Mehr Kriegsdienstverweigerer, weniger Bewerbungen: Die Bundeswehr hat ein Problem (wir nicht)
Dossier
„… Eine neue Begeisterung für den Kriegsdienst in der Bundeswehr gibt es anscheinend nicht in der Altersgruppe, die im Ernstfall tatsächlich gefragt wäre. (…) Einige, für die sich tatsächlich die Frage stellt, ob und wofür sie demnächst ihr Leben riskieren sollen, sehen das scheinbar ein bisschen anders. Laut einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) ist die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr im laufenden Jahr deutlich gestiegen. (…) Viele begründeten ihre Verweigerung angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und einer möglichen Eskalation damit, dass sie „mit einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht gerechnet hätten“, heißt es in dem Bericht…“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 19. September 2022 in Telepolis und dazu:
- Mit immer neuen Reklameformaten für 35 Millionen Euro jährlich buhlt die Truppe um den unwilligen Nachwuchs – Arbeitsamt soll direkt und gratis fürs Sterben werben
- Arbeitsamt soll direkt fürs Sterben werben: Verteidigungsministerium und Bundesagentur für Arbeit haben eine neue Kooperationsvereinbarung
„Das Modell von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) für einen »neuen Wehrdienst« ist vom Bundestag noch nicht verabschiedet worden. Allerdings dürfte ein künftiger Kanzler Friedrich Merz großes Interesse haben, darüber hinaus zu gehen. (…) Es gibt aber schon mal eine neue Grundsatzvereinbarung zwischen dem BMVg und der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit dem Titel »Gemeinsam für eine starke Bundeswehr: Die Zeitenwende personell gestalten«. Demnach soll die BA in ihrer Beratung »Interessierten« künftig sämtliche Berufsfelder der Bundeswehr präsentieren. Den Vertrag unterzeichneten Minister Pistorius und BA-Chefin Andrea Nahles am 6. November. Danach sollen »soldatische Aufgaben als berufliche Perspektive gezeigt werden«, erklärte Pistorius. Die Vereinbarung stütze sich auf die »guten Erfahrungen der bisherigen Kooperation«, »insbesondere im Bereich der zivilen Personalgewinnung und der zivilberuflichen Eingliederung«. »Im Fokus« der neuen Vereinbarung steht nun aber »insbesondere die Unterstützung der militärischen Personalgewinnung« zur »Ertüchtigung der Streitkräfte im Geiste der ›Zeitenwende‹ durch die BA«. Vor allem geht es darum, den von Pistorius geplanten »Aufwuchs« bei der Truppenstärke um gut 20 000 Personen »zeitgerecht« zu bewerkstelligen. Zudem wollen BA und Bundeswehr mit der neuen Vereinbarung »weiterhin im wichtigen Bereich der beruflichen Qualifizierung und Eingliederung der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit in den Arbeitsmarkt« kooperieren und so »zielgerichtet auch den Fachkräftebedarf« der Wirtschaft decken. Explizit sollen von der BA laut der Vereinbarung »arbeitsuchende und arbeitslose Bewerbende auf offene militärische und zivile Stellen der Bundeswehr« vermittelt werden. Außerdem sollen die Jobporträts, die bislang auf dem Karriereportal der Truppe zugänglich sind, künftig auch auf dem Portal berufe.tv der BA verfügbar sein. Und es ist eine »zielgerichtete Präsenz der Personalgewinnungsorganisation der Bundeswehr in den Liegenschaften der BA« vorgesehen. Parallel soll die Beratung der BA für »einsatzgeschädigte Soldatinnen und Soldaten nach dem Ende des aktiven Dienstes mit dem Ziel der beruflichen Integration« verbessert werden…“ Artikel von Jana Frielinghaus vom 5. Januar 2025 in Neues Deutschland online - Bundeswehr-Werbung: Krieg als Videospiel: Mit immer neuen Reklameformaten buhlt die Truppe um Nachwuchs. Kostenpunkt: 35 Millionen Euro jährlich
