Lehramtszugangsverordnung NRW: Fach „Sozialwissenschaften“ soll abgeschafft werden – Gefahr für Politische Bildung an Schulen

Dossier

Lehramtszugangsverordnung NRW: Fach „Sozialwissenschaften“ soll abgeschafft werden - Gefahr für Politische Bildung an SchulenSeit fast 50 Jahren gehören Sozialwissenschaften zum Lehrplan in NRW. Das könnte sich mit dem Entwurf der neuen Lehramtszugangsverordnung ändern – mit Folgen für Studium, Lehre und Politische Bildung. „Wirtschaft/Politik“ soll das Studien- und Schulfach heißen. Rainer Schiffers von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen erklärt, was auf angehende und ausgebildete Lehrkräfte und die Schulen zukommt. Er sagt: „Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Fachs gibt es nicht! Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wurde und wird, ist dies schon längst geschehen.“ Er sieht Politische Bildung an Schulen Gefahr. (…) Anstelle eines interdisziplinären Studien- und Unterrichtsfachs „Sozialwissenschaften“ soll das Fach „Wirtschaft/Politik“ treten. Das ist weder ein Fortschritt noch ein Ersatz. Sozialwissenschaften ist ein Integrationsfach mit eigener inhaltlicher, methodischer und didaktischer Prägung. Gesellschaftliche Probleme sind komplex. Die Fähigkeit, sich interdisziplinär mit gesellschaftlichen Herausforderungen und Problemen auseinanderzusetzen, sie deuten und Maßnahmen ergreifen zu können, ist die zentrale Leitidee der sozialwissenschaftlichen Bildung. Kinder müssen lernen, sich in komplexen gesellschaftlichen Situationen zu orientieren und entsprechend handeln zu können. (…) Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Fachs gibt es nicht! Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wurde und wird, ist dies schon längst geschehen…“ Meldung der GEW NRW vom 15.01.2021 externer Link mit allen Dokumenten dazu, siehe weitere Proteste:

  • Proteste gegen Lehramtsreform in NRW: Bundesbank macht Schule New
    „Aufruhr bei Schülern, Studierenden und Lehrern in Nordrhein-Westfalen. Nach Einführung eines Schulfachs „Wirtschaft“ will die Landesregierung nun auch das Lehramt „Sozialwissenschaften“ aus dem Verkehr ziehen. Gegner warnen vor der Abwicklung politischer Bildung und einer Übermacht des Ökonomischen. (…) Die Schule ist ein zentraler Ort, an dem Kinder und Jugendliche lernen, sich mit gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen, die über die unmittelbare persönliche Erlebniswelt hinausgehen, auseinanderzusetzen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) geschah dies bald 50 Jahre lang im Unterrichtsfach „Sozialwissenschaften“. Aber neuerdings ist Schluss damit. Zu Beginn des laufenden Schuljahrs wurde an den weiterführenden Schulen an Rhein und Ruhr flächendeckend das Schulfach „Wirtschaft/Politik“ eingeführt, wobei die namentliche Reihenfolge kein Zufall ist. Inhaltlich hat „Wirtschaft“ eindeutig Vorrang vor „Politik“. Und das nicht nur in den entsprechenden Konzeptpapieren, sondern längst auch in der Praxis. Das Bildungsministerium streitet das gar nicht ab. Das neue Fach berücksichtige auch weiterhin die drei Teildisziplinen Wirtschaft, Politik und Soziologie, die „Schwerpunktsetzung“ sei aber eine andere. Das kommt nicht von ungefähr. Seit vielen Jahren treiben Unternehmer- und Handwerksverbände, arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitute, Vertreter von Banken und Versicherungen viel Aufwand, um „Wirtschaft“ als ein eigenständiges