Kollektiver Kapitalismus? Die Industrie-4.0-Ideologie und die Realität

Ein Gespenst bewegt sich durch das Unterholz des bundesdeutschen Medienwalds und hat große Aufmerksamkeit gefunden: Die Bundeskanzlerin hat es gesichtet, und auch die meisten Gewerkschaftsfunktionäre reden darüber. (…) Es geht um das sogenannte Industrie-4.0-Konzept. Eingebunden ist dessen Thematisierung in die allgemeine Diskussion über die Konsequenzen einer zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf die Situation der Lohnabhängigen: »Sind die Arbeitsplätze durch die Computerisierung bedroht?« ist eine naheliegende Frage, die oft gestellt wird. (…) Im Gegensatz zu dieser Realitätsebene Arbeitswelt, ist jedoch das Industrie-4.0-Konzept kaum mehr als ein Propagandacoup des BRD-Wirtschaftsministeriums in Allianz mit Einflussagenturen der IT-Industrie. Gedacht ist es als eine propagandistische Anschubinitiative zur Förderung einer informationstechnologischen »Gründerzeit« in der Bundesrepublik und der EU. Wenn auch unausgesprochen, soll die europäische Position im internationalen Konkurrenzgeflecht der Computer- und Informatikindustrien verbessert werden. Im Endeffekt handelt es sich um eine (zunächst konzeptionelle) Positionierung gegen die Vormachtstellung der USamerikanischen Internetkonzerne, die ja selbst wiederum das industrielle Terrain als Basis für neue Geschäftsstrategien entdeckt haben…“ Artikel von Werner Seppmann , ursprünglich erschienen in Junge Welt vom 9.1.2016 – Beilage faulheit&arbeit, S. 6 f. – wir danken dem Autor!

  • Uns darin am wichtigsten: „… Intendiert ist durch internetvermittelte Organisation produktiver Abläufe jedoch auch, die Flexibilität und die Produktivität der Arbeitenden zu steigern. Eine solche Intensivierung der Ausbeutung stand auch schon in den 90er Jahren im Zentrum des Konzepts einer »Atmenden Fabrik«. Aber beabsichtigt ist nun auch die elektronisch vermittelte Integration von Zulieferern, Dienstleistern und ebenfalls von sogenannten Solounternehmern (die zur Bewältigung einzelner Aufgaben herangezogen werden und nicht immer, aber sehr häufig einen prekären Status haben) in die unmittelbaren Organisationsstrukturen des Produktionsprozesses. Um im traditionellen Bild zu bleiben, geht es um eine »Atmende Wirtschaft« in ihrer Gesamtheit und letztlich auch darum, durch den Einsatz der kombinierten Datenverarbeitungs- und Informationstechnologien, die »Kern-« und »Randbelegschaften« mit neuer Intensität gegeneinander ausspielen zu können. (…) Wenn es zur Verallgemeinerung miteinander kommunizierender Netzwerke aus Maschinen, Lagersystemen, Produkten und Menschen kommen sollte, dann mit großer Wahrscheinlichkeit nur nternehmensintern oder in Kooperation mit einem kleinen Kreis ausgewählter Lieferanten und Zulieferer. Einer firmenübergreifenden Vernetzung, von der im Windschatten der Industrie-4.0-PR-Innitiativen in einer kaum mehr zu überbietenden Naivität sowohl bei den wirtschaftspolitischen Ideologen, jedoch auch in linken Publikationen die Rede ist, stehen die ganz elementaren Funktionsprinzipien des Kapitalismus, vorrangig also die Konkurrenzorientierung und die Orientierung an den je spezifischen Eigeninteressen aller ökonomisch Handelnden, entgegen. (…) Angesichts einer Hyperkonkurrenz beim Kampf um Marktpositionen ist es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet durch die Digitalisierungsprozesse und eine intensivierte Netzvermittlung ein »kollektiver Kapitalismus« entsteht, durch den die konkurrenzgeprägten Abschottungsbedürfnisse und Überbietungsstrategien neutralisiert werden könnten. Um so weniger gibt es einen plausiblen Grund für die Gewerkschaften, sich dem Kapital, wie es in der gegenwärtigen Digitalisierungsdebatte manchmal geschieht, als »verständiger« Partner zur Sicherung eines angeblich »erfolgreichen kooperativen Industriemodells« (Detlef Wetzel) anzudienen.“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=91548
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