»Viele Probleme kann man selber lösen«. Interview mit Nadine Seyler zu Strategien der Selbstbehauptung gegen Belästigung
„Seit die serienmäßige Belästigung von Schauspielerinnen durch den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein öffentlich wurde, werden immer mehr Fälle von übergriffigen Prominenten bekannt. Wie Jane Slaughter in ihrem Text für die Labor Notes verdeutlicht, ist Belästigung mitnichten bloß ein Thema des internationalen Jetsets; gerade am unteren Ende der Lohnskala ist sie insbesondere für viele Frauen Bestandteil des Arbeitsalltags. Wir ergänzen diesen Beitrag um einen kursorischen Überblick über Rechtslage und Ratgeberliteratur in Deutschland und um ein Interview mit der feministischen Selbstbehauptungstrainerin Nadine Seyler…“ Interview mit Nadine Seyler (*), erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 11/2017:
express: Liest man die gewerkschaftliche Ratgeberliteratur zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, so setzt diese in der Regel vorbildliche betriebliche Strukturen voraus, in denen mindestens ein Betriebsrat existiert und / oder eine Frauenbeauftragte, an die man sich wenden kann. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Was ratet Ihr, wenn die Betroffenen gar keine Stelle vorfinden, an die sie eine Beschwerde oder eine Bitte um Unterstützung richten könnten?
Nadine Seyler: Eine Bemerkung vorweg kann ich mir nicht verkneifen: Auch wenn Betriebsräte existieren, ist das leider oft keine verlässliche Anlaufstelle. Wir machen häufig die Erfahrung, dass Betriebsräte trotz ihres Auftrags ziemlich auf dem Schlauch stehen, wenn sie mit Fällen sexueller Belästigung konfrontiert sind. Ich finde das wichtig zu erwähnen, weil der Verweis auf bestimmte Anlaufstellen im Betrieb viele Frauen frustriert zurücklässt, wenn diese dann doch nicht aktiv werden.
Aber zur eigentlichen Frage: Es kommt natürlich immer auf die Form und das Ausmaß der Belästigung an, was man machen kann. Ganz grundsätzlich ist unser Rat im Sinne feministischer Selbstbehauptung aber immer, etwas zu sagen. Aus unseren Kursen weiß ich, dass es oft um vermeintliche Kleinigkeiten geht: Sprüche, als Witze getarnte Sexismen, ein »kollegiales« In-den-Arm-Nehmen oder sich mit viel überflüssigem Körperkontakt über die Schulter zu beugen, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Das passiert beiläufig, führt aber doch dazu, dass das Wohlbefinden und das Sicherheitsgefühl eingeschränkt sind. Hier ist mein Motto: konfrontieren und fordern, dass das aufhört.
Das ist natürlich leicht gesagt. Einfach zu sagen »Wehr Dich doch!« ist schwierig bei Personen, die gelernt haben, dass Konfrontation Pfui Teufel ist. Deswegen arbeiten wir genau an dieser Hürde, überhaupt den Mund aufzumachen. Was Frauen vermuten, wenn sie daran denken, sich zu wehren, ist oft: Es wird schlimmer, wenn ich was sage, ich stehe als Spaßbremse oder als Kolleginnensau da… Die Erfahrung und die Berichte von Kursteilnehmerinnen zeigen das Gegenteil: Wenn sie sich wehren, wird es in aller Regel besser. Wichtig ist, klar zu benennen, was passiert, und klar auszusprechen, dass das aufhören soll. Derart
Klartext zu sprechen, fällt vielen Frauen schwer, kommt aber meiner Erfahrung nach bei Männern, die Grenzen verletzen, sehr gut an.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz findet überwiegend im Rahmen von formellen oder informellen Hierarchien statt. Dem üblichen Muster zufolge sind diejenigen, von denen die Belästigung ausgeht, männlich, älter und länger im Betrieb als die Betroffenen und oft auf einer übergeordneten Position beschäftigt. Wie sieht eine Strategie der Selbstbehauptung aus, die diese Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse in Rechnung stellt? Unterscheidet sie sich von anderen Kontexten?
