriglohnsektor war vorgegeben, damit er nicht in den Begründungen für überfällige Lohnsteigerungen im Zusammenhang mit Deutschland auftauchen sollte. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass der heutige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, damals Vize-Generalsekretär des EGB, aktiv an der Gestaltung des deutschen Niedriglohnsektors beteiligt war. Der EGB beklagt, es seien Politiker, Ökonomen und Unternehmen gewesen, die ausschließlich auf Export ausgerichteten Wirtschaftsmodells mit eingebautem Niedriglohnsektor favorisierten und installierten, ohne die tragende Rolle der Gewerkschaft dabei auch nur leise zu erwähnen. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Während früher die südländischen Gewerkschaften in der EU eine Binnenkonjunkturstrategie favorisierten, sind heute wohl alle europäischen Gewerkschaften Anhänger der Exportstrategie. Die Gewerkschaften oder auch die linken Parteien in der EU müssen Druck aufbauen und die Konzerne verpflichten, durch ihre Löhne das Lohnniveau in den neuen Mitgliedsstaaten zu heben…“ Beitrag vom 9. November 2021 beim Gewerkschaftsforum - Höhere Löhne und einheitlicher Mindestlohn in der EU oder Extraprofite für transnationale Konzerne durch grenzüberschreitendes Lohndumping „… Im Herbst 2020 schlug die EU-Kommission eine „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ (MiLoRL) vor, die Maßstäbe für die Festsetzung von gesetzlichen Mindestlöhnen in den Mitgliedsstaaten klar- und sicherstellen soll. Sie will einen europaweiten Rechtsrahmen für angemessene Mindestlöhne schaffen, ohne dass den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen wird, den gesetzlichen Mindestlohn festzulegen. In Deutschland hatten sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag auf die Einführung der Mindestlohnregelung auf der EU-Ebene geeinigt, doch gibt es derzeit Streit über die Umsetzung. Vor allem blockiert das Bundeswirtschaftsministerium das Vorhaben, weil der deutsche Niedriglohnsektor den Unternehmen auch in der EU große Konkurrenzvorteile bietet und man wartet wahrscheinlich erst einmal die Bundestagswahl ab. Flankierend dazu hat nun auch der EU-Ministerrat das Vorhaben auf das zweite Halbjahr 2021 verschoben. Dabei ist das Thema mehr als überfällig. (…) Die Wirtschaftsentwicklung in den osteuropäischen Ländern hat nicht nur unter der Abwanderung der Arbeitskräfte erheblich gelitten, sondern auch darunter, dass die Gewinne in osteuropäischen Betrieben in die Konzernzentralen Westeuropas abfließen – mittlerweile gehört mehr als die Hälfte der produzierenden Betriebe in Osteuropa Eigentümern aus dem Ausland. Die kargen Löhne verbleiben im Land. (…) Trotz der aktuellen Erhöhungen ist der Mindestlohn in den meisten Ländern aber noch ein erhebliches Stück vom anvisierten 60-Prozent-Ziel entfernt. Das gilt auch für Deutschland, ein Land in dem der Mindestlohn aktuell nicht einmal die Hälfte des Medianlohns erreicht. Bei 60 Prozent müsste der deutsche Mindestlohn auf annähernd 12,80 Euro angehoben werden. (…) Bemühungen, um mehr Gleichheit in Europa zu erreichen, sind derzeit nicht zu sehen, obwohl die Auswirkungen der enormen Einkommensunterschiede in der EU an jeder Stelle ins Auge stechen. Die internationalen Konzerne, die die Träger der Anpassung der Löhne in Osteuropa sein müssten und für Lohnerhöhungen sorgen könnten, sehen ohne starken Druck es nicht ein, überhaupt einen Beitrag zu einem einheitlichen Europa zu leisten. Die unterschiedlichen Löhne bescheren ihnen ja den Extraprofit. Und so soll und wird es wohl bleiben.“ Beitrag vom 5. Juli 2021 vom und beim gewerkschaftsforum.de
- EU-Politiker wollen Gewerkschaften mehr Macht geben: Höhere Mindestlöhne, Tarifverträge für deutlich mehr Bürger
