Bundesarbeitsgericht: Richter mit NS-Vergangenheit
Dossier
„Am Bundesarbeitsgericht haben bis in die 1980er-Jahre Richter mit NS-Vergangenheit Recht gesprochen. Bis heute hängen ihre Fotos im Gericht in Erfurt. (…) Das Ex-NSDAP-Mitglied [Willy Martel] wurde Richter am neu geschaffenen Bundesarbeitsgericht an seinem damaligen Sitz in Kassel. Bis heute hängt sein Bild ohne einordnenden Kommentar in der Ahnengalerie in einem Gebäude auf dem Erfurter Petersberg, wohin das Gericht 1999 umgezogen ist. Daneben gibt es Fotos von zwölf weiteren Richterinnen und Richtern, die nach Recherchen von MDR Thüringen eine ähnlich belastete NS-Vergangenenheit hatten, für die rund 4000 Dokumente aus verschiedenen deutschen und europäischen Archiven ausgewertet wurden. (…) NS-Belastungen in der beruflichen Karriere treffen auch zu auf den ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht, Georg Schröder (…) Die MDR-Thüringen-Recherchen zeigen auch, dass es bis heute im Bundesarbeitsgericht keine Aufarbeitung dieser Vergangenheit gegeben hat…“ Beitrag von Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia vom 2. Dezember 2020 bei tagesschau.de , siehe dazu:
- Juristen als Teil der Funktionselite des NS-Regimes. Kritische Anmerkung zum Beitrag „Die NS-Belastung des Bundesarbeitsgerichts“ von Martin Borowsky
„Martin Borowsky ist es endlich 70 Jahre nach der Zerschlagung des NS-Regimes gelungen eine Auseinandersetzung über die personellen Kontinuitäten von Richtern und Richterinnen des Bundesarbeitsgerichts nach 1945 anzustoßen. (…) Borowskys Forderung „nicht den Gestus der Verurteilung“ einzunehmen, kann nicht gefolgt werden. Eine nachträgliche und notwendige Verurteilung von Personen, die Unrecht begangen oder unterstützt haben, steht der Wahrheitssuche nicht entgegen. Der Verzicht auf eine Verurteilung, auch wenn sie nur moralisch ist, widerspricht der Gerechtigkeit für die vom NS-Regime ihrer wirtschaftlichen Existenz, ihrer Freiheit beraubten und ermordeten Personen. (…) Dass Borowsky vorschnell „Unbedenklichkeitsbescheinigungen“ erteilt, zeigt sich anschaulich am Beispiel Hans Nipperdey. Es muss einer deutlichen und scharfen Kritik unterzogen werden, wenn sich Juristen verbrecherischen Systemen zur Verfügung stellen und diese durch ihre Tätigkeit stützen und unterstützen…“ Artikel von Regina Steiner vom 13.2.2023 – wir danken! (Die Autorin ist Vorsitzende der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen) - [Podcast am 14.12.21] Das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey: Den Unternehmern treu ergeben „Hans Carl Nipperdey, führender Arbeitsrechtler in der NS-Zeit, von 1954 bis 1963 Präsident des Bundesarbeitsgerichts, hat das restriktive deutsche Arbeitsrecht bis heute geprägt: Politische Streiks sind verboten, Beschäftigte zur Treue verpflichtet und Whistleblower nahezu ungeschützt. In der Weimarer Republik noch nationalliberal, verfasste Nipperdey unterm Hakenkreuz zusammen mit Alfred Hueck das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“. Es beseitigte die Reste des Weimarer Arbeitsrechts, verankerte das „Führerprinzip“ in den Betrieben und bestimmte Arbeitnehmer als „Gefolgsleute“. In der Bundesrepublik reüssierte Nipperdey zuerst als SPD-Mitglied, wechselte dann ins Arbeitgeberlager. Seine aus der NS-Zeit transformierten ideologischen Grundsätze von Unternehmen als Betriebsgemeinschaften und von der Fürsorge- und Treuepflicht von Unternehmern und Beschäftigen sind bis heute maßgeblich. Sie führten u.a. auch dazu, dass Deutschland die Whistleblower-Richtlinie der EU bis 2021 nicht umgesetzt hat.“ Podcast des Features von Peter Kessen am 14. Dezember 2021 beim Deutschlandfunk
- Siehe auch die Debatte im Dossier: Mythos wilder Streik + Illegalität. Zum Grundrecht auf Streik am Bsp. Gorillas
- Der Professor und die Viererbande: Wie Nazi-Juristen um Hans Carl Nipperdey das deutsche Arbeitsrecht bis heute prägen
