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Das Weltsozialforum 2013 in Tunis: Ein chronologisch-inhaltlicher Bericht – Teil 2
Artikel von Bernard Schmid vom 05.04.2013. Siehe dazu auch seine kommentierten Fotostrecken
Mittwoch, den 27. März 13, Vormittag: Workshop zu Libyen
Als ersten Workshop sehe ich mir am Mittwoch früh den angekündigten Workshop zu Libyen an. Dafür interessieren sich auch gut zwei Dutzend Menschen aus Algerien, Tunesien, aus Deutschland und Frankreich, und aus Nordamerika.
Aufgrund der (bei internationalen Sozialforen üblichen) organisatorischen Probleme beginnt der Workshop mit gut einstündiger Verspätung. Der als Forscher tätige ’Ali Hamouda Hassan und seine Mit-Referent/inn/en – Mahaba, Nabil und Amina – berichten zunächst über die Gründung ihrer Gruppe, die 2008 unter dem Namen Free Libue Group entstanden ist. Heute hört sie auf den Namen Libue Foundation for support freedom and human rights. Sie setzte sich damals für Menschenrechte und Korruption ein, und publizierte Informationen im Internet. Einige ihrer Gründer wurden unter dem damaligen Regime von Mu’ammar Al-Qadhafi (eingedeutscht Gaddafi) ins Gefängnis geworfen. Auf Nachfrage hin ergibt sich, dass ’Ali Hamouda der erste libysche politische Gefangene war, der seine Festnahme dem Export eines Internet-Überwachungsprogramms unter dem Namen „Blue Eagle“ durch den französischen Elektronikkonzern Bull und seine Filiale Amésys verdankte.
Die aktuelle Situation, was die Menschenrechte betrifft, schildern sie als widersprüchlich. Zwar unterschrieb das „neue“ Libyen inzwischen mehrere internationale Menschenrechtsabkommen. Aber noch immer kommt es zu willkürlichen Verhaftungen – ohne Anklage oder Justizbeschluss -, und zu Misshandlungen oder Folterungen von Festgenommenen, allerdings heutzutage vor allem in den ersten Tagen des Freiheitsentzugs. In den Behörden gebe es zum Teil jedoch durchaus den Wunsch nach Verbesserungen und verstärkter Kontrolle. Das aktuelle Hauptproblem Libyens sei jedoch, dass viele bewaffnete Gruppen (die aus den Rebellenverbänden von 2011 hervorgingen) völlig eigenmächtig agieren und sich zum Teil nach wie vor jeglicher Kontrolle entziehen. Zudem gebe es in den Staatsorganen oft schlichtweg keinerlei Kenntnis von rechtlichen Verfahren, welche Willkür eindämmen könnten. Unter anderem müsse auch der Bildungssektor, den Al-Qadhafi bewusst vollständig habe verkommen lassen, um die Bevölkerung möglichst unqualifiziert zu halten – Alles andere hätte ihm Angst bereitet – vollkommen überholt und neu aufgebaut werden.
Um Migranten-Rechte, für die sich unter anderem der Verf. dieser Zeilen interessierte, ging es in dem Workshop leider nicht, da sich andere NGOs stärker zu diesen Themenbereichen etabliert hätten. Die Libue-Stiftung bot an den darauffolgenden Tagen selbst noch weitere Workshops zu komplementären Themen an. Aufgrund des Überangebots an gleichzeitig stattfindenden, inhaltlich interessanten Veranstaltungen (und des Wunschs nach einem möglichst breiten inhaltlichen Überblick) folgte der Verf. dieser Zeilen dann allerdings anderen Themensträngen.
14 Uhr: Rohstoffabbau und Menschenrechtsverletzungen – Enttäuschende Diskussion
Als (in der Gesamtschau) ein Griff ins Klo, trotz sicherlich im Einzelnen interessanter Anwesender, erweist sich die Debatte um 14 Uhr. Ihr Gegenstand ist „Bergbau/Rohstoffabbau, Menschenverletzungen, soziale-ökologische Verbrechen und Widerstände dagegen“. Ein gutes und reichhaltiges Thema.
