[Buch] Agiler Kapitalismus: Das Leben als Projekt

[Buch von Timo Daum] Agiler Kapitalismus: Das Leben als Projekt„»Agil ist das Adjektiv, das uns in jeder Lebenslage adäquat beschreiben soll: Wir sollen wie das Kapital selbst werden.« Vor bald 20 Jahren formulierte eine Handvoll Programmierer und Softwareexperten das Gründungsdokument der agilen Bewegung. Das Agile Manifest veränderte Arbeitsweisen und Selbstverständnis einer ganzen Branche, seine Prinzipien wurden insbesondere bei Start-ups populär. Seine Wirkung geht jedoch weit darüber hinaus: In nahezu jeder Branche, ja für unser ganzes Leben wird Agilität gefeiert und gefordert. Aus Arbeitern und Angestellten in festen Abteilungen mit steilen Hierarchien werden in der schönen neuen Projekt-Welt Teamer mit wechselnden Rollen und Aufgaben, Vorgesetzte zu ihren Coaches, ganze Unternehmen erfinden sich als Projekte neu. Auch im Privatleben heißt die Parole: Sei agil, beweglich, flexibel! Bleib nicht stehen, investiere in dich selbst, erfinde dich neu! Als project owner unserer selbst sind wir angehalten, uns zu messen und zu optimieren, Rechenschaft abzulegen über unsere performance im Projekt des Lebens. Wir zählen unsere Schritte, überwachen unseren Schlaf und berechnen unseren Gesundheits-Score. Von linker Seite wird diesen Entwicklungen eher mit Wohlwollen begegnet, sie werden gar in einem Atemzug genannt mit Technologien und Praktiken wie offenen Standards, Open Source und Bürger-Partizipation. Doch Timo Daum zeigt: Das Dogma der Agilität passt perfekt zu den Anforderungen des Digitalen Kapitalismus, die historische Tendenz immer größerer Freiheit in der Sklaverei findet hier ihre Vollendung – Geschwindigkeitsdruck und Kontrolle sind bloß nach innen verlegt.“ Klappentext zum im Oktober 2020 bei Nautilus Flugschrift erschienenen Buch von Timo Daum. Siehe neben weiteren Informationen zum Buch das Kapitel „Der alte und der neue Chef“ als Leseprobe im LabourNet Germany – wir danken!

______________

Der alte und der neue Chef

unbossing - Illustration von Susann Massute zum Buch von Timo Daum "Agiler Kapitalismus: Das Leben als Projekt" - wir danken!

unbossing – Illustration von Susann Massute zum Buch von Timo Daum „Agiler Kapitalismus: Das Leben als Projekt“ – wir danken!

Im agilen Arbeitsumfeld ist der klassische Projektmanager abgeschafft, demgegenüber werden Gruppenverantwortung und Selbststeuerung angestrebt. Das Gleiche gilt zunehmend auch für klassische Chefs und Abteilungsleiter: Im agilen Unternehmen sind sie zunehmend fehl am Platz (ein wenig ergeht es ihnen da wie den Chefinnen, die waren auch schon vorher nahezu inexistent), flache oder am besten gar keine Hierarchien werden angestrebt, das Management soll in den Hintergrund treten. »Hierarchie gilt in agilen Umgebungen als veraltet und ist verpönt«, stellt auch Phoebe Moore fest. [1] Der »alte Chef« wusste noch »primär mit den Mitteln formaler Organisation zu regieren, ein dichtes Netz allgemeiner Regeln für jeden Fall auszubauen, verlässliche Kontrollen einzuführen und Verstöße zu ahnden.« [2] So beschreibt der Systemtheoretiker Niklas Luhmann den Idealtypus unpersönlich-bürokratischer Herrschaft, den zuerst Max Weber ausführlich beschrieben hatte. Das Verhältnis zwischen Herr und Knecht in der betrieblichen Linienorganisation beschreibt er in fast kybernetischer Terminologie: »Es muss unten maximale Energie bereitstehen, die von oben mit minimaler Energie (auch ›Information‹ genannt) gesteuert werden kann.« Und wenn nicht pariert wird, droht »der Chef« mit Sanktionen, bis hin zur Entlassung, die bei ihm – keiner kann das so elegant-subtil formulieren wie Luhmann – »Aufzeigen der Mitgliedschaftsalternative« heißt. Demgegenüber wisse der »neue Chef«, dass Konflikte oft eine große Belastung darstellten, daher seien »alle neueren Bestrebungen auf Entspannung gerichtet«. Die Arbeitspsychologie erfordere daher »viel Rücksicht auf Seiten der Organisation«, der Mensch werde von ihr mittlerweile als »hochkomplexes, durch Selbstbewusstsein und Angst gesteuertes Handlungssystem« erkannt«.[3]

