Nach dem Migrationsrecht werden auch MigrationsrechtlerInnen angegriffen: Anwältin des späteren Täters von Solingen nach Anfeindungen unter Polizeischutz
„Die „Identitäre Bewegung“ hat vor einer Dresdner Anwaltskanzlei Holzkreuze aufgestellt und sie für das Attentat in Solingen mitverantwortlich gemacht. (…) Dazu stellten sie ein Plakat auf, auf welchem die Rechtsanwälte mitverantwortlich für den Tod von drei Menschen bei einem Anschlag in Solingen im August gemacht wurden. Die Kanzlei hatte den 26 Jahre alten Tatverdächtigen zuvor bei dessen Asylverfahren vertreten. (…) Die Dresdner Anwältin, vor deren Kanzlei die Kreuze aufgestellt wurden, wird nach der Berichterstattung über das Attentat von Solingen und den tatverdächtigen Syrer in den Sozialen Medien heftig angefeindet. Rechte Medien hatten den Namen ihrer Kanzlei veröffentlicht. „Selbstverständlich prallen die Bedrohungen nicht spurlos an mir ab. Sie werden mich aber nicht davon abhalten, weiterhin als Anwältin tätig zu sein“, sagte sie auf Anfrage des MDR. „Die Angriffe auf mich sind Angriffe auf die Anwaltschaft und den Rechtsstaat im Gesamten. Dies dürfen und werden wir nicht dulden.“…“ Meldung vom 04.09.2024 von MDR Sachsen („Nach Anschlag in Solingen „Identitäre“ bedrohen Kanzlei des mutmaßlichen Täters“) – siehe mehr Informationen und v.a. die zum Glück breite Unterstützung für die Kollegin:
- Die Anwältin als Feindbild: Womit Migrationsrechtler nach Solingen zu kämpfen haben
„Anwältinnen und Anwälte sind den Interessen ihrer Mandantschaft verpflichtet. Das scheint nicht einmal allen Journalisten präsent zu sein: Zwischen den Zeilen wird nach dem schrecklichen Attentat von Solingen der Asylrechtsanwältin des mutmaßlichen Täters zum Vorwurf gemacht, sie habe ihn „zu gut“ vertreten. Nach heftigen Anfeindungen steht die Juristin jetzt unter Polizeischutz. Es bleibt ein fader Beigeschmack. (…) Ein Jahr später soll der Mann in Solingen zum Mörder geworden sein.
Es dauert nicht lange, bis Schuldzuweisungen ausgesprochen werden. Die Behörden. Die Regierung. Die Asylpolitik. Doch für einige Journalisten trägt offenbar noch jemand Verantwortung: Die Anwältin, die Issa al H. in Asylfragen vertreten hat.
Vage Andeutungen: Anwältin als Komplizin?
Nur wenige Tage nach dem Attentat berichtete die tagesschau über die Biografie des festgenommenen Syrers. Dort wundert man sich, dass nur wenige Tage nach dem Bescheid über die anstehende Abschiebung nach Bulgarien bereits eine Klage von Issa al H. beim zuständigen Verwaltungsgericht einging. „Das ging sehr schnell – das heißt, er wurde sehr gut und sehr schnell anwaltlich vertreten“, konstatiert ein Redakteur des Investigativressorts von NDR und WDR. Was dabei unter den Tisch fällt: Die Frist, gegen die drohende Abschiebung nach Bulgarien Einspruch zu erheben, lag bei nur einer Woche. Darüber und über die Rechtsmittel, die Issa al H. dagegen einlegen konnte, informierte ihn der Bescheid selbst. Um also rechtzeitig Klage einzureichen, brauchte es keine besonders raffinierten juristischen Strategien, sondern bloßes Textverständnis.
Auch, dass Issa al H. in Bielefeld untergebracht war, aber eine Anwältin aus Dresden beauftragte, kommt den Journalisten seltsam vor. Eine kurze Recherche hätte ihnen gezeigt: Viele Migrationsrechtler nehmen bundesweit Mandate an. Sei es wegen der Verteilungsregeln für Asylbewerbern oder weil die Kollegen vor Ort keine Kapazitäten mehr haben. (…)
Es entsteht der Eindruck, eine Winkeladvokatin habe die Behörden ausgetrickst, um ihren Mandanten vor der Abschiebung zu bewahren – dabei hat es die Ausländerbehörde schlicht versäumt, selbige fristgerecht durchzuführen.
