Elefant im Seminarraum – Zur Aktualität kritisch-emanzipatorischer gewerkschaftlicher Bildung
Artikel von Julika Bürgin*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 09/2014
Am 3./4. September fand in Hattingen unter dem Titel »Alte Fundamente und neue Orientierungen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit« eine Tagung statt zu Ehren von Hinrich Oetjen, dem langjährigen Leiter des Hattinger DGB-Bildungszentrums. Eingeladen als Referenten waren neben alten Mitstreitern wie Oskar Negt und Ulrich Mückenberger – viele davon ehemalige express-Autoren und Mitstreiter in der Debatte um eine emanzipatorische Bildungsarbeit – auch junge Kolleginnen wie die Bildungswissenschaftlerin Julika Bürgin, deren Referat wir hier in geringfügig überarbeiteter Fassung dokumentieren. (S. auch: Tagungsblog unter http://blog.forum-politische-bildung.de )
Als das DGB-Bildungswerk vor 40 Jahren gegründet wurde, hatten die Diskussionen um gewerkschaftliche Bildungsarbeit eine andere Prägung als heute. Es war die Vorstellung, mit gewerkschaftlicher Bildung die Gesellschaft verändern zu können – die auch mich zum ehrenamtlichen, später hauptberuflichen Engagement motiviert hat. Mit Blick auf die politisch umkämpfte Phase der 1960er und 1970er Jahre bin ich »Nachgeborene«. Dennoch spielten die Kontroversen um die »richtigen« Ansätze auch Ende der 1980er Jahre noch eine Rolle. Es ging um grundlegende Fragen zur Zukunftsgestaltung. Wir dachten, dass gewerkschaftliche Bildung einen entscheidenden Anteil daran haben könnte, die Verhältnisse nicht nur anders zu denken, sondern auch anders zu machen. Entsprechend ernst waren die Debatten über Konzepte, die in den 1990er Jahren verebbten. Ich wünsche mir nicht jede Kontroverse, aber doch die Debatten zurück, in denen es um etwas ging.
Nun bin ich nicht nur Bildungspraktikerin, sondern auch Wissenschaftlerin, und als Letztere muss ich mich korrigieren: Wir hatten es mit einer historischen Ausnahmesituation zu tun, deren Nachhall ich noch erlebte. Die Konzepte der 1960er Jahre gingen in einer besonderen Situation davon aus, dass die Gewerkschaften zu einer Kraft werden könnten, die die Gesellschaft grundsätzlich reformiert oder sogar revolutioniert. Und hiervon geht heute eben niemand mehr aus, schon gar nicht die Gewerkschaften selbst.
So könnte auch der Abgesang auf eine kritische oder emanzipatorische gewerkschaftliche Bildung eingeleitet werden, wie er in der Bildungswissenschaft vorherrscht. Ich möchte das Gegenteil tun, nämlich: die Aktualität kritischer und emanzipatorischer gewerkschaftlicher Bildung begründen.
Welche Erfahrungen machen Arbeitende heute?
Bevor wir konzeptionelle Ansprüche an gewerkschaftliche Bildung diskutieren, müssten wir eigentlich die gegenwärtigen Verhältnisse von Arbeit und Gesellschaft gründlich analysieren. Für eine solche Zeitdiagnose fehlt uns die Zeit – übrigens zunehmend in allen Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, deren Outputsteuerung kaum noch Zeit zum Denken lässt. Ich möchte aber einige Merkmale herausstellen, und zwar unter der für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit relevanten Fragestellung: »Welche Erfahrungen machen Arbeitende heute?«
- Zunächst: Wer sind diese »Arbeitenden« überhaupt? Wenn wir hinsehen, finden wir befristet Beschäftigte, Projektbeschäftigte, Leiharbeitnehmer, Beschäftigte in Sub- und Werkvertragsunternehmen. Zu den »Lohnabhängigen« in äußerst unterschiedlicher Sicherheit oder Prekarität kommt die neue Gruppe der Solo-Selbständigen. Der selbstständige Bauarbeiter oder die Honorarkraft in der Weiterbildung gehören zu den verwundbarsten Gruppen von Arbeitenden, sowohl in der analogen Arbeitswelt als auch in der digitalen Arbeitswelt der Clickworker und des Crowdsourcings. Sie werden auch vom neuen Mindestlohngesetz nicht erfasst werden.