„Sie laufen in Kinos, online und auf Social-Media-Kanälen: Werbeclips der Bundeswehr. Darin wird in Top-Gun-Optik vorgegaukelt, das Leben beim Arbeitgeber Armee sei pures Abenteuer unter den besten Kolleginnen und Kameraden der Welt. In einer neuen Plakatkampagne, die im Oktober startete, gibt es zudem einen Wechsel in der Ansprache dahingehend, dass eine Entscheidung für die Truppe eine sei, die individuellen Vorlieben junger Menschen entgegenkomme. Während zuvor der bekannte Spruch »Wir dienen Deutschland« auf jedem Plakat prangte, lautet der Leitslogan nun: »Weil du es kannst.« Die Linke im Bundestag wollte wissen, wie viel Geld sich der Bund das Buhlen um Rekruten nach der »Zeitenwende« kosten lässt. Laut Antwort des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) von Mitte Dezember, die »nd« vorliegt, hat sich die Gesamtsumme, die für Nachwuchswerbung ausgegeben wird, in den letzten Jahren kaum verändert. Sie lag demnach in den Jahren 2021 bis 2023 bei jeweils 35,3 Millionen und in den beiden Jahren zuvor bei je 34,7 Millionen Euro. Für 2024 wurden noch keine Zahlen vorgelegt. (…)
Da die für vom Verteidigungsministerium seit vielen Jahren mit der »Arbeitgeberkommunikation« betraute Firma Castenow aktuell aber öffentlich dafür wirbt, dass die Bundeswehr auf allen Kanälen und »erstmals seit sechs Jahren« auch wieder »im TV« für sich wirbt, kann man davon ausgehen, dass es im gerade zu Ende gegangenen Jahr einen deutlichen Anstieg gegeben hat. (…) Zugleich sind die erheblichen Aufwendungen für die Arbeit der Jugendoffiziere im ganzen Land zwar keine direkte Nachwuchswerbung. Doch sie sind faktisch Teil der spätestens seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011 massiven Öffentlichkeitsarbeit. Und gerade in strukturschwachen Regionen mit wenig Jobangeboten nutzen Schulen und Lehrkräfte seit langem diese »Informationsangebote« umfänglich. Dass es sich um reine Information handele, betont auch Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller (SPD) in ihrer Antwort auf die von der Abgeordneten Susanne Ferschle eingereichte Anfrage. Dass es hier ein Ungleichgewicht zugunsten der des Militärs gibt, kritisiert Die Linke im Bund wie auch in den Ländern. Ferschl und Genossinnen fragten deshalb, ob sich die Bundesregierung in der Verantwortung sehe, dass junge Menschen auch »über ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Wehrdienstverweigerung ebenfalls öffentlich informiert werden«. Die Antwort des BMVg ist eindeutig: Mit der »wirksamen Verkündung« des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes im Bundesgesetzblatt 2003 habe »jede Bürgerin und jeder Bürger die bedingungslose Möglichkeit der zuverlässigen Kenntnisnahme erlangt. Eine Verantwortung zur Aufklärung im Sinne der Fragestellung ergibt sich daher nicht.« (…)
Die Begeisterung der jungen Generation für die Truppe hält sich allerdings weiter in Grenzen. Dagegen hat sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer trotz bislang nicht erfolgter Reaktivierung der Wehrpflicht stark erhöht. Im Jahr 2023 wurden nach Angaben der Wehrbeauftragten des Bundestages, Eva Högl (SPD) 1609 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung gestellt, 486 mehr als im Jahr zuvor. 2024 hatten laut Bundeswehr bereits bis zum 31. August 2053 Personen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung eingereicht.“ Artikel von Jana Frielinghaus vom 5. Januar 2025 in Neues Deutschland online
- Arbeitsamt soll direkt fürs Sterben werben: Verteidigungsministerium und Bundesagentur für Arbeit haben eine neue Kooperationsvereinbarung
