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[Buch] Soziale Gelbsucht. Die radikale Analyse eines radikalen Ereignisses: Sind die Gelbwesten der Beginn einer neuen Revolution?
„Einzigartig ist die Bewegung der Gilets jaunes in vielerlei Hinsicht: Einfache Menschen aus den Peripherien haben sich selbstständig vernetzt und leh- nen jede Art von Repräsentation ab. Mit ihren Aktionsmethoden sprengen sie den Rahmen des institutionalisierten Protests. Ihre Forderungen sind nicht gerade revolutionär – sie wollen einfach bessere Lebensbedingungen, mehr Gerechtigkeit, mehr Achtung. Dennoch haben sie das Land in die tiefste soziale Krise seiner jüngeren Geschichte gestürzt. Die Neuigkeit des Ereignisses, das mit Sicherheit langfristige Folgen zeitigen wird, zeigt sich auch da- durch, dass es sich mit konventionellen Referenzen nicht interpretieren lässt. Stehen die Gilets jaunes links oder rechts, sind sie progressiv oder konservativ? Findet eine Rückkehr des Klassenkampfs statt oder ein Aufstand der Peripherien gegen die globalisierten Zentren? Vor diesen Bruch mit ihren Gewissheiten gestellt, reagierten die meisten Zeitdiagnostiker mit Schweigen oder Verleumdung. Soziale Gelbsucht schaut hinter die Kulissen und zeigt, dass hinter den konfusen und widersprüchlichen Formen der Revolte sich der Versuch zeigt, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Schließlich geht es um die Frage: Wie lässt sich eine Politik durchsetzen, die von der großen Mehrheit abgelehnt wird? Diese Frage stellt sich nicht nur in Frankreich.“ Verlag Matthes & Seitz Berlin zum Buch von Guillaume Paoli (161 Seiten, ISBN: 978-3-95757-828-0, Preis: 10,99 €), dort auch Veranstaltungstermine mit dem Autor. Siehe dazu – als exklusive Leseprobe im LabourNet Germany – das (letzte) Kapitel: „Dem deutschen Leser ein Nachwort“ – wir danken!
Dem deutschen Leser ein Nachwort
Über französische Zustände zu berichten, hat seine Tücken. Bei jeder geschilderten Situation ahnt der Verfasser, wie seine Leser reagieren werden. Ob mit Bestürzung oder Bewunderung, alle werden unweigerlich denken, dieses Land sei nun einmal radikal anders. Die einen werden seufzen, das Sorgenkind sei hoffnungslos unreformierbar und gefährde die Stabilität Europas, die anderen darüber lamentieren, dass die Deutschen unfähig seien, wie ihre Nachbarn auf die Barrikaden zu gehen. In beiden Fällen ist die Schlussfolgerung dieselbe: So etwas könnte hier nicht passieren! In der Tat sind viele Phänomene, die in den vorigen Kapiteln angesprochen worden sind, frankreichspezifische Besonderheiten, um nicht zu sagen: Anomalien. Das monarchische Präsidialsystem der fünften Republik ist überkommen. Die Polarisierung zwischen Präsidentenlager und Opposition verhindert die Ausarbeitung von Kompromissen zwischen Parteien.
Staatslenker, Topunternehmer und Mediokraten kennen sich alle von der Eliteschule und gehören über alle Differenzen hinweg zur selben geschlossenen Gesellschaft. Kein Monat vergeht, ohne dass Fälle von Korruption, Interessenkonflikten oder Machtmissbrauch bekannt gemacht werden, die offensichtlich nur die Spitze des Eisbergs sind und meist ohne Konsequenzen bleiben. Auffällig ist außerdem, dass zehn Oligarchen die Medienlandschaft kontrollieren.
Solche Besonderheiten erklären aus deutscher Sicht, dass die gegensätzlichen Kräfte innerhalb der französischen Gesellschaft immer auf Konfrontationskurs gehen, anstatt sich den bequemen Vorteilen der Konsenskultur hinzugeben. Da vermittelnden Instanzen kein Verhandlungsspielraum gewährt wird, werden Konflikte auf der Straße ausgetragen, ihre Lösung der Polizei überlassen. Anstatt deeskalierend zu wirken, greifen die Ordnungskräfte wiederum zu entsetzlicher Gewalt und rufen Gegengewalt hervor.