„… Der Vorstoß wird Gewerkschaften erfreuen und Arbeitgeberverbände erzürnen. Das Europaparlament debattiert demnächst über den Richtlinienentwurf zu Mindestlöhnen und Tarifbindung, den die EU-Kommission im Herbst präsentiert hat. Zwei Parlamentarier sind als sogenannte Berichterstatter zuständig für den Rechtsakt: die niederländische Sozialdemokratin Agnes Jongerius und der CDU-Abgeordnete Dennis Radtke, der sozialpolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion. Das Duo hat sich bereits auf diverse Änderungsvorschläge für das EU-Gesetz geeinigt – und die sind brisant. Der Süddeutschen Zeitung liegt der 41-seitige Entwurf der beiden mit allen Änderungen vor. Die Politiker wollen die ohnehin umstrittene Richtlinie demnach deutlich verschärfen. Ein wichtiges Anliegen ist ihnen, dass viel mehr Europäer von Tarifverträgen geschützt werden. Regierungen soll es verboten werden, gewerkschaftsfeindliche Gesetze zu erlassen; im Gegenteil sollen die Hauptstädte Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung aufstellen, also des Anteils der Arbeitnehmer, deren Betrieb von Gehaltstarifverträgen erfasst wird. Solche Pläne sollen alle EU-Länder mit einer Tarifbindung von unter 90 Prozent verabschieden, fordern die zwei Abgeordneten. Der Kommission schwebte in ihrem Vorschlag nur 70 Prozent als Richtwert vor. 90 Prozent erreichen bislang bloß fünf EU-Staaten: Österreich, Frankreich, Belgien, Finnland und Schweden – alle anderen müssten darauf hinarbeiten, etwa Deutschland, wo der Satz bei 51 Prozent liegt. (…) Im September soll der zuständige Ausschuss über die Richtlinie und die diversen Anpassungen abstimmen, im Oktober das Plenum des Parlaments…“ Artikel von Björn Finke vom 12. April 2021 in der Süddeutschen Zeitung online , siehe deren Bericht - DGB: Gutachten zur EU-Mindestlohnrichtlinie
„Die EU-Kommission hat im Oktober 2020 eine „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ (MiLoRL) vorgeschlagen. Diese soll die Maßstäbe für die Festsetzung von gesetzlichen Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten klar- und sicherstellen. Ein Gutachten im Auftrag des DGB analysiert das Vorhaben. (…) Als geeignete Rechtsgrundlage sieht die Kommission Art. 153 I lit. b) AEUV an, da es dieser der EU erlaubt, bezüglich der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedsstaaten unterstützend und ergänzend tätig zu werden. Unter Verweis auf Art. 153 V AEUV, der die direkte Lohnfestsetzung dezidiert aus dem Kompetenzbereich der EU ausnimmt, behaupten Kritiker*innen jedoch, dass die MiLoRL nicht mit den Europäischen Verträgen vereinbar sei. Das vorliegende Gutachten will daher die Frage beantworten, ob eine hinreichende Grundlage für die MiLoRL im EU-Primärrecht besteht. (…) Art. 153 V AEUV untersagt die direkte Lohnfestsetzung durch die EU. Dieses Verbot gilt jedoch nur für Bestimmungen, die das Arbeitsentgelt unmittelbar festlegen, nicht jedoch für solche, die auf das Entgelt nur mittelbar einwirken. Regelungen, die den Lohn nur in einzelnen Aspekten gestalten, sind somit dem EU-Gesetzgeber nicht verwehrt. Im Gegenteil: Art. 145-150 AEUV sehen eine koordinierte Beschäftigungspolitik vor, räumen also der EU die Kompetenz für die Festlegung einer Beschäftigungsstrategie ein. Diese Regeln legitimieren zwar nicht die Harmonisierung von Rechtsnormen. Das ist jedoch auch nicht das Vorhaben der Europäischen Kommission: Mit der MiLoRL will sie einen Rahmen schaffen, der die Mindestlöhne, gemessen an den jeweiligen Median- und Durchschnittslöhnen in den Mitgliedstaaten, auf ein existenzsicherndes Niveau bringt. Die Wirkung der Richtlinie ist damit lediglich mittelbar, da sie das Arbeitsentgelt nur in einer bestimmten Hinsicht (nämlich der Lohnuntergrenze) betrifft. (…) Gegen die MiLoRL auf Grundlage von Art. 153 I lit. b) AEUV bestehen daher keine primärrechtlichen Bedenken. Sie bekämpft soziale Ausgrenzungen, fördert und sichert existenzsichernde Löhne, wirkt der Diskriminierung prekär beschäftigter Gruppen entgegen, fördert die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern (Art. 157 I AEUV) und gleicht die nach wie vor beträchtlichen Unterschiede im Lohnniveau im Binnenmarkt an.