- Die Arbeitenden erfahren, wie sich die Organisation der Arbeit ›verflüssigt‹ – die Firma IBM nennt ihr aktuelles Restrukturierungsprogramm bezeichnenderweise »Liquid«. Sie erfahren kaum, wie die eigene Organisierung mit der großen Reorganisation der Arbeit Schritt halten könnte.
- Die einen erfahren, dass es um Leistung geht: »Tut was Ihr wollt, aber seid erfolgreich« ist das Motto im sog. High Performance Management. Sie erfahren gleichzeitig, dass weder sie selbst noch ihre Betriebsräte und Gewerkschaften über die Parameter der Erfolgsbemessung verfügen. Viel ist Glück – ob sie etwa den Sechser im Lotto ziehen und zur Kernbelegschaft in der exportorientierten deutschen Wirtschaft gehören. Die anderen erfahren, dass es gleichgültig ist, wie viel sie leisten. Die Erzieherin in einer Kita und der Altenpfleger können alles tun, was in Sonntagsreden gefordert wird – und selbst wenn sie sich engagieren, wenn sie streiken, verbessert sich sogar da, wo händeringend Fachkräfte gesucht werden, nichts Wesentliches an den Arbeitsbedingungen. Die deutsche Exportlokomotive ruiniert nicht nur Arbeitsmärkte jenseits der Grenzen, sondern sie hat auch ihre Waggons längst abgekoppelt.
- Viele erfahren Ohnmacht. In der Wirtschaftskrise der Jahre 2008 ff. stellten Forscher vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München fest, dass kaum Widerstands- und Protestperspektiven auf Betriebsebene entwickelt wurden. Es fehlten die Perspektiven hinsichtlich Handlungsmöglichkeiten und Alternativen. »Die Ohnmachtserfahrung im Betrieb schlägt um in eine Art ›adressatenlose Wut‹, die vom Betrieb auf Gesellschaft und auf Staat und Politik verschoben wird.« (Menz u.a. 2013, S. 21)
Was bringt es also, in dieser ›großen postfordistischen Krise‹, die auch eine Krise der Gewerkschaften ist, die eigenen Erfahrungen in einen Kontext einordnen zu können? Was nutzt heute noch »ein Verständnis des Ganzen« (Negt 1978)?
Aktualität kritisch-emanzipatorischer Bildung
Der verstorbene Arbeiterbildungsforscher Paul Röhrig resümiert im Jahr 1996: »Die geistigen und politischen Schlachten zur Arbeiterbildung sind geschlagen, die Akten gleichsam geschlossen und den Archiven zur historischen Erforschung übergeben.« (1996, S. 54) Dabei habe sich die Arbeiterbildung nicht dank ihres eigenen Erfolges überlebt: »Solcher Stolz will sich nicht recht einstellen, denn es scheint, dass das, was der junge Marx als die Selbstentfremdung des Proletariats und Engels als die Verelendung der arbeitenden Klasse darstellten, weltweit in neuer und anderer Form wiederkehrt.« (ebd.)
Noch unerfüllt ist »menschliche Emanzipation« (Karl Marx), in der der Mensch nicht auf einen politisch freien Staats- und Wettbewerbsbürger reduziert ist, sondern in freier Assoziation die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten und Individualität entfalten kann.
Gegenwärtig klafft eine große Kluft zwischen Veränderungsbedarf und absehbaren Veränderungsmöglichkeiten. Die Gewerkschaften sind hiervon besonders betroffen. Wir haben es mit einer umfassenden Krise der Gewerkschaften zu tun. Lieber wird über »Revitalisierung« oder »Renewal« gesprochen, aber der Elefant steht in jedem gewerkschaftlichen Seminarraum (vgl. Bürgin 2013). Und zwar nicht nur als Problem der gewerkschaftlichen Praxis, sondern auch als Problem der Bildungskonzeption, denn: Mit der Krise der Gewerkschaften ist auch die Handlungsorientierung als Kerngedanke der gewerkschaftlichen Bildung ins Mark getroffen. Dies ist der neuralgische Befund für jegliche Versuche, gewerkschaftliche Bildung als emanzipatorische zu aktualisieren.
Bildung als befreiende »Verarbeitung«
Mir hat der kritische Bildungstheoretiker Heinz-Joachim Heydorn weitergeholfen. Sein letzter Aufsatz trägt den Titel »Überleben durch Bildung. Umriss einer Aussicht« (2004). Er schrieb den Text 1974, in einer politischen Reformphase, die mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht viel zu tun zu haben scheint. Heydorn schätzte die Verhältnisse der Gesellschaft wie der Bildung allerdings überaus skeptisch ein: Er diagnostizierte eine Revolutionierung der Produktivkräfte und gleichzeitig eine auch psychische Verelendung der Gesellschaft und ihres menschlichen Gehaltes; Überfluss bei gleichzeitigem Hunger; eine Unfähigkeit, die Ressourcen und technischen Möglichkeiten für ein humanes Leben zu nutzen. Gerade aus diesem Widerspruch ergab sich für ihn jedoch die Bedeutung von Bildung.