Verdorben wird die Debatte allerdings von vornherein bereits durch haarsträubende organisatorische Probleme. Die Akustik in dem großflächigen Hörsaal ist derart sauschlecht, dass der Autor – in der zweiten vorderen Reihe sitzend – die Hälfte der Beiträge nicht richtig hört, und die andere Hälfte nur mit Überwindung. Der Eindruck, der sich aus den nur sehr stückwerkhaft mitbekommenen Inhalten ergibt, ist jedoch auch kein besonders guter. Manche Redebeiträge erschöpfen sich in moralisierendem Pathos, es wird keine gemeinsame Perspektive erarbeitet. Ein tunesischer Redner erinnert – inhaltlich ist sein Beitrag vielleicht der wertvollste – an die Revolte im tunesischen Bergbaubecken von Gafsa, von Januar bis Juli 2008. Die Massenproteste richteten sich gegen mafiöse Einstellungspraktiken in dieser armen Region, in welcher eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, während Menschen aus verschiedenen Landesteilen damals gegen Bezahlung von Geld (statt auf der Grundlage von Eignung und Fähigkeiten) auf die begehrten weil raren Jobs eingestellt wurden. Die damalige breite Protestbewegung bildete, wie der Redner richtig feststelle, einen Sargnagel für das Ben ’Ali-Regime.
Ein marokkanischer Redner nach ihm ist akustisch schlicht nicht zu verstehen. Danach folgt ein US-amerikanischer Redner aus der Bevölkerungsgruppe der „Indianer“ oder Nativ Americans. Er berichtet, was sehr gut nachvollziehbar ist, von den Massakern und dem Genozid an seinen Vorfahren – und von den heutigen Zuständen in den „Reservaten“, wo Nachkommen der Überlebenden eingepfercht sind und heute Abbauprojekte (etwa für Ölschiefer) für erhebliche Umweltschäden sorgen. Soweit sehr gut. Aber der Redner spricht auch allgemein von Rohstoffabbau als „Vergewaltigung“ an „Mutter Erde“. Alle applaudierten, wie sie auch den Vorredner/inne/n Beifall spendeten. Nun kann man dies als Respekt vor der Bevölkerungsgruppe der Nativ Americans gut verstehen. Sollte man sich jedoch inhaltlich darauf einigen, dass Rohstoffgewinnung als solche eine „Vergewaltigung“ an „Mutter Erde“ bildet – folgerichtig also zu unterbleiben hätte -, dann würde es inhaltlich sinnlos bis schädlich, noch über Einstellungspraktiken oder Arbeitsbedingungen oder Löhne reden zu wollen. Neben mehr oder minder wohlklingenden Reden fehlte es an dieser Stelle vollständig an dem Versuch, vielleicht auch einmal eine Perspektive zu erarbeiten. Etwa, sich darauf zu einigen, unter welchen Bedingungen (ökologische Konditionen, Mitwirkungsrechte für die rund herum wohnende Bevölkerung und/oder Entschädigungen für dieselben) Bergbauprojekte zulässig oder verdammungswürdig sein können.
Insofern kommt der Verfasser genervt und mit Ohrenschmerzen aus dieser, letztendlich beim Redenschwingen stehen bleibenden, Veranstaltung heraus. Immerhin erlaubte der Sitzort im Publikum es, Kontaktadressen mit einer fit wirkenden Frauen-/Gewerkschafterinnengruppe aus Zimbabwe, Malawi und Mosambik auszutauschen. Wenigstens etwas.
Mittwoch Nachmittag; Freihandels-Abkommen und Schulden
Diese Debatte, die vom CADTM (= „Zentrum für die Streichung der Schulden der ,Dritten Welt’, in Liège/Lüttich, Belgien) ausgerichtet wurde, ist eine der allerbesten unter denen vom Verf. besuchten auf dem Weltsozialforum. Vorgestellt werden die Kampagne für die Streichung der von den alten Diktaturen gegen die Interessen ihrer Bevölkerungen aufgenommenen Schulden in Ägypten und in Tunesien. Auch richten sich diese Kampagnen gegen die Neuaufnahme von Krediten beim Internationalen Währungsfonds; in Ägypten wird über stolze 4,5 Milliarden Dollar neuer Kreditaufnahme bei dieser internationalen Finanzinstitution verhandelt. Auch Tunesien diskutiert über neue, und selbstverständlich konditionierte (= d.h. von Bedingungen zur Gestaltung der tunesischen Wirtschaftspolitik abhängige) IWF-Kredite verhandelt. Unmittelbar vor der Eröffnung des Weltsozialforums berichtete die sehr bekannte tunesische Webseite Nawat darüber unter dem vielsagenden Titel: „Die letzte Etappe vor der Kolonisierung.“
Auf diesen Themenkomplex – die gute Diskussion bei dem Workshop, die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte in Tunesien und die Reaktionen der Presse darauf – wird in Bälde in Labournet noch viel ausführlicher extra eingegangen werden.
