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Weltsozialforum 2013 in Tunesien: 26.-30. März 2013 in Tunis. Ein chronologisch-inhaltlicher Bericht – Teil 1
Artikel von Bernard Schmid vom 03.04.2013. Siehe dazu auch seine kommentierten Fotostrecken
Türkisgrün breitet sich die Bucht von Tunis bei der Landung unten aus. Aber es bleibt keine Zeit, den Touristen zu spielen. Wir schreiben den Dienstag, 26. März 2013 gegen 11 Uhr vormittags. Soeben in Tunis-Carthage gelandet, steige ich in das Auto von Mongi Ben Barek, Vorsitzender des Branchenverbands der UGTT im Bereich PTT (Post & Telekommunikation). Und los geht es in den Stadtteil Monplaisir – nordöstlich vom Zentrum der tunesischen Hauptstadt -, wo in der Avenue Kheireddine Pasha der multinationale Konzern Téléperformance seinen Sitz für Tunesien hat.
26. März: Grenzübergreifende Streikunterstützung
Téléperformance ist ein 1978 gegründetes Unternehmen mit Hauptsitz in Paris, das dort börsennotiert ist und in mehreren Ländern Call Centers betreibt. Seine tunesische Filiale, deren Lohnabhängige ungefähr ein Fünftel so viel verdienen wie Beschäftigte in Frankreich in vergleichbarer Situation (225 Euro), betreibt den Telefonservice für mehrere führende französische Unternehmen.
Das Kapital ist zum Teil in Streubesitz, einer der größten Einzelaktionäre ist der französische Flugzeugbauer und Rüstungsindustrielle Dassault. Zwei Drittel des Kapitals befinden sich in französischer, ein Drittel in britischer und nordamerikanischer Hand. Das Unternehmen ist eng mit der französischen politischen Elite, aber auch mit Machthabern und früheren Machthabern in Tunesien verflochten. In seinem Aufsichtsrat sitzt ein Senator der französischen konservativ-wirtschaftsliberalen UMP. Der Gründer des tunesischen Ablegers von Téléperformance, Jacques Berebi (vgl. http://www.tuniscope.com/index.php/article/11472/actualites/marques/berebi-263222 ), wurde noch 2010 durch den damaligen Diktator Zine el-Abidine Ben ‘Ali in seinem letzten Amtsjahr mit einem Orden ausgezeichnet. Das Unternehmen ist, wie andere seiner Art, in Tunesien weitgehend steuerbefreit.
Téléperformance verhält sich in Tunesien wie ein, mit Verlaub, Schweinekonzern. Ein Tarifabkommen besteht auf dem Papier seit dem Jahr 2010, es wurde jedoch noch nie angewandt. Die örtliche Direktion wird von Lohnabhängigen beschuldigt, die Prämien für das Personal selbst einzusacken (vgl. http://www.leparisien.fr/economie/tunisie-le-mal-etre-des-employes-des-centres-d-appels-de-teleperformance-02-04-2013-2690683.php ). Ende Februar d.J. lösten zehn Entlassungen von Lohnabhängigen einen Aufschrei des Personals aus. Das Unternehmen praktiziert schon aufgrund geringfügiger Anlässe – wie fünfminütigen Verspätungen – Lohnzurückhaltungen und verhängt Sanktionen. Unausgesprochener Hintergrund dafür ist, dass das Unternehmen versuchen möchte, einen möglichst starken Turn-Over zu wahren, um eine längerfristige Verfestigung von Arbeitsverhältnissen zu vermeiden (welche die Firma theoretisch zu Lohnerhöhungen mit fortdauernder Betriebszugehörigkeit zwingen würden). Seit Ende Februar 13 streikt deswegen ein Teil des Personals. Neun Tage lang waren Beschäftigte, in der ersten Märzhälfte, sogar im Hungerstreik.