Bildung überwindet den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Realität und Möglichkeit nicht, sondern Bildung verarbeitet ihn. Das Wissen um uneingelöste Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung löst den Widerspruch nicht auf, denn das »objektive Vorhandensein einer Möglichkeit ist (…) so lange irrelevant, wie der Mensch sie nicht fassen kann, ihm sein eigenes Menschentum versperrt bleibt« (ebd., S. 259).
So verstandene Bildung ist kein Hebel für eine Veränderung der Verhältnisse, sondern »fortschreitende Befreiung des Menschen zu sich selbst« (ebd.). Befreiung des Menschen zu sich selbst ist hier aber eben nicht – wie im deutschen Bildungsidealismus – als rein innerlicher Prozess gemeint. Im Gegenteil: Es stellt sich »die Frage nach neuen Formen der Auseinandersetzung, die den Bedingungen angemessen sind.« (Ebd., S. 265)
Konkret: Wenn »Betriebskooperation« und »Rätedemokratie« nicht mehr den Bedingungen angemessen anmuten – wie müssten sich denn die Produzentinnen und Produzenten assoziieren?
Bildung ohne konkrete Utopie als Raum für Utopiebildung
Es gibt derzeit keine »konkreten Utopien« für andere Verhältnisse – verstanden als »reale Möglichkeit« einer konkreten utopischen Praxis (Ernst Bloch). Gewerkschaftliche Bildung kann sich gegenwärtig nicht auf emanzipatorische Bewegungen beziehen, die durch konkrete Utopien getragen werden – dies ist ein fundamentaler Unterschied zu den 1960er/70er Jahren.
Dabei sind nicht nur gesellschaftsrevolutionierende Perspektiven abhanden gekommen. Getroffen ist auch der pragmatische Kern gewerkschaftlicher Bildung, die Erfolg versprechende Orientierung auf eine spürbare Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen.
In gewerkschaftlichen Seminaren können Menschen verarbeiten, dass trotz einer Revolutionierung der Produktivkräfte, trotz immensem Zuwachs an gesellschaftlichem Reichtum die Verhältnisse (der Arbeit) gegenwärtig weder menschlich noch selbstbestimmt gestaltet werden können. Sie können die Krise der gewerkschaftlichen Handlungsmacht verarbeiten, die keine konjunkturelle ist. Sie können so auch ihre eigenen Handlungskrisen einordnen und Handlungsmöglichkeiten neu ausloten.
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit wird also gegenwärtig nicht von konkreten Utopien getragen, aber sie kann Raum für Utopiebildung sein. Indem sie den Widerspruch zwischen bestehenden Verhältnissen und menschlichen Bedürfnissen zum Gegenstand macht, kann denkbar werden, wofür es noch keinen Ort gibt.
Kritische SozialwissenschaftlerInnen sind der Auffassung, dass »›das Politische‹ – das heißt die Frage der Gestaltung politischer und sozialer Zusammenhänge – (…) angesichts der fortgeschrittenen Liberalisierungs- und Kapitalisierungsprozesse seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ganz grundsätzlich neu relevant« wird (Kessl 2008, S. 101). Wenn Fabian Kessl fordert, dass politische Bildung »Bildungsräume zur Auseinandersetzung um die zukünftige Gestaltung und Regulierung sozialer Zusammenhänge bereitstellen« soll (ebd.), dann können sich die Gewerkschaften ganz besonders unterstützt fühlen, denn im Feld der außerschulischen Bildung sind sie es, die sich diesen Fragen mit breiter Verankerung und ohne bildungsbürgerliche Schlagseite widmen. Sie sind aber nicht nur als großer Bildungsträger, sondern auch als Großorganisation angesprochen, die Bildungsräume zur zukünftigen Gestaltung ihrer eigenen Politik benötigt. Wenn die Gewerkschaften ihre Seminare für Krisenreflexionen öffnen, können sie ein bedeutender Raum für die gewerkschaftliche Suchbewegung nach der eigenen Zukunft sein. Und aktive Gewerkschaftsmitglieder reklamieren auch eine entsprechende organisationspolitische Einbettung der Bildungsarbeit (Bürgin 2012, S. 222-224).