Aber bei den wenigen Sätzen in der tagesschau-Berichterstattung sollte es nicht bleiben. Denn mit der BILD nahm wenig später auch die auflagenstärkste Tageszeitung Deutschlands die Anwältin des Syrers ins Visier. In typischer Boulevard-Manier titelte die BILD neben einem verpixelten Foto der Juristin: „Half sie dem Solingen-Terroristen, seiner Abschiebung zu entgehen?“ In Verbindung mit dem Untertitel „Migranten feiern Asyl-Anwältin: ‚Empfehle sie jedem‘“ kann der Eindruck entstehen, die positiven Rezensionen für ihre Kanzlei würden sich auf das Attentat beziehen. (…)
Der Schaden für die Anwältin ist nun angerichtet. Rechte Medien haben sich dankbar auf die Meldung gestürzt, teils sogar den Klarnamen der Kanzlei veröffentlicht. Aber was heißt das konkret? Die ganze Diskussion dreht sich um eine Frau, die dazu selbst noch nicht zu Wort kam. Annika Bargenda, die in ihrer Dresdner Kanzlei Straf-, Zivil- und Asylrechtsfälle bearbeitet, musste in den Tagen seit den Meldungen heftigste Anfeindungen aushalten. „Mich erreichen massivste Bedrohungen über Anrufe, WhatsApp, Instagram, Facebook – alle Kanäle, die sie sich vorstellen können“, berichtet die Juristin im Gespräch mit dem Anwaltsblatt. Mittlerweile steht sie unter Polizeischutz. (…)
Für Bargenda gibt es jedoch wenigstens eine Erfahrung, die etwas Mut macht: „Der Zusammenhalt in der Anwaltschaft war überwältigend“, erklärt die Rechtsanwältin. Sie habe viel Zuspruch von Verbänden, aber auch einzelnen Kollegen erhalten.
Anwaltschaft reagiert scharf. „Anwaltskollegen“ seien gegenüber der Juristin „misstrauisch“, schreibt die BILD. In der Realität ist der Berufsstand eher entsetzt über die unseriöse Berichterstattung. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) akzeptiert es nicht, wenn Kolleginnen und Kollegen aufgrund ihrer anwaltlichen Tätigkeit angegriffen werden. Schließlich erfüllen diese ihre rechtsstaatliche Aufgabe. Der DAV reagierte schnell mit scharfer Kritik an der Berichterstattung, andere Institutionen folgten…“ Artikel von Artur Kraus vom 03. September 2024 im Anwaltsblatt online - Verteidigung des Rechtsstaats ist kein Verbrechen
„Das Attentat in Solingen ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Betroffenheit über die Tat und die Solidarität mit den Betroffenen darf aber nicht dazu führen, diejenigen anzugreifen, die den staatlich gewährten Rechtsschutz umsetzen. Im Nachgang des Attentats in Solingen greifen verschiedene Medien die Anwältin des festgenommenen Syrers an. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisiert diese Kampagnen scharf. Die Anwaltschaft ist eine Säule des Rechtsstaats; ihre Aufgabe: die Wahrnehmung der Rechte und Interessen ihrer Mandantschaft. Dass einer Juristin nun zum Vorwurf gemacht wird, sie habe ihre Arbeit zu gut erledigt, ist absurd und gefährlich. (…) „Unser Berufsstand ist unverzichtbar für den Rechtsstaat“, erinnert die Rechtsanwältin. Anwaltliche Vertretung verhelfe den Betroffenen zu rechtlichem Gehör, verhindere dadurch Fehlurteile und schütze im Rahmen des bestehenden Rechts vulnerable Gruppen. „Dass Anwältinnen und Anwälte, die sich für die Rechte anderer Menschen einsetzen, nun als Steigbügelhalter für Terroristen gezeichnet werden, ist unseriös und eine aus totalitären Staaten bekannte Argumentation“, macht Kindermann deutlich. Gerade Migrationsrechtler seien oft aus Überzeugung von der besonderen Schutzbedürftigkeit ihrer Mandantinnen und Mandanten in ihrem Rechtsgebiet tätig und ohnehin bereits zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Das dürfe durch die Medien nicht noch weiter befeuert werden.“ DAV-Pressemitteilung vom 29.08.2024 - „Zwischen beide Artikeln liegen gerade einmal sechs Tage. Mittlerweile wird die Kanzlei von Neonazis bedroht und die Anwältin steht unter Polizeischutz. Zufall? Mitnichten. In diesem Sinne: F#ckt Euch BILD!…“ Tweet von PM Cheung vom 4. Sep. 2024 mit 2 Fotos 2er Schlagzeilen (will ich nicht wiedergeben)
- „Das hat in diesen Tagen der allgemeinen Stimmungsmache gegen Geflüchtete noch gefehlt: Angriffe gegen im Migrationsrecht tätige Kolleg*innen. Die #Bild-Zeitung zeigt sich einmal mehr als Speerspitze gegen den Rechtsstaat und als Organ der Niedertracht.“ Tweet von RAV vom 29. Aug. 2024 zum Foto der “ Feindmarkierung“ durch die Bild (will ich auch nicht wiedergeben)
Siehe zum Hintergrund unser Dossier: Auch 20, 30 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen: Das Problem heisst Rassismus! und das Dossier: Härtere Regeln für Geflüchtete: Innenministerium will u.a. die Zahl der Abschiebungen erhöhen – auch nach Syrien/Afghanistan?