Donnerstag, den 28. März 13 Vormittags: Migranten-Rechte und das Camp von Choucha
Ein weiteres wichtiges Thema in Tunesien und rund um das Weltsozialforum ist die Migration. Darum geht es, unter anderem, am Donnerstag Vormittag in einem Workshop, den eine tunesische NGO unter dem Namen CeTuMa (Centre tunisien pour la migration et l’asile) zusammen mit der UGTT veranstaltet hat. Die UGTT hat ihren Sekretär „für Auswärtige Beziehungen und für Migration“ – er ist tatsächlich für beide Themenfelder gleichberechtigt zuständig – entsandt. Sehr positiv zu vermerken ist, wie eindeutig und klar in der Sache sich der tunesische Gewerkschaftsdachverband hier positioniert.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen Ländern wie Marokko oder Tunesien überwiegend Auswanderungsländer – in Richtung Frankreich, Spanien und Italien – darstellten, bilden sie heute selbst auch Einwanderungs- sowie Durchgangsländer. Migranten aus dem subsaharischen Afrika oder Kriegsflüchtlinge aus Libyen reisten in Länder wie Tunesien ein, zum Teil mit dem Vorsatz, eine Weiterreise nach Europa zu versuchen; oder schlicht weil sie aufgrund der Not- und Gewaltsituation in ihren Herkunftsländern keine eine andere Wahl hatten.
Auch die Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika, die seit zum Teil zwei Jahren im Choucha-Camp an der Grenze zwischen Tunesien und Libyen festgehalten werden, nehmen an dem Workshop teil, wie auch sonst an einigen Debatten beim Weltsozialforum. Einige von ihnen führen derzeit einen Hungerstreik vor den Büros des UNHCR in Tunis durch (vgl. http://nawaat.org/portail/2013/04/01/greve-de-la-faim-des-refugies-de-choucha-trois-personnes-hospitalisees/ ). An ihm sind ursprünglich 41 Menschen beteiligt, von denen vier soeben in medizinische Behandlung gebracht werden und ihren Hungerstreik abbrechen musste.
Das Camp soll am 1. Juli dieses Jahres geschlossen werden, aber einige Flüchtlinge wissen immer noch nicht, wohin sie dann gehen können. Tunesische Militärs kündigten ihnen an, „nur auf Befehle zu warten, um dann die Großreinigung zu beginnen“, und beschimpften sie rassistisch als „Sklaven“. Die vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge sollen zum Teil in anderen Ländern „reinstalliert“ werden (der benutzte französische Begriff für die Ansiedlung in Aufnahmeländern ist Réinstallation, der englische Resettlement), aber die Festung Europa zeigt sich weitgehend unnachgiebig. Deutschland hat inzwischen wenigstens 201 Menschen aus Choucha im Herbst 2012 aufgenommen; auch wenn ein Beschluss der Innenministerkonferenz ursprünglich 900 Menschen („drei mal 300“ in aufeinanderfolgenden Schritten) die Aufnahme versprochen hatte. Doch bei vielen anderen verzögert sich die Aufnahme noch immer.
Im Übrigen sind all jene, die ab Dezember 2011 im Choucha-Camp ankamen, vom „Reinstallisierungs“-Programm ausgenommen. Ihnen wird entgegen gehalten, der libysche Bürgerkrieg sei vorgeblich im November 11 zu Ende gewesen – auch wenn sowohl Gewalt als auch rassistische Ausschreitungen gegen Schwarze (die oft pauschal als „Gaddafi-Söldner“ eingestuft werden) auch danach alltäglich blieben. Viele der Betroffenen mussten unterdessen damals zwei bis drei Monate im Grenzgebiet ausharren, bevor sie überhaupt die libysch-tunesische Grenze überschreiten konnten. Tunesien bietet jedoch keinerlei Aufnahmeprozeduren für (durch die UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNCHR anerkannte) „Asylberechtigte“ an, und die Menschen wollen aufgrund des bislang erlebten Rassismus auch überwiegend nicht in Tunesien bleiben.