»Anspruchsskizze« kritisch-emanzipatorischer gewerkschaftlicher Bildung
Die gewerkschaftliche Krise ist also nicht automatisch eine Krise ihrer Bildungsarbeit – vorausgesetzt, die Organisation gesteht den Freiraum und die kritische Distanz zur Alltagspraxis zu. Unter erschwerten strukturellen und individuellen Bedingungen wird gewerkschaftliche Bildung sogar bedeutsamer: als Aufklärung über die neuen Verhältnisse und über die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Im Folgenden stelle ich drei konzeptionelle Perspektiven vor. Sie sind spezifisch für die gewerkschaftliche Bildung – dessen ungeachtet gibt es natürlich allgemeine inhaltliche und methodische Prinzipien emanzipatorischer Bildung, die auch für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit relevant sind.
Arbeitspolitische Bildung für mündiges Arbeiten
Mündigkeit ist »Distanz zur Welt, wie sie ist« (Koneffke 2006, S. 33). Sie ist »Einsicht in den Widerspruch, dem man nicht nur unterliegt, sondern der man ist« (ebd., S. 38f.).
Die neue Organisation der Arbeit bringt mehr Selbständigkeit, aber nicht mehr Autonomie – d.h. Selbstgesetzgebung – für die Beschäftigten hervor. Beschäftigte müssen selbstständig tun, was zu tun ist. Unter derartigen Bedingungen sah Gernot Koneffke die Zuständigkeiten materialistischer Pädagogik in einer »Öffnung des Bewusstseins für den Betrug an der Selbstverfügung, den die unentwegt angepasste Selbstunterwerfung unter heteronome Zwecke bedeutet, für die Möglichkeiten, die in der eigenen Mündigkeit bereitliegen, eine bedachtsame Umkehrung der Paralyse in eine Reizung des Sensoriums gegen sie« (2006, S. 39f.).
›Distanz zur Arbeitswelt, wie sie ist‹, ist ein Politikum unter Bedingungen, in denen die Beschäftigten blind prozessieren und funktionieren sollen.
Mündig arbeiten bedeutet, sich reflektiert zu den Anforderungen verhalten zu können, die an das eigene Arbeits- und Reproduktionshandeln gerichtet werden. In meiner empirischen Untersuchung wünschten sich gerade diejenigen, die unter hohem Arbeitsdruck standen, Abstand vom Hamsterrad. Sie sind auch bereit, ihre kostbare Zeit für Bildung einzusetzen – aber sie legen hohe inhaltliche Maßstäbe an. Die Gewerkschaften als eine sich selbst bildende Selbstorganisation von ArbeitnehmerInnen sind prädestiniert, ein Bildungsprogramm für mündiges Arbeiten – und damit auch: Leben – zu verwirklichen.
Problemorientierte Zweckbildung
Für die Gewerkschaftsmitglieder ebenso wie für die Gewerkschaften als Organisation ist gewerkschaftliche Bildung Zweckbildung. Es geht – wie unterschiedlich auch immer gedacht – um eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Das Zweckbildungsverständnis muss m.E. in zwei Richtungen aktualisiert werden:
- Erstens als problemorientierte Zweckbildung. Diese orientiert sich konsequent an den vorliegenden Problemen und gibt ihnen den Raum, den sie benötigen. Die Verständigung über Probleme wird also als zweckdienlich erachtet, auch wenn daraus keine unmittelbar handlungsleitenden Lösungen abgeleitet werden können. Sie nimmt die Spannung zwischen Problemen und Zielen konzeptionell in sich auf.
Wie wichtig und wie schwierig das ist, erlebe ich gerade selbst in der Betriebsrätebildung. In einer Seminarreihe gemeinsam mit einer örtlichen Gewerkschaft machen wir die Bedingungen der Betriebsratsarbeit zum Thema. Betriebsräte berichten zum Beispiel, dass das fundamentale Recht auf Arbeitsbefreiung für die Betriebsratsarbeit oft nicht mehr greift. Die Betriebsräte sind erleichtert, die Strukturen zu erkennen, die sie dazu bringen, ihre Betriebsratsarbeit ›on top‹ zu machen. Und dann sind sie wieder nicht erleichtert, weil die Erkenntnis das Problem nicht löst. Einem Teilnehmenden ist bei einem Seminar klar geworden, dass sich sein Betriebsratsengagement und sein Beruf unter den gegebenen Bedingungen nicht miteinander vereinbaren lassen. Die örtliche Gewerkschaft ist einerseits erfreut über die Stärkung, die die Teilnehmenden erfahren, und andererseits beunruhigt: Werden wir einen engagierten Betriebsrat verlieren? Was passiert, wenn die Teilnehmenden immer mehr Bewusstsein über ihren Handlungskontext erlangen, ohne dass immer Lösungen existieren – wenn sie also die Krise erfassen?