- »Kriegstüchtigkeit« der Bundeswehr: Vorauseilende Absagen. Mehr Reservisten und »Ungediente« verweigern den Kriegsdienst. „Diese Statistik dürfte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der das Land unbedingt »kriegstüchtig« machen will, nicht gefallen: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 ist die Zahl der Kriegsdienstverweigerer stark angestiegen, weil offenbar immer weniger Männer und Frauen bereit sind, sich im Ernstfall als Kanonenfutter herzugeben. Allein in diesem Jahr haben bis Ende Oktober 2.468 Menschen einen entsprechenden Antrag gestellt, wie Bild online am Donnerstag abend unter Berufung auf einen Ministeriumssprecher berichtete. Das sind 50 Prozent mehr als 2023 (1.609) und elfmal so viele wie 2021 (209), also vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Unter den Kriegsdienstverweigerern sind auch aktive Soldaten, allerdings vergleichsweise wenige. (…) Bei Bild sorgt man sich vor allem um die aktiven Soldaten und Reservisten, die nach dem Februar 2022 den Kriegsdienst verweigert hatten. Es würden »oftmals die Falschen rekrutiert«, die Werbekampagnen der Bundeswehr versprächen »einen angenehmen Wohlfühljob«, doch eine Armee brauche »Kämpfer«, zitiert das Blatt den Militärhistoriker und Reserveoffizier Matthias Strohn, der an der englischen Privatuniversität Buckingham lehrt. Am Freitag befasste sich der Bundesrat mit dem Wehrdienstmodell von Pistorius, mit dem unter anderem eine Auskunftspflicht für junge Männer über ihre Bereitschaft zum Wehrdienst eingeführt werden soll. Derzeit dienen rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten beim Militär, dazu kommen rund 60.000 Reservisten. Das ist dem Ministerium deutlich zu wenig. Die offiziell von der Bundeswehr angestrebte Personalstärke zum Anfang des kommenden Jahrzehnts liegt bislang bei 203.000. In der Fragestunde des Bundestages am Mittwoch hatte Pistorius davon gesprochen, die Zahl von wahrscheinlich eher 230.000 Soldaten und Soldatinnen anzustreben, wie der Journalist Thomas Wiegold am Mittwoch nach der Ausschusssitzung auf augengeradeaus.net berichtete…“ Artikel von Kristian Stemmler in der jungen Welt vom 21. Dezember 2024
- Angst vor Kriegseinsätzen: Zahl der Verweigerer steigt deutlich
„Die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt, nicht aufgehoben. Das wird jungen Männern zunehmend bewusst. Doch nicht nur Ungediente verweigern vorsorglich.
Die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen in Deutschland ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. 2022 hatten 1.123 Personen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) gestellt. 2023 waren es bereits 1.609 Anträge. Im laufenden Jahr 2024 nahm der Trend noch einmal Fahrt auf: Bis zum 31. August gab es schon 2.053 Anträge.
Wehrpflicht-Debatte: Viele Ungediente verweigern vorsorglich
Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Gruppe Die Linke im Bundestag hervor. Die größte Gruppe unter den Antragstellern sind mit 835 Anträgen „Ungediente“, zumeist junge Männer, die für den Fall einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht deutlich machen wollen, dass sie für mögliche Kriegseinsätze nicht zur Verfügung stehen. 596 KDV-Anträge kamen 2023 von Reservistinnen und Reservisten – im Vorjahr: 438 Anträge – und weitere 693 Anträge dieser Gruppe gingen bis Ende August 2024 bei den Kreiswehrersatzämtern ein. (…)
Hohe Anerkennungsquote bei langer Wartezeit
Die Anerkennungsquote bei Verweigerung hat sich gegenüber den Vorjahren noch einmal erhöht: Über 87 Prozent der KDV-Anträge wurde 2023 positiv entschieden, 81 Prozent waren es bis zum 31. August 2024. Das liegt auch daran, dass das Personal im zuständigen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) noch einmal aufgestockt wurde. „Trotzdem dauert es aktuell noch immer mehrere Monate, bis über einen KDV-Antrag entschieden ist“, kritisiert Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der „Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“ (DFG-VK). „Gerade für Soldatinnen und Soldaten, die sich aus Gewissengründen gegen den weiteren Kriegsdienst in der Bundeswehr entschieden haben, stellt die Zeitspanne während des langen Verfahrens eine starke Belastung dar.“…“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 18. Oktober 2024 in Telepolis - Fremdenlegion mangels Bewerbungen im Gespräch: „Deutschland dienen“ – auch ohne Deutschen Pass?
- Ministerium prüft Reform: Soldaten ohne deutschen Pass bei der Bundeswehr?