“… Die Frage nach dem faschistischen Arbeitsrecht und seiner Fortwirkung in der Bundesrepublik führt zu einer Gruppe von vier Juristen. Neben Nipperdey waren das die Professoren Alfred Hueck und Rolf Dietz sowie auch Arthur Nikisch. Alle vier waren von 1933 bis 1945 bekennende Nationalsozialisten und überwiegend in der Deutschen Akademie für Recht engagiert. Nipperdey und Hueck waren nicht nur die Hauptkommentatoren des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“, 1934 in Kraft gesetzt, sondern hatten es auch verfasst. Nach 1945 konnten alle vier ihre Karrieren fortsetzen, Nipperdey gelang 1954 sogar der Sprung an die Spitze des neu eingerichteten BAG – obwohl er verschiedentlich mit dem weltweit berüchtigten „Blutrichter“ Roland Freisler publiziert hatte. Besonders in seiner Eigenschaft als Präsident des BAG konnte Nipperdey, der diese Position bis 1963 innehatte, seine Ideologie des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ als „herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung“ in die Nachkriegszeit übertragen. (…) Zu diesen unabhängig von demokratischen Gesetzen im Wege der „Rechtsfortbildung“ und „Rechtsschöpfung“ durchgesetzten Auffassungen gehörte zuvörderst der Umbau des Arbeitsverhältnisses von einem Austausch- zu einem „Gemeinschaftsverhältnis“, das die Interessen des Arbeitnehmers brutal unterordnet. Verbunden damit war eine starke Betonung der angeblichen Treuepflicht von Beschäftigten gegenüber Arbeitgebern und das diesen geschuldete „Vertrauen“. (…) Aber nicht nur in der Auslegung, sondern auch als Berater bereits bei der Formulierung von Gesetzen konnte die Gruppe um Nipperdey ihre Vorstellungen zumindest in Teilen erfolgreich einbringen – etwa im höchst bedeutsamen Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und in den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder. Diese orientierten sich mit ihrer „Friedenspflicht“ und dem Arbeitskampfverbot, dem Verbot der politischen Betätigung und dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit weitgehend an Ideen einer Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und Belegschaft, die zuvor ausschließlich im faschistischen Gesetz von 1934 verankert gewesen waren – und zwar unter dem Rubrum „Gemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft“. (…) Zwar sind heute viele Auswüchse dieser antidemokratischen Rechtsprechung beschnitten. Doch haben sich bisher weder das Bundesarbeitsgericht noch die „herrschende Meinung“ von diesen Auswüchsen distanziert. Im Gegenteil werden Nipperdey & Co noch immer als große Juristen gefeiert. Allenfalls – und dann ganz leise – lastet man ihnen die Mitgliedschaft in der NSDAP an, nicht aber den Umstand, dass sie zwanzig Jahre lang mit ihrer faschistischen Ideologie das Arbeitsrecht dieser Republik vergiften konnten.” Artikel von Rolf Geffken vom 29. April 2021 bei ‘derFreitag’ Ausgabe 16/2021 – siehe auch:- Faschismus im Arbeitsrecht. Video und Artikel von Rolf Geffken
- BAG: Der Obernazi wurde „vergessen“
„Die taz und der MDR berichteten kürzlich über ein scheinbare „Sensation“: Ehemalige längst verstorbene Richter mit Nazivergangenheit am höchsten deutschen Arbeitsgericht. Soweit so gut. Was nun im wahrsten Sinne des Wortes verstört, ist, daß der bedeutendste Richter am Bundesarbeitsgericht dessen erster Präsident war namens Hans Carl Nipperdey. Doch dieser H.C.Nipperdey taucht in der angeblichen „Recherche“ nicht auf, obwohl er Gegenstand zahlreicher kritischer Anmerkungen in den letzten 65 Jahren war. Nicht nur bei Wolfgang Däubler, auch in der Kritischen Justiz, der Zeitschrift Demokratie und Recht und zahlreichen Statements der Vereinigung Demokratischer Juristen aber auch in meinen eigenen Publikationen, zuletzt im „Umgang mit dem Arbeitsrecht“. Von Nipperdey stammte jener ungeheuer blamable Satz aus der berühmten Entscheidung des Großen Senats von 1955 „Arbeitskämpfe sind im allgemeinen unerwünscht, weil sie volkswirtschaftliche Schäden verursachen“ (und das nur 6 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes !). Da wurde eine rechte Stammtischparole Teil einer Grundsatzentscheidung eines höchsten Gerichts. Mit Juristerei hatte das NICHTS zu tun, es war nur pure Ideologie. Diese Ideologie hatte Nipperdey schon als Kommentator des Gesetzes zur Ordnung der Nationalen Arbeit von 1934 vertreten. Es war die faschistische Ideologie der Betriebsgemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft, die er nahtlos (!) in seine neue Funktion hinüberrettete und die sich in zahllosen Einzelfragen des Arbeitsrechts auf ein angebliches „personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis“ statt auf einen normalen Arbeitsvertrag berief. Alles aber auch alles geschah abseits des geltenden Rechts und wurde qua von ihm gepriesener „Rechtsfortbildung“ in das geltende Recht ohne jede demokratische Legitimation implentiert. Die