Problemorientierte Zweckbildung tabuisiert die Krise der gewerkschaftlichen Handlungsmacht nicht, sondern geht mit den Handlungskrisen um, die die Subjekte ohnehin erfahren. Handlungsorientierung wird damit nicht aufgegeben, sondern sie wird zum Gegenstand des Bildungsprozesses.
- Die zweite Aktualisierung geht vom Menschen als Zweck aus. Bildungstheoretisch ist dies keine Aktualisierung, denn Paul Röhrig hat dazu im Jahr 1987 bereits alles Wesentliche gesagt:
»Wenn so das Individuum selber als Zweck in den Bildungsgedanken hineinkommt, dann erst ist es legitim, die anderen genannten Zwecke mit einzubeziehen und trotzdem noch von ›Bildung‹ zu sprechen. Eigentlich geht es bei ›Bildung‹ ja weder um das Ziel individueller Persönlichkeitsentfaltung noch um ein von einer Organisation bestimmtes kollektives Ziel. Vielmehr sind diese beiden Momente aufgehoben in einem dritten, das man die Verwirklichung menschlicher Lebensverhältnisse nennen könnte« (Röhrig 1987, S. 116).
Die Verwirklichung menschlicher Verhältnisse als Zweck zu setzen, verschiebt die Perspektive aufs Jenseits ins Diesseits: Gestaltet das, was wir gerade tun und wie wir es tun, die Gesellschaft menschlicher? Und wenn wir gerade nicht anders können, als das Falsche zu tun, tun wir es dann zumindest bei vollem Bewusstsein, ohne es als das Richtige zu verbrämen (Meretz 2004)?
Zusammenhangwissen über Besonderes und Allgemeines
Die tektonischen Verschiebungen in der Arbeitswelt haben ganz neue Konstellationen hervorgebracht. Prototypisch sind die kommandierten Beschäftigten im Niedriglohnbereich auf der einen Seite und die Hochqualifizierten im ›High Performance Management‹ auf der anderen Seite. Die Beschäftigten befinden sich durch diese allgemeine Entwicklung kostensenkender Reorganisation nicht nur in besonderen Arbeitswelten, sondern sie verstehen die Arbeitswelt und das Arbeitshandeln der anderen auch nicht automatisch. Die Gewerkschaftsmitglieder suchen das gemeinsame Allgemeine als Grundlage für gemeinsames Handeln, aber sie finden es oft nicht (Bürgin 2012, S. 208-213). Sie können den Gesamtkontext nicht aus ihren eigenen Erfahrungen und Analogieschlüssen herstellen.
Erst eine Analyse der allgemeinen Entwicklung ermöglicht es, unterschiedliches Handeln als begründet zu verstehen – z.B. Dienst nach Vorschrift bei den einen, Arbeiten ohne Ende bei den anderen. Gewerkschaftsmitglieder sind auf Zusammenhangwissen angewiesen, wenn sie ihre unterschiedlichen (Arbeits-) Erfahrungen aufeinander beziehen und kollektiv handeln wollen. Berufsgewerkschaften organisieren sich an Partikularität, für die Industriegewerkschaften geht es um die Voraussetzungen, allgemeine Interessen besonderer Gruppen durchzusetzen und somit um gewerkschaftliche Solidarität schlechthin.
Ein subjektiv vermitteltes Allgemeines kann entstehen, wenn die Subjekte sich nicht mehr nur zufällig in das Allgemeine eingebunden sehen, sondern Zusammenhänge mit ihrem eigenen Leben herstellen (Negt 2010, S. 214f.). Gewerkschaftliche Bildungsarbeit setzt sich nicht über konkrete Anliegen der Teilnehmenden hinweg, wenn sie die betriebliche Praxis in ihre politischen und ökonomischen Zusammenhänge stellt: Denn es ist praxisrelevant, ob Betriebsräte z.B. die Tragweite von Leiharbeit und Werkverträgen einschätzen können oder nicht; oder ob ArbeitnehmerInnen wissen, was die Unterschrift unter eine Zielvereinbarung bedeutet. Dies zu negieren oder in der Bildungspraxis zu vernachlässigen, ist nicht nur anti-emanzipativ, sondern verantwortungslos. ArbeitnehmerInnen mit und ohne Funktion müssen wissen, was sie tun und welche Folgen ihr Tun hat. Kampagnen und Schulungen ersetzen Bildung nicht.