Schulfach zu etablieren. (…) Laut zugehörigem Bildungsplan geht es bei dem neuen Fach im „Ländle“ unter anderem um die Rolle der Bürger als Konsumenten, Geldanleger oder Kredit- und Versicherungsnehmer. Ferner entnimmt man dem Leitfaden: „Wettbewerb dient dem Gemeinwohl“, „Ungleichheit induziert Leistungsstreben, Fortschritt und Wohlstand“ und „Jeder ist sein eigener Unternehmer“. Was längst nicht jeder gutheißen mag, wird Kindern seither als allgemeinverbindliche „Wahrheit“ eingetrichtert. Wie seinerzeit der Sozialwissenschaftler an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Tim Engartner, beklagte, beförderten die Vorgaben „unterkomplexe Problemwahrnehmungen, einseitige Weltbilder und begrenzten Gestaltungswillen“. Nicht Aufklärung sei das Ziel, sondern Erziehung zwecks „Steigerung des Humankapitals“. Aus seiner Sicht sind Ökonomie und Gesellschaft zusammen zu denken und dürfen nicht künstlich voneinander getrennt werden. „Um zu begreifen, dass wir zwar in einer Marktwirtschaft leben, nicht aber in einer Marktgesellschaft, braucht es integrierte sozial- und nicht separierte wirtschaftswissenschaftliche Bildung.“ (…) Aber die Betroffenen spuren nicht so wie gewünscht. Vielmehr machen sie sogar richtig Stunk. Schüler-, Studierenden-, Bildungsverbände und Gewerkschaften wenden sich auf breiter Front gegen die Pläne…“ Beitrag vom 10. Februar 2021 von und bei Studis online externer Link
  • fzs: Soziologie in der Schule und an der Hochschule ausweiten statt marginalisieren! 
    „Der allgemeinen Empörung über die Abschaffung des Schulfaches Sozialwissenschaften in NRW und über seine Ersetzung durch das Fach Wirtschaft-Politik schließt sich auch das Landes-ASten-Treffen NRW (LAT NRW), der Vorstand der Landes-Lehramts-Fachschaftenkonferenz NRW (LaLeFa NRW) sowie die bundesweite Student:innenvertretung freier zusammenschluss von student:innenschaften (fzs) an. „Das Fach Sozialwissenschaften vereint die Bereiche Politik, Soziologie und Wirtschaft. Die Landesregierung beteuert zwar, dass auch im neuen Fach Wirtschaft-Politik Elemente der Soziologie enthalten sein werden. Jedoch zeigt schon die Umbenennung und Änderung der Lehrer:innenausbildung, dass von einer Gleichberechtigung der Soziologie nicht die Rede sein kann – dabei ist sie essentiell für einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und für den Weg der Schüler:innen hin zur Mündigkeit.“ so Tobias Zorn vom LAT NRW. (…) „Mit Sorge betrachten wir einen Trend hin zu einer Ökonomisierung der Hochschulen, der Sozialwissenschaften immer weiter ins Abseits treibt. Gerade in Zeiten einer weltweiten Pandemie und wachsendem Populismus ist eine ausführliche Analyse gesellschaftlicher Prozesse wichtiger denn je. Auch Ursachen sozialer Ungleichheit sind unabdingliches Wissen, dass Schüler:innen nicht verwehrt werden sollte. Schüler:innen brauchen mehr politische Bildung, nicht weniger. So gelingt Demokratiebildung und so werden Schüler*innen ernstgenommen“ sagt Carlotta Kühnemann vom fzs…“ fzs-Pressemitteilung vom 28. Januar 2021 verfasst von Carlotta Kuehnemann externer Link
  • MSB: Entwurf – Vierte Verordnung zur Änderung der Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung externer Link
  • Zwei Petitionen zum Erhalt des Faches Sozialwissenschaften suchen Unterstützer*innen:
  • Brandbrief der DVPB NW zur neuen Lehramtszugangsverordnung der nordrhein-westfälischen Landesregierung: Sozialwissenschaften – jetzt erst recht!