Auch anderen Orts steht ein neuer Führungsstil an: »Führen unter den Bedingungen von Digitalisierung, Vernetzung, Individualisierung und Globalisierung erfordert […] eine hohe Beweglichkeit in der Wahl des situativ zweckmäßigen Führungsstils. So ist bspw. gerade in kleinen interdisziplinären Projektteams nicht in erster Linie der klassische direktive Vorgesetzte, sondern vielmehr der transparent agierende Mentor gefragt. Das setzt geistige Flexibilität und ein hohes Maß an Empathie voraus.«[4] Was sich wie aus einem Agilitätsratgeber abgeschrieben anhört, stammt aus der Feder von Generalmajor Reinhardt Zudrop, Kommandeur des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr. Das deutsche Militär kann sich rühmen, schon vor Jahrzehnten die »innere Führung« erfunden zu haben, sie ist auch beim derzeitigen Trend zur Agilität vorne mit dabei. Zudrops militärischer Rang hört sich zwar sehr nach hierarchischer Linienorganisation an, der agile Coach des Teams Verteidigung ist nichtsdestotrotz überzeugt, dass von jeher agil in der Bundeswehr geführt werde.

Die Soziologin Ève Chiapello möchte den alten Chef auch nicht wiederhaben: »Gewiss ist die Autonomie für zahlreiche Menschen trügerisch und auf nichts als Prekarität gebaut. Der alte hierarchische Chef jedoch, der Gehorsam ohne jede Diskussion verlangte, ist weitgehend verschwunden bzw. wurde in den vorzeitigen Ruhestand geschickt: Wer wird es bedauern?«[5] Das Bertelsmann Bar Camp Arbeiten 4.0 stellt zusammenfassend fest: »Moderne Führung geht einher mit fehlenden Hierarchien, temporären aufgabenbezogenen Netzwerken, situativer Kommunikation sowie einem Gleiche-unter-Gleichen-Selbstverständnis. ›Entscheidungen‹ sind nur noch logische Schlussfolgerungen der Bewertung von Rahmenbedingungen der Entscheidung durch das Team.« Weit und breit findet sich keine Fürsprecherin für den alten Chef, er wird zum Teufel gejagt mit der Parole Unboss! – und so lautet auch der Titel eines erfolgreichen Managementratgebers aus Dänemark. Unboss bezieht sich dabei sowohl auf eine Person, den Nicht-Boss, als auch auf die Praxis des Ent-Bossens.[6] Der CEO der Schweizer Pharmafirma Novartis gehört zu den Fans des Konzepts und rief unlängst zum konzernweiten »unbossing« auf – ihn selbst natürlich ausgenommen.[7]

Holacracy, ein weiterer aktueller Managementtrend, propagiert dies ebenfalls: Hierarchien sollen aufgelöst werden, verkündet ihr Erfinder Brian J. Robertson, es gebe fortan kein oben und unten mehr, sondern nur noch nebeneinander: »Holacracy macht jeden Menschen im Unternehmen zu einer Führungsperson, wodurch maximale Agilität und Flexibilität erreicht werden.« Ziel sei es, durch die Verteilung von Autorität den Informationsfluss zu verbessern, die »Möglichkeit, auf sichere und praktikable Weise wirksam Macht zu verteilen und durch einen Leitungsprozess, der auf einem Regelwerk basiert, Selbstorganisation zu ermöglichen«. Die Hierarchie wird also in ein von allen anerkanntes Regelwerk verschoben, das selbst nicht hinterfragt wird, irgendwo zwischen intrinsischer Ratio und Sachzwang. Das schöne Modell hat also, das gesteht auch Robertson ein, seine Grenzen: »Der Vorstand ist kaum davon beeinflusst.«[8] Martin S., ehemaliger CEO eines Softwareunternehmens, drückt das so aus: »Egal wie die Kinder spielen, ob mit mehr oder weniger Work-Life-Balance, am Ende verkauft der Besitzer das Ganze für ein paar Millionen. An den Besitzverhältnissen ändert sich nix, Macht bleibt bei denen, denen das Ganze gehört, wie die Kinder sich organisieren oder spielen, ist egal, Hauptsache, sie liefern.«