„Das Verteidigungsministerium prüft, ob Ausländer als Soldat in Bundeswehr dienen sollen. Grund: Fachkräftemangel durch alternde Bevölkerung. FDP und Union zeigen sich offen. Kritik kommt aber auch. Hinzu kommt ein Loyalitätsproblem: Müssen russlanddeutsche Bundeswehr-Soldaten Ukrainer ausbilden? (…) Verteidigungsminister Boris Pistorius lässt bereits Modelle einer Dienstpflicht prüfen und lässt eine Taskforce auch das gesamte Personalwesen untersuchen. Der SPD-Politiker zeigte sich in der vergangenen Woche offen für Soldaten ohne deutschen Pass. „Wir wären nicht die ersten Streitkräfte in Europa, die das tun würden“, sagte Pistorius. Es gebe Menschen im Land, die in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, aber noch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Dabei ist die Anwerbung von Männern und Frauen, die schon in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, nur ein denkbares Modell. Eine Öffnung für Bürger aus EU- oder Nato-Staaten ist ein anderes Modell. Einzelne Partner gehen gleich ganz andere Wege. Die US-Streitkräfte wurden für Migranten geöffnet, die im Gegenzug auf eine Staatsbürgerschaft hoffen können. Frankreich hat mit der Fremdenlegion traditionell einen Verband, in dem die Mannschaften aus dem Ausland kommen, die Offiziere aber Franzosen sind – und somit eine ganz andere Praxis als Deutschland. Neu ist die Debatte nicht. Schon vor mehr als zehn Jahren wurde der Vorschlag kontrovers diskutiert …“ Beitrag von Carsten Hoffmann vom 23.01.2024 im Migazin - Personalmangel bei der Bundeswehr: Deutschland dienen – auch ohne Deutschen Pass?
„… Nicht zum ersten Mal wird wegen Personalmangels diskutiert, ausländische Staatsbürger für die deutschen Streitkräfte anzuwerben. Bereits im Mai 2023 hatte die Bild über ein Papier der CDU-Fachkommission „Internationale Stabilität“ berichtet, in dem davon die Rede war. (…) Gerade ist die Debatte wieder aufgeflammt: „Wir wären nicht die ersten Streitkräfte in Europa, die das tun würden“, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Ende vergangener Woche dem Tagesspiegel. (…) Außerhalb der EU kämpfen sowohl in den Streitkräften der USA und Kanadas als auch in der russischen Armee ausländische Staatsbürger. Der Kreml hat Anfang Januar ein Dekret veröffentlicht, das Ausländern, die im Krieg gegen die Ukraine für Russland kämpfen, die Einbürgerung erleichtern soll. Voraussetzung sei, dass die Ausländer einen mindestens einjährigen Vertrag mit der russischen Armee oder anderen bewaffneten Organisationen abgeschlossen hätten. (…) Ein ähnliches Anreizsystem gibt es in den USA seit Jahrzehnten: Auch der erste im Irak-Krieg 2003 gefallene US-Soldat war kein US-Staatsbürger, sondern ein „Green Card Solider“ – als ehemaliges Straßenkind aus Guatemala erhoffte er sich vom Militärdienst eine unkomplizierte Einbürgerung und Chancen. Seine Geschichte hat die Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna 2006 in dem Dokumentarfilm „Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez“ nachgezeichnet. (…) Die Ukraine allerdings hat nach Medienberichten damit aufgehört, ausländische Staatsbürger zu rekrutieren: „Die Ukraine hat mit der Anwerbung von Ausländern keine besonders guten Erfahrungen gemacht und wirbt diese auch nicht mehr an“, sagte der Militäranalyst Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) laut einem Bericht der Wirtschaftswoche zur aktuellen Debatte in Deutschland. Viele hätten den Dienst schnell wieder quittiert, der Aufwand für Ausbildung und Ausrüstung habe in keinem Verhältnis zum Nutzen gestanden.Die Idee, ausländische Staatsbürger für die Bundeswehr zu rekrutieren, sieht Gressel kritisch. (…) Für „Green Card Soldiers“ aus Lateinamerika scheint sich der Dienst in den US-Streitkräften übrigens auch dann nicht immer zu lohnen, wenn sie Kriegseinsätze überleben: Nicht nur im Fall einer unehrenhaften Entlassung, sondern auch bei einer ehrenhaften Entlassung aus medizinischen Gründen droht ihnen die Abschiebung. Auch einem Afghanistan-Veteranen mexikanischer Herkunft, über den der Deutschlandfunk 2016 in einer Reportage berichtete, ist das schon passiert.“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 22. Januar 2024 bei Telepolis
- Ministerium prüft Reform: Soldaten ohne deutschen Pass bei der Bundeswehr?