“ DGB-Mitteilung vom 7. April 2021 mit Links zu Kurz- und zur Langfassung des Rechtsgutachtens zur Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer (Friedrich-Schiller-Universität Jena, i.R.) - Vorschlag für “angemessene Mindestlöhne” der EU-Kommission und dessen unterschiedliche Bewertungen
- EU-Kommission spült Mindestlohn weich
„In der EU gibt es immer mehr “Working Poor”, selbst der deutsche Mindestlohn schützt nicht vor Armut. Nun hat die EU-Kommission einen Vorschlag für “angemessene Mindestlöhne” vorgelegt – doch er wird die Misere nicht beheben. Der Vorschlag, den Kommissionschefin von der Leyen mit viel Tamtam angekündigt hatte, ist auf Druck der Arbeitgeber, aber auch von Ländern wie Deutschland und Schweden, entkernt und weichgespült worden. Die Brüsseler Behörde verzichtet nicht nur – wie zu erwarten war – auf einen einheitlichen, EU-weiten Mindestlohn. Damit kommt sie vor allem Schweden entgegen, wo die Löhne noch überwiegend in Tarifverträgen festgelegt werden. Sie wagt es auch nicht, eine verbindliche Schwelle für faire Mindesttarife zu setzen, etwa den in Fachkreisen diskutierten Wert von 60 Prozent des Medianlohns. Damit nimmt sie auf Deutschland Rücksicht, wo dieser Wert deutlich verfehlt wird. Was übrig bleibt, sind neue Kriterien, an denen sich Tarif- oder Mindestlöhne messen lassen sollen. Doch selbst da wagt die Kommission keinen EU-weiten Ansatz. Von den sechs Vorschlägen gelten nur vier für alle 27 Mitgliedsländer. Für Schweden und andere Länder, die auf Tarifverträge setzen, gelten andere Empfehlungen als für Deutschland und all jene, die Mindestlöhne haben. Es handelt sich also um Empfehlungen à la carte, nicht um EU-weite Regeln. (…) Immerhin würden diese Empfehlungen darauf hinauslaufen, dass Deutschland seinen Mindestlohn heraufsetzen muß, wie ein Kommissionsexperte sagte. Nun bin ich gespannt auf die Reaktion des deutschen EU-Vorsitzes…“ Beitrag vom 28. Oktober 2020 von und bei Lost in Europe - [DGB] Brauchen Dynamik bei Mindestlöhnen in Europa
„Die EU-Kommission hat heute eine Richtlinie zu Mindestlöhnen in Europa vorgelegt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßte den Vorstoß in einer ersten Reaktion grundsätzlich. DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell sagte am Mittwoch in Berlin: „Mit dieser Richtlinie ist das Thema Gute Arbeit endlich auf EU-Ebene angekommen. Sie ist ein weiterer Schritt in Richtung eines sozialen Europas, denn insbesondere die Bedeutung der Tarifverträge für gute Löhne und Arbeitsbedingungen wird damit durch die EU-Kommission anerkannt. Künftig sollen Staaten, in denen weniger als 70 Prozent der Beschäftigten unter den Schutz von Tarifverträgen fallen, einen Aktionsplan zur Förderung der Tarifbindung vorlegen. Damit kann keine europäische Regierung das Problem der abnehmenden Tarifbindung weiter ignorieren. Der DGB fordert seit langem auch für Deutschland konkrete Schritte, damit wieder mehr Beschäftigte von Tarifverträgen profitieren. Es muss einfacher werden, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären, damit sie für alle Unternehmen einer Branche gelten. Außerdem sollte die öffentliche Hand Aufträge nur an Unternehmen vergeben, die Tarifverträge anwenden – die jetzt vorgelegte Richtlinie wird dies befördern, allerdings nur für die Bezahlung und nicht für weitere tarifliche Regelungen, etwa zum Urlaub und zur Arbeitszeit. Sie schreibt den Mitgliedsstaaten lediglich vor, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Entlohnung nach Tarif gekoppelt ist. (…) Der DGB wird die Richtlinie in den kommenden Wochen genau auf ihre Effektivität prüfen und den weiteren Prozess zusammen mit den Gewerkschaften der EU-Staaten eng begleiten. Wir brauchen Dynamik bei den Mindestlöhnen in Europa und in Deutschland, wo der gesetzliche Mindestlohn schnell auf 12 Euro steigen muss.