Das Denken vom Ganzen ist so aktuell wie je, auch wenn in den Sozial- und Erziehungswissenschaften konstruktivistische Positionen immer einflussreicher werden, die die Erkennbarkeit der Welt in Abrede stellen. Die Didaktik gewerkschaftlicher Bildung muss m.E. allerdings stärker berücksichtigen, dass das Zusammenhangwissen nicht umstandslos vermittelt werden kann, sondern oft gemeinsam ermittelt werden muss. Bildungsräume sollten daher auch als Laboratorien gedacht werden – insbesondere auch für Experimente mit Handlungsmöglichkeiten.
Wanted!
Ich wurde eingeladen, Ansprüche zu formulieren – eine anspruchsvolle Bildungspraxis setzt allerdings gute Bedingungen voraus. Hier fünf Punkte:
- Ein hohes Niveau der Didaktik gewerkschaftlicher Bildung kann natürlich nur bei guten Arbeitsbedingungen erwartet werden (dies gilt auch für die FreiberuflerInnen). Es müssten viel mehr Stellen für pädagogische MitarbeiterInnen geschaffen werden – auch als Voraussetzung für ehrenamtliche Tätigkeit.
- Bildung braucht Zeit – bei Teilnehmenden und TeamerInnen. Der Einsatz gegen entgrenzte Leistungsanforderungen, für Arbeitszeitverkürzung und lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle ist auch ein Einsatz für die Voraussetzungen von Bildung.
- Wir erleben in den letzten Jahren einen Rückschlag bei der politischen Breitenbildung. Es gibt eine neue Funktionärsorientierung, obwohl Arbeitspolitik als Stellvertreterpolitik immer weniger funktioniert. Immer mehr Entscheidungen hängen an den einzelnen Beschäftigten und auch aus diesem Grund sollten sich Bildungsangebote verstärkt an Mitglieder ohne Funktion wenden. Das kostet Geld, das angeblich weder beim Staat noch bei den Gewerkschaften da ist, aber natürlich handelt es sich hier um politische Prioritätensetzungen.
- Auch einige gewerkschaftlich orientierte Bildungswissenschaftler propagieren eine Integration von beruflicher, politischer und allgemeiner Bildung, die ich allerdings für bildungspolitisch und bildungspraktisch gescheitert halte. Strategisch muss die politische Bildung m.E. mit Zähnen und Klauen verteidigt und eine Rücknahme von Projektierung und Programmierung gefordert werden. Gegenwärtig sichert nur die politische Bildung Räume, die von Verwertungszusammenhängen distanziert sind und in denen diese kritisch betrachtet werden können.
- Praxis benötigt Reflexion. Forschung über gewerkschaftliche Bildung gibt es allerdings so gut wie gar nicht mehr, allenfalls noch über den Betriebsrätebildungsmarkt. Es ist fatal, dass auch noch die HBS 2012 beschlossen hat, Forschungsprojekte zur politischen Bildung nicht mehr zu fördern. Hier ist Brachland entstanden, das zu kultivieren wäre. Und ohne die Autonomie der Bildungsträger einzuschränken, sollten die Hochschulen wissenschaftliche Reflexionsräume und Weiterbildungsmöglichkeiten für außerschulische politische BildungsarbeiterInnen bieten.
Schluss
Leider – so muss man sagen – sind die Gründe für emanzipatorische gewerkschaftliche Bildung nicht überholt. Überholt ist deshalb auch nicht der Anspruch emanzipatorischer Bildung, sondern die Vorstellung von Bildung als ›Missing Link‹ zu veränderten Verhältnissen oder auch Ersatz-Praxis. Wenn gewerkschaftliche Bildung sich von diesen Anforderungen emanzipiert, kann sie entwerfen, was sie unter den gegebenen Bedingungen sein könnte: Raum für Kritik, Raum für Selbstaufklärung, Raum für die Überschreitung des Gegebenen, Raum für das Ausloten von Handlungsmöglichkeiten. Was noch? Ich freue mich auf die Diskussion!
* Julika Bürgin ist Bildungswissenschaftlerin in Frankfurt am Main.
Eine ausführliche Literaturliste ist über die Redaktion erhältlich.