Aus alle diesen Besonderheiten erklärt sich, weshalb Franzosen viel häufiger rebellieren als die Deutschen. So zumindest die übliche Analyse. Sie ist nicht neu. Bereits 1968 fragte sich der Spiegel, wie die Studentenrevolte dort im Unterschied zu Deutschland in einen wilden Streik von zehn Millionen Arbeitern münden konnte. Die Antwort wurde gleich mitgeliefert: Schuld sei De Gaulles archaisches Regime gewesen. Ob damals wie heute institutionelle Erklärungen zutreffend sind oder nicht, sei dahingestellt. Denn nicht die Antwort ist problematisch, sondern die Frage. Wilhelm Reich hatte auf dieses systematische Bias hingewiesen: Experten wollen verstehen, warum Menschen zuweilen aufbegehren. Dabei bleibt das viel größere Rätsel ungelöst, warum sie in der Regel nicht aufbegehren.
Die Annahme wird für selbstverständlich gehalten, im Normalfall gebe es keinen Grund für Dissens. Revolten seien Akzidentien, die auf eine behebbare Störung der sonst gut funktionierenden sozialen Maschinerie zurückzuführen seien. Keine unerhebliche Annahme. Dadurch wird ein prinzipielles Einverständnis mit der Gesellschaft in ihrem jetzigen Zustand erläutert.
Aus dieser Perspektive können Ausbrüche des Volkszorns nur als irrational und unnötig beklagt werden. Umgekehrt betrachtet ergibt sich jedoch eine andere Sichtweise. Angenommen, die Gesellschaft sei von einem grundlegenden Konflikt gekennzeichnet, der mit institutionellen Mitteln nicht lösbar sei, dann müssten gerade die Mechanismen untersucht werden, die diesen Konflikt in latentem Zustand wahren. Nicht die Ausnahme wird infrage gestellt, sondern der Regelfall. Mit anderen Worten: Das zu lösende Rätsel liegt nicht jenseits, sondern diesseits des Rheins.
Mittlerweile lebe ich länger in Deutschland als in Frankreich, und doch ist mir bisher das hiesige Machtgefüge ziemlich schleierhaft geblieben. Die französischen Zustände sind lesbarer, Teile des Puzzles lassen sich leichter ineinanderfügen. In Deutschland durchschaue ich nicht so richtig, wie sich die Eliten genau reproduzieren. Die politische Klasse scheint ein gewisses Maß an Selbstständigkeit gegenüber dem Geldadel zu behalten, wobei die Verflechtung von Staat und Kapital nicht minder evident ist als in Frankreich – siehe der ungeahndete Skandal mit Cum-Ex-Geschäften.
Niemand wird wohl glauben, dass das Land eine Oase der Tugend sei, doch scheint Korruption hier, wie soll man sagen, geschickter zu erfolgen. Obwohl sich im Gegensatz zu Frankreich die Medien nicht direkt im Eigentum führender Unternehmer befinden, ist die Transparenz deswegen nicht größer. Und wenn ausnahmsweise Vergehen der Wirtschaft bekannt werden, schlagen diese auch keine großen Wellen. Aber selbstverständlich geht es nicht um Einzelfälle von Betrug, Machtmissbrauch und Steuerhinterziehung. Spätestens seit Macron ist vollkommen sichtbar, dass all diese Fälle ein System bilden, dessen strukturelle Grundlagen landesübergreifend sind. Man muss also folgern, dass der Unterschied allein an der größeren Opazität der deutschen Gesellschaftsreproduktion liegt.
Auf alle Fälle ist die Besonderheit der französischen Machtstruktur kein überzeugendes Argument. Schließlich hat das Präsidialsystem für das neoliberale Projekt auch Vorteile. Der autoritäre Archaismus begünstigt die autoritäre Modernisierung. Vor allem hat die dort führende Klasse keinen sehnlicheren Wunsch, als die Agenda 2010 endlich nach Frankreich zu importieren. Seit Jahren schauen sie neidisch auf die östlichen Nachbarn, fühlen sich von deren vorwurfsvollem Blick gekränkt, schämen sich für ihre reformresistenten Landesgenossen. Wie einfach könnte doch alles sein, wenn nur die Franzosen Deutsche wären!