““ DGB-PM vom 28.10.2020 , ähnlich ver.di: - ver.di begrüßt Vorlegen eines Rechtsrahmens für Mindestlöhne in Europa durch die EU-Kommission
„Zur heutigen Vorlage eines Rechtsrahmens für Mindestlöhne in Europa durch die EU-Kommission erklärt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke: „Wir begrüßen, dass die EU-Kommission einen Rechtsrahmen für gesetzliche Mindestlöhne in Europa vorgelegt hat. Er zeigt auf, dass es auch in Deutschland dringenden Handlungsbedarf dazu gibt, die Tarifbindung zu stärken und den gesetzlichen Mindestlohn zu erhöhen. Der derzeitige gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist deutlich zu niedrig, er muss auf über 12 Euro pro Stunde erhöht werden.“ PM vom 28.10.2020 - EU-Richtlinie soll angemessene Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten sicherstellen
„Die Kommission hat heute (Mittwoch) eine EU-Richtlinie vorgeschlagen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch angemessene Mindestlöhne schützen und ihnen am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen soll. Mindestlöhne in angemessener Höhe haben nicht nur eine positive soziale Wirkung. Sie bringen auch umfassende wirtschaftliche Vorteile mit sich, da sie die Lohnungleichheit verringern, zur Stützung der Binnennachfrage beitragen und die Arbeitsanreize stärken. Angemessene Mindestlöhne können auch das geschlechtsspezifische Lohngefälle verringern, da mehr Frauen als Männer einen Mindestlohn erhalten. Durch die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs würde die vorgeschlagene Richtlinie außerdem jene Arbeitgeber schützen, die angemessene Löhne zahlen…“ EU-Meldung vom 28.10.2020 zum Vorschlag der Kommission für eine EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU
- EU-Kommission spült Mindestlohn weich
- Existenzsichernde 60 Prozent. Laut einer EU-Studie liegt der Mindestlohn nur in zwei Staaten über Armutsniveau
„Es wird gestritten um den Mindestlohn – nicht nur hierzulande, sondern fast überall in Europa. In Großbritannien, Frankreich, Spanien, Bulgarien, Kroatien und Polen zum Beispiel fordern Gewerkschaften die Anhebung der Lohnuntergrenze um zehn bis 30 Prozent, in Italien und Zypern wird ihre gesetzliche Einführung diskutiert. »Allen Mindestlohninitiativen der Gewerkschaften geht es im Kern darum, die bestehenden Mindestlöhne auf ein armutsfestes und existenzsicherndes Niveau anzuheben«, heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Studie, die die beiden Mindestlohnexperten Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) und Torsten Müller vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) im Auftrag der Linkspartei im Europaparlament erstellten. All diese nationalen Kämpfe führten dazu, dass sich nun auch auf europäischer Ebene über den Mindestlohn unterhalten wird. Nach Angaben der Herausgeberin der Studie, der Linkspartei-Europaabgeordneten Özlem Alev Demirel, zeigt die Arbeit von Schulten und Müller, wie drängend das Problem von »Armut trotz Arbeit« in der EU sei. Schon jetzt lebten EU-weit 20,5 Millionen Beschäftigte in einem von Armut bedrohten Haushalt. Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise drohe diese Zahl sogar noch weiter zuzunehmen. Ziel einer EU-Initiative müsse sein, »alle Mindestlöhne auf ein Niveau oberhalb der relativen Armutsschwelle von 60 Prozent des nationalen Brutto-Medianlohns anzuheben«, so Demirel. (…) Notwendig dafür sind natürlich starke Gewerkschaften. »Die meisten Länder mit sektoralen Mindestlohnregimen verfügen über ein umfassendes Tarifvertragssystem und eine sehr hohe Tarifbindung zwischen 80 und 90 Prozent der Beschäftigten«, heißt es in der Studie. In Deutschland etwa sind es nur noch 54 Prozent. Es sei »die Aufgabe der Gewerkschaften, durch Interessensvertretung und Organisation Lohnabhängiger in Arbeitskämpfen gute Tarifverträge durchzusetzen«, schreibt denn auch Demirel. »Doch durch die Liberalisierung des Binnenmarktes, steigende Konkurrenz und hegemoniale neoliberale Politik wurden die Voraussetzungen hierfür immer schwieriger.«“ Beitrag von Simon Poelchau bei neues Deutschland vom 30. Juni 2020 - Paradigmenwechsel? Debatte um gerechten Mindestlohn für jeden EU-Bürger
„In Deutschland verdient ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der zum Mindestlohn bezahlt wird, brutto 1.557 Euro. In Bulgarien betrug der Mindestlohn auf den Monat gesehen 286 Euro. Eine Initiative der EU-Kommission verspricht mehr Gerechtigkeit. (…) Niemand strebt derzeit einen EU-Mindestlohn, also gleiches Geld für Arbeitnehmer in den EU-Staaten an. (…) Nicht einmal ein einheitlicher Mechanismus zur Etablierung von Mindestlöhnen ist geplant. Klar ist ferner, dass die Kommission „nationale Traditionen“ und die Tarifautonomie nicht antasten will. In ihrem Konsultationspapier steckt die EU-Kommission erst einmal das Feld ab. So stellt sie etwa fest, dass in manchen Mitgliedstaaten die Anpassung bestehender Mindestlöhne gesetzlich kaum geregelt und schwer vorhersehbar sei. Vor diesem Hintergrund will die Behörde sondieren, ob und welche Aktivitäten der EU sich die Sozialpartner vorstellen können. Daraufhin würde gegebenenfalls eine zweite Konsultation Meinungen zum möglichen Inhalt eines EU-Vorschlags einholen. (…) So viel Zurückhaltung hat einen Grund: Es ist Artikel 153 des Lissabon-Vertrages. Er ist ein scharfes Schwert der Gegner einer EU-Regelung, darunter die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Sie erklärte schon im Sommer 2019, dass der Lissabon-Vertrag „ausdrücklich eine EU-Zuständigkeit für Lohnfragen“ ausschließe. Tatsächlich regelt Artikel 153 das Tätigwerden der EU-Ebene bei der Unterstützung und Ergänzung nationaler Sozialpolitik. Doch das, so der Vertragsartikel in Absatz 5, „gilt nicht für das Arbeitsentgelt“. Den Artikel kann man allerdings auch anders lesen, entgegnet Thorsten Schulten. „Man muss ihn insbesondere ins Verhältnis zur EU-Grundrechtecharta setzen“, erklärt der Professor an der Universität Tübingen. „Und die Grundrechtecharta bestimmt rechtsverbindlich angemessene Arbeitsbedingungen, zu denen das Lohnniveau gehört“, erläutert Schulten, der auch das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung leitet, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehört. „Außerdem will die Kommission ihre aktuelle Initiative auf Artikel 153, Absatz 1 stützen, die ihr die Möglichkeit gibt, die Tätigkeit der Mitgliedsstaaten auch auf dem Gebiet der ‚Arbeitsbedingungen‘ zu unterstützen.“ (…) Je nachdem, ob und für welche Mindestlohn-Strategie sich von der Leyen und ihre Kommissare entscheiden, sind sie auf die EU-Mitgliedsländer und das Europaparlament angewiesen. Dort gehen die Ansichten auseinander…“ Beitrag von Phillipp Saure vom 11. Februar 2020 bei MiGAZIN - EU will einheitliche Regeln für Mindestlöhne – die meisten Gewerkschaften in Europa sind dafür