Klares Nein. Es immer eine Abwägungssache, aber in aller Regel gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der betreffende Vorgesetzte ist jemand, der es überlebt, wenn ihm eine deutliche Grenze gesetzt wird, und der das akzeptiert. Dann ist das Verhältnis in aller Regel geklärt und viel besser als vorher. Das ist der Effekt, dass ich als Frau eine andere Form von Respekt bekomme, wenn ich Grenzen deutlich mache. Die zweite Möglichkeit ist, dass das Gegenüber mit Grenzen nicht umgehen kann und es dann schlimmer macht. Aber da würde ich meine Teilnehmerinnen fragen: Wenn Du so jemanden vor Dir hast, was passiert, wenn Du nichts machst? Das Motto ist immer, deutlich zu machen, was geht und was nicht, was zum Arbeitsverhältnis dazugehört und was am Arbeitsplatz nichts zu suchen hat.
Unter Selbstbehauptung verstehen wir dabei alles, was sich nicht in einer hoch eskalativen Situation abspielt. Es geht um die Angemessenheit der Mittel, die ich brauche. Selbstbehauptung meint mögliche Mittel in Situationen, in denen mein Gegenüber mich noch nicht aggressiv angeht und mich beispielsweise in die Ecke drängt und mir unter den Rock greift. Da würde ich handgreiflicher werden. Selbstbehauptung meint all die Sachen, die ich im Vorfeld machen kann. Auch diese massiveren Übergriffe haben in aller Regel Vorläufer, bei denen ausgetestet wird, wo die Grenzen sind. Leider lernen viele Frauen, dass sie das erstmal ignorieren sollen und so tun sollen, als wäre nichts. Schon Mädchen lernen: Reagier‘ einfach nicht darauf, dann wird es ihm irgendwann langweilig. So kann ein Gegenüber sich aufbauen, bis hin zu physischen Angriffen, bei denen man ihm wehtun muss, um das zu beenden. Also, kurz gesagt beschreiben Selbstbehauptung und Selbstverteidigung unterschiedliche Ebenen der Eskalation. Selbstbehauptung bezieht sich eher auf Alltägliches. Selbstverteidigung im Sinne von Zuschlagen bezieht sich eher auf Notwehrsituationen.
Neben den »allgemeinen« Selbstbehauptungsseminaren, die Ihr anbietet, habt Ihr auch ein spezielles Angebot zu Belästigung am Arbeitsplatz. Von wem wird das wahrgenommen? Sind es bestimmte Betriebe oder Berufsgruppen, aus denen die Teilnehmerinnen kommen? Und wie kommen die Seminare zustande? Werden sie über Betriebsräte oder gewerkschaftliche Gremien initiiert, oder wie läuft das?
Viele von den arbeitsplatzbezogenen Erfahrungen stammen aus unseren laufenden Kursen, in denen Teilnehmerinnen auch auf ihre Arbeitssituation zu sprechen kommen. Das andere sind Tagesseminare, die von manchen Trainerinnen und auch bei uns in Mittelhessen angeboten werden. Die wurden anfangs vor allem von Verwaltungen angefragt. Auch mit jungen Frauen aus ganzen Ausbildungsjahrgängen haben wir das gemacht. Sehr stark gefragt sind Seminare für Mitarbeiterinnen von Jobcentern und anderen Verwaltungseinheiten, die viel Publikumsverkehr haben. In einem einzelnen Fall wurden wir von der Frauenbeauftragten eines größeren Unternehmens eingeladen.
Gewerkschaften sind da äußerst zurückhaltend, Seminare für ehrenamtliche oder betriebliche Gremien zu organisieren, obwohl wir immer mal wieder in entsprechenden Rundschreiben auf unser Angebot hinweisen. Die Resonanz ist sehr gering, obwohl es uns eigentlich naheliegend zu sein scheint, Seminare auf diesem Weg laufen zu lassen. Die Vertretung durch Betriebsräte ist zweifellos wichtig, ebenso wie eine juristische Ebene als Bezugspunkt wichtig sein kann. Aber viele Probleme lassen sich eben auch unmittelbar selber lösen. Ich meine damit keine neoliberale Selbstoptimierung; wir machen die Seminare ja immer in Gruppen, um Austausch zu ermöglichen und zu verdeutlichen, dass die Probleme strukturelle Ursachen haben und nicht auf persönliche Fehler der Betroffenen zurückzuführen sind. Eigentlich müsste das gut in einen gewerkschaftlichen Rahmen passen.