Im Grunde erheben sich die Gilets Jaunes gegen die Agenda 2010. Hier wäre wieder die zu lösende Frage nicht, warum sie es tun, sondern warum die Deutschen es nicht taten. Man mag sich über Macrons arrogante Ausfälle echauffieren, vergessen wir aber nicht Gerhard Schröders triumphierenden Schrei von damals: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt!« Wenn das keine gut platzierten Tritte von Niedriglohnbeschäftigten in Gelbwesten verdient hätte!
Da wären wir beim noch häufiger postulierten Unterschied zwischen beiden Ländern: Entscheidend seien nicht die Institutionen, sondern der Nationalcharakter, ob genetisch bedingt, historisch oder sozialpsychologisch. Franzosen sehnten sich nostalgisch nach der verlorenen Grandeur, hieße diese Sozialstaat, Revolution oder unpasteurisierter Camembert, anstatt realistisch und unaufgeregt nach vorne zu schauen.
Wenn nationale Mentalitäten tatsächlich so prägnant sind, sieht es jedoch für das Europäische Projekt ziemlich schlecht aus. Es ist sonderbar, dass Bundesbürger, die sich selbst als postnational denkend verstehen, sämtliche Probleme Europas auf das Nationalgefühl der Griechen, der Italiener, der Briten oder eben der Franzosen zurückführen. Postnational, das wäre einzig die nationale Eigenschaft der Deutschen. Gefährlich an solch überheblichen Behauptungen ist, dass sie wiederum eine gewisse Germanophobie nähren, wie sie sich bei Politikern wie Mélenchon und Intellektuellen wie Emmanuel Todd hörbar macht, nach dem Motto: Wir lassen uns nicht von den Deutschen diktieren, wie wir zu leben haben.
Allerdings wird auch die Völkerpsychologie von Bundesbürgern bemüht, die neidisch auf die französischen Unruhen blicken. Um zu wissen, was des Volkes Stimme dazu sagt, kenne ich keine bessere Quelle als die Kommentarspalte unter Artikeln der Springer-Medien.
Man staunt, auf wie viel Sympathie die Gilets Jaunes bei Lesern von Bild und Welt trafen. Offenbar spielt da ein Stellvertreter-Effekt, ein Die-trauen-sich-was mit, ähnlich der Begeisterung gesetzestreuer Bürger für Gangsterfilme. Unweigerlich kommt dann die Klage über die Untertanenmentalität des Deutschen Michel. Da darf Lenins Zitat mit den deutschen Bahnhofsstürmern nicht fehlen, die sich davor eine Bahnsteigkarte kaufen, zuweilen durch die Behauptung aktualisiert, demonstriert werde in Deutschland nur, wenn Feine Sahne Fischfilet ein Gratiskonzert dazu gibt. Die Selbstgeißelung hat etwas von einer Self-fulfilling Prophecy. Manchmal stelle ich mir vor, was passieren könnte, wenn sämtliche Bürger, die die deutsche Unfähigkeit, aufzubegehren, beklagen, an einem Ort versammelt wären?