Eine weitere, zweite Gruppe, die gegen ihre Situation protestiert, ist die der abgelehnten Asylsuchenden. Ihre Asylbitten wurden nach Prüfung vom UNHCR abgewiesen, obwohl sie aus Ländern kommen, in denen die gegenwärtige Gefahr für Leib & Leben unmittelbar nachvollziehbar ist (Somalia, Eritrea, Sudan/Darfur); zum Teil aufgrund im Schnelldurchlauf durchgezogenen Verfahren ohne richtige Übersetzung und mit mangel- oder fehlerhafter Übersetzung. Ihnen wiederum wird gar nichts angeboten, es sei denn ihre „freiwillige“ Rückkehr in ihr Herkunftsland – die in den genannten Fällen oft ohne Lebensgefahr unmöglich ist – oder ihre drohende Abschiebung aus Tunesien.
Beide Gruppe gleichermaßen protestieren gegen ihre Situation und kämpfen für eine Lebensperspektive; irgendwo anders als in Tunesien. Sei es in Europa, oder sei es für manche von ihnen auch in anderen (näher an ihren Herkunftsländern liegenden) Staaten; eine Frau aus Darfur nennt beim Workshop etwa Kamerun oder den Niger. Doch das UNHCR-Büro in Tunis hat bislang taube Ohren für ihre Forderungen. Deswegen gilt es, den Druck auf die UNHCR-Niederlassung noch zu erhöhen, für eine Aufnahme in für die betroffenen Menschen akzeptable Länder. Nähere Informationen zu dieser Kampagne folgen alsbald noch im Labournet, mit Bitte um Unterstützung.
Migranten sind aber auch viele junge Tunesier, die nach dem Sturz der Ben Ali-Diktatur 2011 die Ausreise versuchten, weil die polizeiliche Kontrolldichte vorübergehend abgenommen hatte – unter dem alten Regime konnte ins Gefängnis kommen, wer eine „illegale Ausreise“ versucht hatte. Ab dem Stichtatg 05. April 2011 schickte Italien die tunesischen Staatsbürger, die meist über die Insel Lampedusa einreisten, jedoch zurück.
Ein junger Mann, Radouan Haji, erzählte auf einem der Debattenforen beim WSF, wie es im ergangen war. Beim Versuch der Überfahrt im Boot nach Italien wurden er und die anderen Insassen durch die italienische Küstenwacht aufgegriffen, nachdem sie die Passagiere eines anderen Schiffs mit eigenen Augen hatten ertrinken sehen. „Wir wurden in ein Aufnahmelager gesteckt, dann legte man uns Handschellen an und setzte uns in ein Flugzeug nach Tunesien. Bei der Rückkehr am Flughafen wurden wir erst von einem italienischen Polizisten noch an Bord angespuckt, und dann von seinen tunesischen Kollegen bei der Grenzpolizei verprügelt.“
Radouan kommt aus Ghardaha, einer Kleinstadt in der Nähe der tunesisch-algerischen Grenze. Die Gegend hat einen eher schlechten Ruf, weil mancher ihrer Einwohner Schmuggleraktivitäten nachgehen, während die Arbeitslosigkeit dort sehr hoch ist. Deswegen hat er riesige Schwierigkeiten, einen Job in Tunis oder anderswo zu finden. Im November 2012 versuchte er deswegen erneut, einen Ausweg aus seiner Situation zu finden. „Ein Mann kontaktierte mich im Internet, der sich als in der Schweiz sitzender Unternehmer ausgab. Er behauptete, Aktivitäten in Tunesien entwickeln zu wollen und dafür Fernfahrer zu suchen – ich hatte zuvor als LKW-Fahrer gearbeitet. Er bot eine riesige Summe an, 100 Euro pro Tag. Wir trafen eine Verabredung. Am vereinten Ort warteten zwei Leute, die mir jedoch sagten, ich müsse ihren Auftraggeber im Nachbarland Libyen treffen, in Tripolis. Sie fuhren mich