„Die EU-Kommission erwägt neue Regeln für Mindestlöhne: Eine Möglichkeit wäre, dass dieser 60 Prozent des Medianeinkommens eines Landes betragen muss. Das könnte dazu führen, dass die Lohnuntergrenze in einigen Staaten steigen muss – auch in Deutschland. Alle Probleme löst das freilich nicht: Luxemburg hat den höchsten Mindestlohn der EU, verfehlt aber die 60-Prozent-Marke. Bulgarien erreicht sie trotz niedrigsten Mindestlohns – über die Runden kommen viele Menschen trotzdem nicht. (…) Zuständig ist Nicolas Schmit, der in seiner Heimat Luxemburg lange Arbeitsminister war und jetzt Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte ist. Kürzlich war der Sozialdemokrat für politische Gespräche in Berlin, und nicht alle Gesprächspartner dürften begeistert gewesen sein von seinen Plänen. (…) Die enorme Divergenz bei den Löhnen sei ein Problem in Europa, findet Schmit. Weil die Unterschiede bei den Löhnen größer seien als bei der Produktivität, schlägt er vor, auch die Produktivität eines Landes zum Kriterium für die Mindestlohnhöhe zu machen. Die Löhne sollten schließlich an die Produktivität gekoppelt sein. (…) Das Argument, er nehme Niedriglohnländern ihren Wettbewerbsvorteil, lässt Schmit nicht gelten. Kurzfristig seien niedrige Löhne vielleicht ein Vorteil, langfristig seien sie ein Innovationshemmnis. „Die Unternehmen sagen: Arbeit kostet nichts, warum soll ich viel in Innovation investieren?“ Hinzu komme die Abwanderung junger Menschen in Staaten mit besseren Verdienstmöglichkeiten. „Wir müssen die Löhne in vielen Ländern Europas auf ein höheres Niveau bringen.“ Deutschland allerdings stehe derzeit nicht im Vordergrund – sagt Schmit. Mitte Januar eröffnete die Kommission eine mehrwöchige Beratung mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – der erste Schritt im Gesetzgebungsverfahren. Die meisten Gewerkschaften in Europa sind für EU-Regeln…“ Artikel von Björn Finke und Henrike Roßbach vom 28. Januar 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online - EU-Kommission prüft Einführung eines europäischen Mindestlohns
„Die Arbeitgeber laufen Sturm gegen dieses Vorhaben: Brüssel denkt über eine Untergrenze für die Bezahlung der Arbeitnehmer nach. (…) Sozialkommissar Nicolas Schmit denkt darüber nach, erstmals eine europäische Lohnuntergrenze festzulegen. „Ein EU-Rechtsrahmen für Mindestlöhne kann helfen, Ungleichheiten zu bekämpfen und einen zerstörerischen Wettlauf nach unten bei den Arbeitskosten zu vermeiden“, sagte Schmit dem Handelsblatt. Der Luxemburger folgt damit einem Auftrag der neuen EU-Kommissionspräsidentin. Ursula von der Leyen hatte bereits in ihrer Bewerbungsrede im Sommer eine europäische Regelung zum Mindestlohn angekündigt. Die Christdemokratin hatte auf diese Weise die Sozialisten im Europaparlament umworben, deren Stimmen sie für ihre Wahl an die Spitze der wichtigsten EU-Institution benötigte. Bei von der Leyens eigenen Parteifreunden kommt die Idee weniger gut an. „Ich bin kein Freund eines europäischen Mindestlohns und kann keinen Sinn darin erkennen“, beschwert sich Europaparlamentarier Markus Ferber (CSU). EU-Kommissar Schmit treibt das Vorhaben gleichwohl voran. Am kommenden Dienstag startet der Sozialdemokrat eine Konsultation bei den Sozialpartnern: Arbeitgeber und Gewerkschaften sollen Position zu einem europäischen Mindestlohn beziehen. Nach Abschluss des rund dreimonatigen Konsultationsverfahrens könnte dann im Sommer ein EU-Richtlinienentwurf zum Mindestlohn folgen. (…) Ein Einheitslohn für alle sei natürlich nicht geplant, wird in Kommissionskreisen betont. Vielmehr denkt Schmit daran, relativ zum Durchschnittslohn des jeweiligen Landes eine prozentuale Untergrenze festzulegen. Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Grüne gehen davon aus, dass diese Untergrenze bei 60 Prozent des Medianlohns, also des mittleren Einkommens, liegen müsste, um das Existenzminimum abzudecken…“ Beitrag von Ruth Berschens vom 12. Januar 2020 beim Handelsblatt online