Auf alle Fälle kann man das häufig vorgebrachte Argument nicht gelten lassen: »Uns geht’s noch zu gut!« In Deutschland leben noch mehr Working Poor als in Frankreich, der Mindestlohn ist niedriger, die Prekarität größer, die Sozialausgaben des Staates geringer. Die Kluft zwischen Stadtzentren und Peripherien wächst rasant, der soziale Fahrstuhl ist defekt, die Sparbremse lässt Schulen und Infrastrukturen verkommen, mit einem Wort: Alle objektiven Zutaten für sozialen Sprengstoff sind vorhanden. Was die subjektiven Bedingungen betrifft, sei daran erinnert, dass die Gilets Jaunes gerade aus jenem Bevölkerungsteil kamen, von dem ausgegangen wurde, es sei mangels Tradition, Bewusstsein und Opportunitäten unfähig, sich zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Es besteht also kein Grund, prinzipiell auszuschließen, dass es auch in Deutschland eine ähnliche Bewegung geben könn te, obwohl sie sich natürlich an vielen Punkten vom französischen Modell unterscheiden würde. Nachahmungsversuche, die mancherorts unternommen wurden, waren zum Scheitern verurteilt. Ohnehin scheint auch hierzulande eine neue außerparlamentarische Opposition am Entstehen zu sein. Insbesondere auf die Jugend wirkt die existenzielle Herausforderung des Umweltwandels als Bewusstseinsbeschleuniger ein. Unbezahlbare Mieten bringen immer mehr Stadtbewohner dazu, die Enteignung der Enteigner zu fordern.
Offensichtlich ist das sprichwörtliche Bohren dicker Bretter der Parteipolitik nicht mehr in der Lage, auf die Ungeduld der Bürger zu antworten. Nach gefühlten hundert Jahren Großkoalition wächst das Sehnen nach einem fundamentalen Wandel. Trotz aller letztlich oberflächlichen Unterschiede zu Frankreich ist also die Stimmungslage durchaus vergleichbar.
Umso unheilvoller die Rolle der hiesigen Medien. Wenn sie amtliche Fake News, tendenziöse Berichterstattungen, Verleumdung und Klassenverachtung verbreiten, haben französische Journalisten zumindest eine Entschuldigung. Das wird von ihren Eigentümern verlangt. Wenn deutsche Journalisten das alles unkritisch weiterleiten, gibt es Erklärungsbedarf. Freilich sind auch gute Reportagen und ehrliche Deutungsversuche erschienen, doch im Großen und Ganzen wurde Medienkonsumenten eingeflößt, die Gilets Jaunes seien nichts anders als eine rechtsradikale, antisemitische, hirnlose und brutale Zusammenrottung.
Hier wieder zeigt sich, dass die französische Besonderheit, in diesem Fall die von zehn Oligarchen kontrollierten Medien, eher zweitrangig ist. Durch ihre Herkunft, ihre Ausbildung, ihre soziale Position, ihre vorgefertigte Meinung und den Konformitätsdruck ihrer Redaktion sind deutsche Journalisten bereit, dieselbe Propagandaarbeit freiwillig zu verrichten. Doch bedenklicher noch ist, wie den verzerrenden Darstellungen in linken wie liberalen Milieus ohne Wenn und Aber Glauben geschenkt wurden. Sie entsprachen ihren Vorurteilen, ihrer ideologischen Erstarrung, ihrer Angst vor den Massen, wurden also ohne kritische Distanz für wahr gehalten. Folglich ist für den Fall einer sozialen Bewegung hierzulande damit zu rechnen, dass sich gegen sie ein Teil der Linken in Stellung bringen würde. Deswegen sei zum Schluss wiederholt: Die Erklärung dafür, dass die Gilets Jaunes zu keinem monströsen Gebilde wurden, sondern zu einem originellen, mannigfaltigen und egalitären Experiment, liegt darin, dass genug vorurteilsfreie Menschen sich einmischten und sich als Gleiche erkannten.
Siehe zum Buch auch:
- Die Gelbwesten in Frankreich sind noch lange nicht tot
„Die Protestbewegung hat Frankreich verändert, sagt Philosoph Guillaume Paoli. Was wir daraus lernen können? Die Gilets Jaunes feiern ihr Einjähriges: Guillaume Paoli, Autor von Soziale Gelbsucht, spricht im Dissens Podcast mit Lukas Ondreka über neue Protestformen, Schwarzwesten und Lehren für die Klimabewegung.“ dissenspodcast vom 19.11.2019 bei der taz online - Was haben Sie denn vorzuweisen?
„Mit den Gilets Jaunes ging ein Zyklus erfolgloser linker Politik zu Ende, erklärt Guillaume Paoli in seiner Schrift »Soziale Gelbsucht«…“ Besprechung von Nelli Tügel vom 16.11.2019 beim ND online