An diesem 26. März treffen Delegationen der französischen Gewerkschaftsverbände Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss der SUD-Gewerkschaften) und CGT vor der glitzernden Fassade von Téléperformance-Tunesien ein. Zusammen mit streikenden Beschäftigten halten sie eine Kundgebung ab, nachdem SUD-PTT (die SUD-Gewerkschaft im Bereich Telekommunikation) und die CGT-PTT bereits zuvor am Unternehmenssitz in Frankreich Druck auf den multinationalen Konzern ausgeübt hatten. Auch der frühere Präsidentschaftskandidat der radikalen Linken 2002 und 2007 (und SUD PTT-Aktivist), Olivier Besancenot, taucht auf. Tunesische und internationale JournalistInnen sind vor Ort. Die Kundgebung bewirkt zumindest, dass noch an jenem Dienstag, 26. März in Tunis formelle Verhandlungen durch das Unternehmen aufgenommen werden. Allerdings legt die Direktion keinerlei Angebote auf den Tisch, und die Verhandlungsrunde wird zur Farce; fünf Tage später flammt der Streik deswegen am Montag, den 01. April umso stärker wieder auf, mit nunmehr 80 % Beteiligung. (Vgl. http://www.lemonde.fr/economie/article/2013/04/01/greve-massive-des-salaries-dans-des-centres-d-appel-en-tunisie_3151538_3234.html ) SIEHE DAZU AUCH UNSERE FOTOSTRECKE, den Bericht über die Debatte auf dem WSF über die Call Centers am Freitag, den 29. März (vgl. Teil 3).
Gegen 13 Uhr löst sich die Kundgebung auf. Nach einer kurzen Stärkung am frühen Nachmittag geht es dann weiter auf die Avenue Bourguiba im historischen Zentrum von Tunis. Dort nimmt bereits die Auftaktkundgebung zum WSF Aufstellung, die um 16 Uhr losgehen wird. An ihr nehmen, lt. realistischen Schätzungen, circa 15.000 bis 20.000 Menschen teil. Beim Weltsozialforum insgesamt, dessen Debatten sich über die folgenden drei Tage hinziehen, sind rund 60.000 Einzelpersonen eingeschrieben – unter ihnen auch viele tunesische Bürger/innen, junge und ältere, die aus Neugier und persönlichem Interesse vorbeigucken. Hingegen wird die Demonstration zahlenmäßig eher durch die internationalen Teilnehmer/innen dominiert.
26. März: Demonstration zum Auftakt des WSF
„Mut zur Lücke“ ist angesagt! Auf einmal setzt eine kleine Gruppe von Leuten mit Transparenten, die überwiegend arabische Aufschriften tragen, dazu an, sich an die Spitze zu stellen. Die meisten ausländischen Teilnehmer dürften nicht wissen, um wen es sich handelt. Auch wer arabisch lesen kann, erkennt auf den Transparenten wenig aussagende Namen. Wie etwa „Tunesische Frauenvereinigung“ (Gami’aa Nisa Tunsia), das auf dem mittleren Leintuch steht, obwohl die Träger ausschließlich junge Männer sind.
Die Gruppe von ein bis zwei Dutzend Leuten gehört zu den „Ligen zum Schutz der Revolution“ – LPR -, die der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha seit Jahresmitte 2012 als Fußtruppe zur Straßenmobilisierung und als eine Art (meist unbewaffnete) Miliz dienen. Beobachter identifizieren einen ihrer Anführer, der nach einem Fußballspieler gewöhnlich „Recoba“ genannt wird und in Wirklichkeit Mohamed Amine Akid heißen soll (vgl. http://www.businessnews.com.tn/Recoba-agress%C3%A9-%C3%A0-la-place-Barcelone-%C3%A0-Tunis,520,36151,4 ; es gibt aber auch noch andere, abweichende Angaben zu seinem bürgerlichen Namen).