Dieser Wandel in der Rolle des Managements hat mit seinem Gegenstand zu tun. Ob es um das Herumtragen von Roheisen, das Montieren von Autos oder Codeentwicklung geht – andere Kulturen und Umgangsformen gehen mit der zunehmenden Komplexität und auf dem Weg von der Hand- zur Kopfarbeit einher. In dem Maße, in dem nicht mehr die Arbeitsleistung der Untergebenen im Vordergrund steht, sondern deren kreative Verausgabung von gedanklicher Arbeit, ändern sich auch die Umgangsformen – der Ton macht die Musik: Auf der Baustelle geht es rauer zu als in der kognitiven Kreativklitsche, daher geht der neue Chef ganz behutsam vor. Er agiert Ulrich Bröckling zufolge als »guter Hirte« des Humankapitals, achtsamer Begleiter der Kreativprozesse, wendet »sanfte Selbst- und Sozialtechniken« an und verlässt sich auf den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«.[9]

Dass der Generation Z (den ab 1995 Geborenen) das Chef-Sein gar nicht mehr attraktiv erscheint, passt da natürlich ins Bild. »Etwas Sinnvolles tun, flexibel arbeiten und Verantwortung für Projekte übernehmen: So sieht die moderne Karriere aus. Chef werden? Gehört nicht dazu. Die kriegen Druck von oben, Druck von unten und werden peu à peu zerrieben. Was soll daran erstrebenswert sein?« Mit diesen Worten erklärt uns Triumph-Adler, wie sich die Generation Z den neuen Chef vorstellt: Der Typ Schleifer ist out, der Chef soll sich kümmern – von Chefinnen ist wieder einmal in diesem Kontext nicht die Rede. »Mit 60-Stunden-Wochen und nächtlichem Beantworten von E-Mails können die Jugendlichen der Generation Z nichts anfangen«, gibt auch Unternehmensberater Rüdiger Maas zu Protokoll und fährt fort: »Wenn Führungskräfte stolz davon erzählen, wie sie morgens die Ersten im Büro sind und abends das Licht ausknipsen, ernten sie bei Digital Natives nur Kopfschütteln. Da haben sich Werte verschoben.«[10] Und im Future Talents Report der Unternehmensberatung Clevis, die sich um die Rekrutierung der Jüngsten sorgt, steht zu lesen: »Die Generation Z ist daran gewöhnt, dass man sich um sie kümmert.« Die jungen Frauen und Männer suchen einen eher familiären Chef, der sich als Mentor versteht«[11].

Halten wir fest: Der alte Chef ist von der Bildfläche verschwunden (nochmals: die alte Chefin war dort fast nie aufgetaucht, und auch der »neue Chef« wird, sofern aus Fleisch und Blut, männlich gedacht.). Selbstorganisation ist angesagt, das Management verjagt, und wie nach einer richtigen Revolution können sich die Revolutionäre nun selbst organisieren und an die Bewältigung der anstehenden Aufgaben machen. Das Management wird in der agilen Kulturrevolution einfach beiseitegeschoben, das Team organisiert und steuert sich selbst. Auch wenn der »alte Chef« verschwunden, durch sanfte Coaches oder achtsame Kumpel ersetzt oder gleich gänzlich abgeschafft ist, seine Rolle vom Team mitübernommen wird, so ganz ohne control geht es auch nicht, denn, wie schon Lenin wusste: Vertrauen (sprich: Selbstkontrolle) ist gut, Kontrolle (sprich: »richtige« Kontrolle) ist besser! [12]

Fussnoten

  1. Phoebe V. Moore, The Quantified Self in Precarity: Work, Technology and What Counts. Taylor and Francis, London 2017, S. 62.
  2. Niklas Luhmann, Jürgen Kaube, Der neue Chef. Suhrkamp, Berlin 2016, S. 38.
  3. Ebd., S. 90.
  4. Reinhardt Zudrop, »Zum Verständnis von Agilität«. In: Digitalforum Führen 2019, 7.11.2018.
  5. Ève Chiapello im Gespräch mit Yann Moulier Boutang, S. 171.
  6. Jacob Bøtter, Lars Kolind, Unboss. [E-book]. Jyllands-Postens Forlag, Kopenhagen 2012.
  7. Dirk Schütz, »›Unboss your company‹: Die Novartis-Revolution«. In: Handelszeitung, 5.7.2019.
  8. Brian J., Robertson, Mike Kauschke, Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. Verlag Franz Vahlen, München 2016, S. 23, 154.
  9. Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft, S. 9.
  10. Ebd.
  11. Clevis Consult, FUTURE TALENTS REPORT – DIGITAL GAME CHANGER IM FOKUS, https://www.clevis.de/future-talents/ externer Link
  12. Das einschlägige Lenin-Zitat ist nicht belegt, wohl aber die Verwendung des russischen Sprichworts Доверяй но проверяй (Vertraue, aber prüfe nach).
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180064
nach oben