- Krieg ist kein Egoshooter: Anträge auf Verweigerung bei der Bundeswehr verfünffacht
„Die Werbestrategie der Bundeswehr war in den letzten Jahren teils betont unpolitisch. Das scheint sich nun zu rächen. Warum auch der Wehrminister einen Strategiewechsel will. Die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr beruhte bisher nicht unbedingt auf politischer Überzeugungsarbeit. Stattdessen wurden Jugendliche, die ein bisschen Action wollten, mit Sommercamps geködert und „it-affines“ Personal auf der Spielemesse Gamescom gesucht. Für vorsichtigere Typen gab es in den Corona-Jahren das Werbeversprechen, beim Militär einen „sicheren Job“ in unsicheren Zeiten zu bekommen – und schon lange vor der Einsamkeit der Lockdowns verbreitete die Bundeswehr auf ihrer Facebook-Seite den Spruch: „Was sind schon 1.000 Freunde im Netz gegen einen echten Kameraden?“ Dass ein echter Krieg kein Egoshooter, kein Abenteuerspielplatz und erst recht nicht „sicher“ ist, weil man selbst oder der „echte Kamerad“ auch ganz schnell tot sein kann, darauf wiesen vor allem gern belächelte und inzwischen oft als „Lumpenpazifisten“ geschmähte Friedensgruppen hin. (…) Die Überzeugungsarbeit von Friedensgruppen dürfte aber nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich sein, dass sich die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung bei der Bundeswehr seit Ausrufung der „Zeitenwende“ nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verfünffacht hat. Dieser sprunghafte Anstieg geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus der Fraktion Die Linke hervor.
Nicht nur Ungediente fürchten den Ernstfall
Im Jahr 2020 gab es nur 142 Anträge dieser Art, 2021 waren es 209 – im vergangenen Jahr waren es bereits 1.123 Anträge. Unter den Antragstellern von 2022 waren demnach 438 Reservisten, 226 Zeitsoldaten, acht Berufssoldaten, ein freiwillig Dienstleistender und 450 Ungediente. (…) Die allgemeine Wehrpflicht für junge Männer ist zwar seit 2011 ausgesetzt – bei einer Teil- oder Generalmobilmachung im Spannungs- oder Verteidigungsfall könnten alle Männer ab 18 Jahren bis zur Vollendung des 59. Lebensjahres eingezogen werden. Wer den Kriegsdienst verweigert, kann zum zeitlich unbefristeten Zivildienst beordert werden. Bis zum 30. April dieses Jahres sind laut Antwort der Bundesregierung schon 672 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung bei der Bundeswehr eingegangen – falls sich dieser Trend fortsetzt, dürften es bis Jahresende mehr als 2000 sein. Allerdings lag der Anteil der ungedienten Antragsteller in den ersten vier Monaten dieses Jahres mit 366 bereits bei mehr als der Hälfte. „Nur“ 60 Zeit- und drei Berufssoldaten sowie 243 bekamen in diesem Zeitraum kalte Füße…“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 04. August 2023 in telepolis – sehr erfreulich! - Wenig Bock auf Soldatentum. Jahresbericht der Wehrbeauftragten: Aufstockung der Bundeswehr auf dem Rücken von Minderjährigen
„Die Vorstellung des Jahresberichtes der Wehrbeauftragten des Bundestages, Eva Högl, stand am Dienstag im Zeichen der von der Bundesregierung ausgerufenen bellizistisch-militaristischen »Zeitenwende«. Seit dem 24. Februar 2022 – dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine – sei das Interesse an der Bundeswehr deutlich gewachsen, freute sich die SPD-Politikerin. Sicherheits- und Verteidigungspolitik habe jetzt Konjunktur. Die Soldaten seien hochmotiviert, denn sie würden sehen: »Wir werden gebraucht.