Da die Sache vielen Teilnehmer/inne/n der internationalen Demonstration nicht geheuer ist, lässt man die Gruppe vorweg laufen, um danach 200 oder 300 Meter Lücke zu wahren. Dann folgt die eigentliche Demonstrationsspitze: Die Familienangehörigen von jungen Tunesiern, die während der ersten Phase der Revolution im Dezember 2010 und Januar 2011 durch die Polizei getötet wurden, tragen Bilder ihrer toten Kinder oder Geschwister vor sich hin. Neben ihnen gehen Invaliden an Krücken oder werden im Rollstuhl geschoben. Auch sie wurden während der Wochen der Revolte gegen das damalige Ben ’Ali-Regime durch Schusswaffen verletzt. Gemeinsam ist ihnen die Forderung nach angemessener Entschädigung und symbolischer Gerechtigkeit: „Wir vertrauen der Militärjustiz nicht!“, proklamieren sie. Bislang sind die Prozesse gegen Angehörige der Repressionskräfte einer speziellen Militärgerichtsbarkeit anvertraut, die Prozesse kommen kaum voran. Auch En-Nahdha zeigt kein sonderliches Interesse daran, dass es vorangeht. Die Partei war damals zwar in der Opposition. Doch in diesen ersten Wochen der Revolte blieb sie den Demonstrationen, die vom küstenfernen und weitaus ärmeren Landesinneren Tunesiens ausgingen, noch fern. Erst als die Protestbewegung die Hauptstadt Tunis erreichte, änderte sich das damals. Die Parteistrukturen von En-Nahdha waren zu jener Zeit im Land weitgehend zerschlagen, aber die Botschaften der Partei wurden etwa über Mitglieder der Anwaltskammer von Tunis weitergegeben.
Auf diese beeindrucke Eröffnung folgt ein in jeglicher Hinsicht buntes Gemisch von Menschen mit unterschiedlichen Anliegen: Schuldenstreichung für die so genannte Dritte Welt, Kampf gegen CO2-Emissionen oder Bewegungsfreiheit für Migranten. Es gibt an einigen Stellen auch islamistische Inhalte, etwa „Schutz für Familien mit islamischen Prinzipien“. Diese bleiben aber insgesamt sehr marginal. Ob es eine gemeinsame, themenübergreifende Botschaft gibt, ist schwer auszumachen, es herrscht eher ein Eindruck von Heterogenität jenseits allgemeiner Grundanliegen – für mehr Gerechtigkeit – neben länderspezifischen Anliegen.
Menschen aus der Westsahara fordern die Selbstbestimmung ihres seit 1975 durch Marokko besetzten – und zuvor durch Spanien kolonisierten – Landes, das sie als „letzte Kolonie in Afrika“ bezeichnen. Aber es gibt einige Dutzend Meter weiter auch Sprechchöre von Marokkanern gegen genau dieses Anliegen. Meist treten die marokkanischen Nationalisten unter dem Deckmantel von NGOs oder „Vereinigungen aus der Zivilgesellschaft“ auf. Doch mit der Unabhängigkeit ist es in dem Fall nicht weit her: Am Wochenende zuvor fand im marokkanischen Außenministerium eine Sitzung zum Briefen von Teilnehmern am WSF statt. (Vgl. http://fr.lakome.com/index.php/politique/547-fsm-2013-la-societe-civile-marocaine-encadree-par-le-ministere-des-affaires-etrangeres ) Nicht alle, aber doch manche marokkanischen Gewerkschaften oder Vereine spielten mit.
Über vier Kilometer hin zieht sich der Fußmarsch in Richtung El-Manar. In diesem Stadtteil, nordwestlich des Stadtzentrums, findet auf dem Universitätsgelände das Sozialforum statt.
A propos Staatsapparate…
A propos Staatsapparate und Nationalisten: Leider treiben sich nicht nur marokkanische auf dem Sozialforum herum… Staatsapparate sind theoretisch bei Weltsozialforen unerwünscht, die ansonsten einen Jahrmarkt für unterschiedliche Ausdrucksformen darstellen: Kommerzielle Werbung für NGOs, für Esperanto als Weltsprache oder „Weltbürgerpässe“, gewerkschaftliche Organisierungs- und philosophische Orientierungsangebote.