zu einem Haus in 120 Kilometer Entfernung von Tripolis. Schnell begriff ich jedoch, dass es sich um die Durchgangsstation für ein Lager handelte, wo Djihadisten für den Kampf in Syrien ausgebildet und vorbereitet werden sollen. Das wollte ich um gar keinen Preis. Dank des allgemeinen Aufbruchs zum Freitagsgebet in einer nahen Moschee konnte ich fliehen und in ein Sammeltaxi in Richtung Tunesien steigen. Als ich dort durch die Grenzpolizei festgenommen wurde, war ich zum ersten Mal richtig erleichtert…“
Aufgrund der allgemein schlechten sozialen Situation, aber auch des Wirkens islamistischer Agitatoren unterschiedlicher Couleur hat das Werben von islamistischen Söldnern für Syrien zur Zeit in Tunesien Hochkonjunktur. In der Woche während des Weltsozialforums füllte das Thema mehrfach die Titelseiten tunesischer Zeitungen. Die Zahl der auf diese Weise Angeworbenen wird von manchen amtlichen Quellen auf bis zu 12.000 (vgl. http://www.tunivisions.net/41297/232/149/tunisie-affaires-religieuses-12000-combattants-tunisiens-en-syrie-est-ce-vrai-ij.html ) geschätzt. Andere Beobachter halten dies für übertrieben oder geben jedenfalls an, so viele tunesische Djihadisten seien auf jeden Fall nie in Syrien angekommen; der AFP-Journalist Djilali Belaïd schätzt ihre Zahl im syrischen Kampfgebiet auf „höchstens 2.000“. Allerdings geben tunesische Journalisten wiederum an, 6.000 rekrutierte Tunesier befänden sich in Ausbildungslagern in Libyen. Menschen in Tunesien haben unterdessen vor allem davor Angst, was passiert, wenn diese Leute – durch die Kriegserfahrung enthemmt – in ihr Land zurückkehren (vgl. etwa http://www.afrik.com/syrie-la-presence-de-djihadistes-tunisiens-inquiete-le-gouvernement-de-marzouki ) Eine entsprechende Erfahrung machte Algerien vor zwanzig Jahren mit jenen jungen Männern, die zuvor in Afghanistan gegen die Sowjetunion gekämpft hatten und später oft ein Rückgrat bewaffneter Banden bildeten.
Kommt es nicht zu spürbaren Verbesserungen der Lebensverhältnisse im Land, könnte Tunesien in naher Zukunft auf diese Weise neuartige Probleme bekommen.
Donnerstag Nachmittag: Gewerkschaftliche Kooperation im Metallsektor…
Ab 14 Uhr kommen Gewerkschafter/innen aus Italien, Frankreich, Spanien, Kolumbien und Argentinien zu einem Workshop zum Thema „Kämpfe in der Metallindustrie und bei Subunternehmen – Auf der Nord- und Südseite des Mittelmeers“ zusammen. Anders als geplant und angekündigt, ist das Südufer des Mittelmeers leider gar nicht vertreten: Die vorgesehenen tunesischen und marokkanischen Gewerkschafter/innen tauchen gar nicht auf. Sicherlich mussten ihre Organisationen sich zwischen zu vielen Veranstaltungen verzetteln.
Deswegen möchte der Autor auf diesen Workshop (der ansonsten nicht uninteressant war, etwa zu Kolumbien) an dieser Stelle nur kurz eingehen. Eine Vertreterin der französischen CGT aus der Metallindustrie – Lamia Béjia – berichtete, was Tunesien betrifft, immerhin ausführlich von der seit anderthalb Jahren begonnen Kooperation ihrer Branchengewerkschaft mit tunesischen KollegInnen. Dabei wurde eine Partnerschaft zum tunesischen UGTT-Bezirk Ben Arous eingegangen, wo allein 15.000 Menschen in Subunternehmen der Metallindustrie oft für französische Firmen arbeiten.