Es gab in den letzten Jahren mehrere Wellen der öffentlichen Empörung über sexuelle Belästigung – die #aufschrei-Kampagne, dann die rassistisch instrumentalisierte Empörung über die Silvesternacht von Köln. Inwiefern macht sich das in Eurer Arbeit bemerkbar? Wächst das Interesse an Euren Angeboten? Haben sich die Erwartungen der Teilnehmerinnen geändert?
Besonders krass war die Köln-Diskussion. Sogar aus Verwaltungen haben wir daraufhin mehr Anfragen bekommen, weil die Mitarbeiterinnen ihre Frauenbeauftragte gedrängt haben, ein Seminar zu organisieren. Die Vorstellung vom »übergriffigen Ausländer« findet sich immer mehr in allen unseren Kursen, ob sie in unserem offenen Angebot stattfinden oder auf Bestellung. Das kursiert als diffuse Angst – ich frage immer nach, was denn passiert ist, und die Antwort ist meist: Man hört ja so viel! Die Arbeit auch an rassistisch verknüpften Ängsten war schon immer eins unserer Themen, aber es nimmt viel mehr Raum ein. Der Unbekannte, vor dem man früher Angst hatte, scheint jetzt bekannt zu sein, und er ist Flüchtling oder ein anderer Ausländer.
Die genannten Diskussionen mündeten Ende 2016 in eine Strafrechtsreform. Teil derselben war auch die erstmalige Einführung von »sexueller Belästigung« als Straftatbestand. Wie beurteilst Du das?
Schwierige Frage. Ich finde die Tendenz beunruhigend, alles an Vater Staat zu verlagern und sich darauf zu verlassen, das Gesetze Probleme lösen, wenn doch diese Gesellschaft von struktureller Gewalt durchdrungen ist. Es reicht einfach nicht: Wir bräuchten eine andere Gesellschaft mit mehr Geschlechtergerechtigkeit, das wäre der beste Weg gegen sexualisierte Gewalt. Das Vertrauen in den Staat reproduziert auch immer das Bild der wehrlosen Menschen, die jemanden brauchen, der die Dinge für sie richtet.
Es ist natürlich manchmal gut, Frauen darauf hinweisen zu können, dass sie diese Rechte haben, zum Beispiel wenn es Probleme damit gibt, erlebte Gewalt auch als Gewalt zu definieren. Damit sind wir viel konfrontiert, dass Frauen heftigste Sachen bis hin zu Vergewaltigungen erleben und sich dennoch nicht sicher sind, ob das nun Gewalt ist. Da ist es hilfreich sagen zu können, das bestimmte Dinge klar definiert und geregelt sind. Aber das ist eben nur eine Ebene.
Ganz allgemein würde ich Frauen, die keine betriebliche Anlaufstelle haben, raten, Kurse zu machen, sich Unterstützung zu holen und sich Ideen zu holen, wie sie sich wehren können: Denn sie können sich wehren und sie dürfen sich wehren. Sie müssen von dem Gedanken wegkommen, dass es schlechter wird, wenn sie das tun. Oft sagen Frauen: Aber ich habe doch gesagt, dass ich das nicht will. Was sie gesagt haben, ist dann häufig auch wirklich genau so gemeint, aber was rauskommt, ist zum Beispiel oft eine Frage, deren eigentliche Absicht vom Gegenüber gar nicht wahrgenommen wird. Daran kann man arbeiten, dass das, was ich fühle, auch wirklich unüberhörbar formuliert wird.
Umgekehrt habe ich wirklich schon sehr viele Geschichten gehört von Frauen, die in beruflichen Zusammenhängen die Klappe aufgemacht haben, und die hinterher besser da standen als vorher. Das hört man immer viel zu wenig. Ich hatte mal eine junge Frau, die in einem Pool von drei Auszubildenden war, und sie hat sich massiv mit dem Chef angelegt und ihn rund gemacht. Am Ende war sie die einzige, die übernommen wurde. Das ist etwas, was selten gesehen wird, aber sehr häufig passiert: Dass Frauen erst richtig wahr- und ernstgenommen werden, wenn sie deutlich sagen: »Das läuft nicht!«
* Nadine Seyler ist Vorstandssprecherin des Bundesfachverbands Feministische Selbstbehauptung und Selbstverteidigung e.V. mit Sitz in Marburg.
Weitere Informationen zum Verband unter www.bvfest.de