« (…) Doch gerade das grünliberale Milieu, das erst jüngst seine Liebe zum Militärischen entdeckt hat, wenn es denn gegen »den Russen« geht, ist am wenigsten bereit, den eigenen Kopf hinzuhalten, gar das eigene Leben zu riskieren oder sich auch nur einem sinnlosen Schliff durch sadistische Unteroffiziere zu unterziehen. So fehlt es der Bundeswehr an Kanonenfutter für die kommenden Kriege der Herrschenden. Um ihre Zielvorgabe von 203.000 Soldaten bis zum Jahr 2031 zu erreichen, »muss sie ihre bisherigen Anstrengungen nochmals verstärken«, heißt es im Bericht. Zum 31. Dezember 2022 umfasste der militärische Personalkörper 183.051 Soldatinnen und Soldaten – rund 500 weniger als ein Jahr zuvor. Beim Bewerberaufkommen sei ein Einbruch von rund elf Prozent »erheblich«. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung von 209 Anträgen im Jahr 2021 auf 1.123 an. »Ob ein Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine besteht, kann nur vermutet werden«, heißt es dazu lapidar. »Besonders im Bereich der Rekrutierung Minderjähriger ist der Wehrbericht erschreckend«, zeigte sich Ali Al-Dailami, verteidigungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke, am Dienstag gegenüber junge Welt empört darüber, dass die geplante Aufstockung der Bundeswehr auf dem Rücken Minderjähriger ausgetragen werde. Im vergangenen Jahr hatte die Bundeswehr 1.773 erst 17jährige Soldaten eingestellt – das war fast jeder zehnte neugewonnene Soldat und ist ein Plus von 43 Prozent in dieser Altersgruppe gegenüber dem Vorjahr. Diese geschehe in Missachtung einer Rüge der Vereinten Nationen von 2014, beklagt Al-Dailami. »Der besonderen Schutzbedürftigkeit Minderjähriger kommt der Staat hier nicht nach.« Immerhin hatten 455 der bei ihrer Einstellung noch Minderjährigen innerhalb ihrer halbjährigen Probezeit schon wieder hingeschmissen – eine deutlich höhere Quote als bei den volljährigen Soldaten. Und auch bei diesen ist der Anteil der Abbrecher mit 21 Prozent hoch. 27 Prozent der Zeitsoldaten quittierten den Dienst innerhalb von sechs Monaten. Beim Heer betrug diese Quote gar 33 Prozent. Viele fühlten sich wahrscheinlich nicht wohl und haben sich den Soldatenberuf anders vorgestellt, vermutet die Wehrbeauftragte. Auf Imagewerbung der Bundeswehr angesprochen, plädierte Högl daher für eine realistische Darstellung, »damit die Realität nicht eine ziemlich brutale andere ist als in den Filmchen«.“ Artikel von Nick Brauns in der jungen Welt vom 15. März 2023 - Bundeswehr und Ukraine-Krieg: Mehr Soldaten verweigern den Dienst
„… Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr ist 2022, im Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine, sprunghaft angestiegen. „Im Jahr 2021 sind im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben 201 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung eingegangen, im Jahr 2022 waren es insgesamt 951 Anträge“, sagte ein Sprecher des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Viele begründen ihre Anträge dem Bericht zufolge damit, dass sie mit einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht gerechnet hätten. Der Politische Geschäftsführer der „Deutschen Friedensgesellschaft“, Michael Schulze von Glaßer, sagte dem RND: „Soldatinnen und Soldaten, die in dieser sicherheitspolitisch brisanten Zeit zu der Erkenntnis kommen, doch nicht auf andere Menschen schießen und sie töten oder verletzen zu wollen, muss ein einfacher Ausweg aus der Armee geboten werden.“ Viele der heutigen Bundeswehr-Angehörigen würden mit Werbeversprechungen in die Armee gelockt, die mit der Realität nichts zu tun hätten.“ Agenturmeldung vom 6. Januar 2023 in der taz online