Richtig durchgehalten wurde dieses Prinzip einmal mehr nicht, sondern staatliche oder staatsnahe Akteure unterschiedlicher Provenienz konnten sich de facto darüber hinwegsetzen. Die dem US-Außenministerium nahe stehende und von ihm finanzierte Entwicklungsagentur US-AID präsentiert sich an einem Stand als NGO, und die brasilianische Ölfirma Petrobras hat das gemeinsame Hauszelt der Vereinigungen aus ihrem Land gestiftet. Das Königreich Saudi-Arabien tritt nicht mit Personen direkten in Erscheinung, aber stellte weiße Zelte als Regenschutz zur Verfügung, die die unwahrscheinliche Aufschrift Saudi Arabia, kingdom of humanity tragen. Am folgenden Tag ist allerdings von dem Text kein Buchstabe mehr zu erkennen, er verschwindet unter dicker roter Farbe. Daneben hat jemand systematisch Anti-system geschrieben.
Den wohl schlimmsten Fall quasi-staatlicher Präsenz bildet die einer iranischen Propagandaorganisation (natürlich regimenahe, oder könnte sich jemand ernsthaft vorstellen, dass iranische Oppositionelle in Ruhe nach Tunis aus- und wieder nach Teheran einreisen?). Am ersten Tag gibt sie sich nicht offen zu erkennen. Sie legt jedoch in einem der Innenhöfe der Universität El-Manar, wo das WSF stattfindet, Fotos zu israelischen Militäraktionen in Gaza mit der einwandfrei geschichtsrevisionistischen Überschrift The real holocaust aus. Man muss schon sehr genau hingucken, um das Logo der Islamischen Republik Iran zu erkennen. Am übernächsten Tag packen die bärtigen Standwächter, die mit einer Kamera eventuelle Widersacher filmen, dann jedoch die Staatsfahne ihres Folterregimes und ein Khomeinei-Portrait aus, in den allerletzten Stunden auch einen aufblasbaren Riesenpenis mit der Überschrift Zionism = Racism.
Gleichzeitig bekommen sie an zwei Nachmittagen hintereinander Ärger mit Opponenten, die direkt gegenüber „Unabhängigkeit für Ahwaz“ fordern, eine arabischsprachige und überwiegend sunnitische Provinz im Südwest-Iran. Sie bezeichnen die Iraner als Safaoui („Safawiden“), nach der Bezeichnung einer persischen Dynastie im 15. Jahrhundert, heute in sunnitisch-islamistischen Kreisen als Schimpfwort für Schiiten üblich. Als die Konfrontation sich zuzuspitzen beginnt, gehen am Freitag Nachmittag Menschen mit tunesischen und ägyptischen Fahnen dazwischen und verdecken beide streitenden Lager. Eine tunesische Forumsteilnehmerin meint dabei im Vorübergehen, die Iraner hätten hier nichts zu suchen. Ein Landsmann wendet ein, er sei strikt gegen das Teheraner Regime, aber man müsse „das Regime beschimpfen, jedoch nicht die Schiiten oder das iranische Volk als solche“.
Solche Akteure, die auf einem progressiven Forum ganz gewiss nichts zu suchen haben sollten – die iranischen Regimeschweine hätte man unbedingt (tot oder lebendig) „zurück zum Absender“ nach Teheran befördern müssen -, sind in den Räumen unter freiem Himmel optisch präsent. Also im Innenhof der Universität von El-Manar. Auch tunesische Islamisten, etwa mit Buchläden. Dort, wo das Weltsozialforum arbeitet – in rund 1.200 Workshops, Debatten und thematischen Plenarsitzungen – sind solche Kräfte jedoch kaum bis gar nicht vertreten. Islamisten unterschiedlicher Couleur nehmen an vielleicht zehn Veranstaltungen, darunter eine prominent besetzte und gut besuchte Diskussionsrunde mit Tariq Ramadan, als Mitdiskutanten auf Podien teil. Keine Spur ist bei den Debatten von Saudis oder Iranern zu sehen. Was auch gerade noch gefehlt hätte…
Nun aber zu den erfreulicheren und produktiveren Aspekten des Weltsozialforums, die zum Glück erheblich in der Überzahl sind… Weiter zu den Debatten, Ateliers und Foren geht es am morgigen Tag in TEIL 2 und TEIL 3.