Richter des BAG u n d die von Nipperdey über seine Autorenschaft in zahlreichen Publikationen repräsentierte „herrschende Meinung“ richteten sich fortan danach. Als „herrschende Meinung“ galt fortan, die Meinung des BAG-Präsidenten und des Autoren und Professors Nipperdey sowie seiners Kollegen Alfred Hueck. Die beiden hatten das „Gewicht“ von mindestens 100 verschiedenen anderen Autoren. Diese Meinung galt als sakrosankt für mindestens 30-40 Jahre. Aber selbst dort wo Nipperdey nicht mehr wortwörtlich nachgebetet wurde, hatte er in den Köpfen der Juristen eine nachhaltige reaktionäre und zutiefst arbeitgeberfreundliche bis heute nachhaltige Wirkung gehabt. (…) Jetzt will das BAG selbst (!) ein „Forschungsprojekt“ (Donnerwetter !) einrichten, für das immerhin 350.000 Euro bereitgestellt werden sollen und das dann auch die Wirkung der Alt-Nazis auf deren Rechtssprechung untersuchen will. Wie bitte ? Warum ist nicht längst für maximal 0 Euro auch nur von einem der Richter klargestellt worden, w a s man über die Wirkung eines Herrn Nipperdey längst weiß ? Wir ahnen es: Es soll 75 Jahre nach der Zerschlagung des Faschismus offenbar wieder verharmlost werden was offensichtlich ist: Der „Obernazi“ wurde vergessen…“ Kommentar von Rechtsanwalt Dr. Rolf Geffken vom 28. Januar 2021 bei Rat & Tat - Die dritte Schuld: In der Nachkriegszeit waren einzelne Richter am Bundesarbeitsgericht vorbelastet. Das anzuerkennen, fällt der Institution schwer
„… Dass an diesem Abend nur wenige Menschen auf der Veranstaltung in den Räumlichkeiten des Erinnerungsortes Topf & Söhne in Erfurt physisch anwesend sind, hat natürlich mit Corona zu tun. (…) Gekommen ist der promovierte Jurist Borowsky – der am Landgericht Erfurt Recht spricht -, um über das Wirken anderer Juristen zu reden. (…) Borowsky werde, so steht es in der Einladung zu diesem Abend, einen Werkstattbericht zu seinen inzwischen etwa zwei Jahre dauernden Forschungen abgeben. Der Jurist hat sich die Biografien von 25 der ersten Richter des Bundesarbeitsgerichts angeschaut, mithilfe von Akten und Archiven, ganz so, wie auch Historiker in solchen Fällen arbeiten. Er ist an manche der Orte gefahren, an denen diese Juristen ihrem Beruf nachgegangen waren, ehe sie an eines der obersten Gerichte der Bundesrepublik berufen worden waren. (…) Von diesen 25 frühen Richtern des Bundesarbeitsgerichtes waren 13 so sehr durch ihre Verstrickungen mit dem NS-Staat belastet, dass sie sich für ihre Tätigkeit an einem Bundesgericht nach 1945 eigentlich «disqualifiziert» hatten, wie Borowsky das nennt. Sie seien teilweise nicht nur Mitglieder der NSDAP oder der SA gewesen. Was für sich genommen, argumentiert Borowsky, nach seinem «relativ milden Maßstab» noch nicht ausreiche, um diese Männer als ungeeignet für ihre spätere Tätigkeit zu bezeichnen. Diese 13 Männer seien vielmehr unmittelbar daran beteiligt gewesen, im NS-Staat unter dem Deckmantel des Rechts Unrecht zu verüben, erklärt Borowsky. Immer wieder macht er deutlich, dass diese Männer unter anderem Todesurteile gegen Menschen verhängt hatten, die nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passten. Die Zeithistorikerin Christiane Kuller, die an der Universität Erfurt lehrt und der Diskussion über das Internet zugeschaltet ist, sagt, Männer wie diese seien Teil der «Funktionselite» des NS-Staates gewesen und hätten ihm den Anschein von Legalität gegeben. Sie seien ganz zentral für das Wirken dieses Regimes gewesen. Eine wirkliche Überraschung ist dieser Befund freilich nicht; jedenfalls nicht aus einer rein historischen Perspektive heraus betrachtet. Wissenschaftliche Arbeiten, die zeigen, dass die «Stunde null» ein Mythos war und dass ungezählte Nazis und NS-Täter auf allen Ebenen der Gesellschaft nach dem Krieg vor allem im Westen Deutschlands wieder Karriere machten, füllen inzwischen viele Regalmeter in Forschungsbibliotheken. Sie stiegen in Bundes- und Landesministerien wieder ein – und auf: in der Polizei, in den Streitkräften, in privaten und auch in volkseigenen Unternehmen…“ Bericht von Sebastian Haak vom 18. Januar 2021 in neues Deutschland online - Siehe auch den Youtube-Life-Chat am 9. Dezember 2020 „Das Bundesarbeitsgericht und eine NS-Belastung?“ – wichtig wäre u.E. auch eine Untersuchung, wie viel versteckte Nazi-Ideologie in manchen BAG-Urteilen steckt, etwas, was teilweise bei BHG bereits untersucht wurde…