Die CGT-Metallindustrie hat dabei inzwischen vier Unternehmen als besondere „Zielscheiben“ von Kampagnen und Druck – auch in Frankreich – auserkoren, weil sie „die Gewerkschaftsrechte besonders mit Füßen treten“. Es handelt sich um Valéo, Astid, Télec (einen Herstellern von Metallkabeln) und Aérolia. Die französischen KollegInnen haben begonnen, Druck auf die Unternehmensführungen (bei den Auftraggebern) in Frankreich aufzubauen, und bieten zudem den tunesischen KollegInnen die Teilnahme an transnationalen Fortbildungsprogrammen an, um gemeinsam in den Konzern- und Subunternehmens-Strukturen aktiv zu werden. Die Kollegin verschwieg aber auch nicht die Schwierigkeiten, die dabei bisweilen auch mit Teilen der französischen Belegschaften auftauchen. In Toulouse etwa befindet sich eine CGT-Vertrauensfrau isoliert (d.h. ohne andere organisierte KollegInnen) in ihrem Betrieb. Just die Vertrauensfrau nimmt die Einzelteile, die aus Tunesien kommen und – aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen und geringen Investitionen – mitunter von schlechter Qualität sind, in ihrem Werk in Empfang. Anfänglich war es deswegen sehr schwierig, sie für Solidarität gerade mit Tunesien zu motivieren. Ferner „profitierte“ ihre Belegschaft davon, dass anlässlich eines Streiks in Tunesien ihre Firma 30 Prozent der Tätigkeit in Tunesien nach Frankreich zurückverlagerte: Weil die Löhne am französischen Standort selbst sehr tief sind, waren viele Lohnabhängige dort über die Überstundenzuschläge ausgesprochen froh, welche wie ein 13. Monatsgehalt eintrudelten. All diese Faktoren erschweren die Solidarität in der Praxis.
… und Arbeitslosenbewegung in Tunesien
Um 17 Uhr am Donnerstag hat die tunesische Arbeitslosenbewegung in Gestalt der Union des diplômés chômeurs (UDC, Union der Erwerbslosen mit höherem Bildungsabschluss) in einen Hörsaal der technischen Fakultät geladen. Unter dem vielversprechenden Artikel „Es gilt, den Kapitalismus nicht ,moralischer zu gestalten’, sondern ihn zu zerstören“ berichten tunesische Redner, Vertreter der spanischen anarcho-syndikalistischen CGT und der französischen CNT von ihren Aktionen und Kämpfen. Allerdings sehr allgemein, konkret wird viel zu wenig auf die Organisierungs- und Perspektivenfrage eingegangen. Stattdessen postulieren die spanischen und französischen Redner einfach mal das definitive Ende der Ära der Vollbeschäftigung. Der Vorschlag, die Anwesenden – ursprünglich über 50, zu dem Zeitpunkt aber nur noch 30 – in gleich sechs parallel zueinander diskutierende Arbeitsgruppen aufzuteilen, führt dann jedoch zur Zerfaserung und zu organisatorischem Chaos.
Nach einigem Hin & Her wird dann beschlossen, doch noch alle gemeinsam in einer geschlossenen Gruppe zu diskutieren. Daraufhin werfen jedoch zwei „Diskutanten“, die eigentlich dort gar nicht hingehört hätten – ein endlos uninteressantes Zeugs (ohne irgendeinen konkreten Bezug) labernder Soziologieprofessor, und ein leitender Angestellter der tunesischen Arbeitsagentur – und sich selbst beim Reden zuhören, einen Gutteil der Diskussion aus der Bahn. Die Debatte wird abrupt beendet, weil am frühen Abend noch eine Kundgebung zum Gedenken an den im Februar 13 ermordeten Linkspolitiker Chokri Belaïd stattfindet. Einer der UDC-Redner hatte sich zuvor noch beschwert, dass ein Gutteil der organisierten tunesischen Arbeitslosen „zu Ordnerdiensten an den Eingängen des WSF eingeteilt wurde, statt hier bei unserer Debatte sein zu können“.
Alles in allem herrscht der Gesamteindruck, dass diese Debatte an erheblichen organisatorischen Mängeln litt, aber diese Bewegung in Tunesien doch ein interessantes Potenzial aufweist. Die UDC (deren legale Existenz erst nach der ersten Phase der Revolution, 2011, möglich wurde) dürfte wahrscheinlich noch in ihren Anfängen stehen; eine vergleichbare Vereinigung in Marokko ist bereits seit Oktober 1991 gesetzlich anerkannt und sehr aktiv. Die tunesische UDC wird nun am 25., 26. und 27. Mai 2013 ihren Kongress abhalten.