    Ein Schulfach, das fast 50 Jahre zum Profil nordrhein-westfälischer schulischer Bildung gehörte und anderen Bundesländern und Staaten zum Vorbild diente, soll nun endgültig beseitigt werden. Ersatz gibt es nicht. Umgehung einer demokratischen Auseinandersetzung über Bildungsziele: Das Schulministerium setzt im Windschatten der COVID-Pandemie sein Vorhaben, ein Monofach „Wirtschaft“ zu etablieren, Schritt für Schritt um. Es wird in die Trickkiste gegriffen, indem man über die Lehrerzugangsverordnung das Unterrichtsfach „Wirtschaft“ durchsetzt. Der demokratisch-gesellschaftliche Diskurs über die Bildungsziele an Schulen wird so ausgehebelt. Weder Fachverbände noch die beteiligten Hochschulen, die Fachleiter*innen etc. wurden konsultiert. Es ist eine Entscheidung, die machtpolitischen Interessen folgt, nicht den gesellschaftlichen Lern- und Orientierungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen. Anstelle eines interdisziplinären Studien- und Unterrichtsfachs „Sozialwissenschaften“ soll in der Sek. I und II zunächst das Fach Wirtschaft/ Politik treten. Das ist weder ein Fortschritt noch ein Ersatz. Das Fach Sozialwissenschaften ist ein Integrationsfach mit eigener inhaltlicher, methodischer und didaktischer Prägung. Gesellschaftliche Probleme sind komplex. Sie orientieren sich nicht an disziplinären Grenzen. Die Fähigkeit, sich interdisziplinär mit gesellschaftlichen Herausforderungen und Problemen auseinanderzusetzen, sie deuten und Maßnahmen ergreifen zu können, ist die zentrale Leitidee der sozialwissenschaftlichen Bildung. Kinder müssen lernen, in komplexen gesellschaftlichen Situationen sich orientieren und handeln zu können. Wer meint, dieses Bildungsziel durch ein neues Studien- und Unterrichtsfach Wirtschaft/Politik ersetzen zu können, hat nicht verstanden, was genuin sozialwissenschaftliche Bildung ausmacht. Langfristig, das steht zu befürchten, werden die derzeit noch bestehenden politischen Studien- und Bildungsinhalte immer weiter verdrängt, so wie es mit den gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven bereits durch den vorliegenden LZV-Entwurf erfolgt. Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Faches gibt es nicht! (…) Mit großer Irritation haben wir in der Stellungnahme der Landesregierung auf die Kleine Anfrage vom 28.12.2020, beantwortet am 05.01.2021 mit der Nr. 17/12231 gelesen, wie sich die Landesregierung die Qualifizierung der Lehrkräfte vorstellt: Neben einigen Plätzen für Zertifikationskurse verweist die Landesregierung auf Fortbildungsangebote von Universitäten, der Deutschen Bank, Verbänden und Stiftungen. Mit anderen Worten, schreibt man die derzeitigen Verhältnisse fort, werden Fortbildungen, von wenigen Angeboten abgesehen, vornehmlich von unternehmensnahen Stiftungen und Verbänden durchgeführt, z. B. von Versicherungen, Banken, dem Bundesverband deutscher Arbeitgeberverbände und dessen Netzwerk Schule-Wirtschaft. Die Unternehmerverbände und unternehmensnahen Stiftungen erhalten, im Gegensatz zu den Gewerkschaften, öffentliche Mittel in einem erheblichen Umfang für die Erstellung ihrer ökonomischen Bildungsangebote, z. B. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Entsprechend einseitig werden die Fortbildungen wirtschaftspolitisch und paradigmatisch ausfallen…“ Vorstand der DVPB NW am 13.01.2021 externer Link, siehe auch die Reaktionen auf den Brandbrief – Weitere Verbände äußern sich zur Abschaffung des Faches Sozialwissenschaften externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=185444
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