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10 Jahre nach dem Bundeswehr-Massaker in Kundus: Die Betroffenen in Afghanistan fordern weiterhin Aufklärung

Dossier

Das bombardierte Krankenhaus von Kundus am 3.10.2015Es sind schwere Vorwürfe, die die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz (Die Linke) erhebt: Die Bundesregierung verhöhne die bis zu 140 Opfer des Luftangriffs in Kundus vor genau zehn Jahren, kümmere sich nicht um Hinterbliebene, weigere sich, Verantwortung zu übernehmen, und ziehe keine Konsequenzen aus dem Bombardement. Genau zehn Jahre ist der opferreichste Angriff, den deutsche Militärs nach dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten haben, nun her. Buchholz gehört dem Verteidigungsausschuss an und saß von 2009 bis 2011 im Kundus-Untersuchungsausschuss. Anlässlich des zehnten Jahrestages des Angriffs, in dessen Folge der damalige Arbeitsminister und vorherige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zurücktreten musste, hat Buchholz der Regierung Fragen gestellt. Die Antworten „offenbaren, dass es der Bundesregierung damals wie heute in Afghanistan bei dem Bundeswehreinsatz nicht um die Bevölkerung geht“, empört sich Buchholz. Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort auf die Bundesanwaltschaft, die den Luftangriff im Rahmen des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten als „völkerrechtlich zulässig und damit strafrechtlich gerechtfertigt“ bezeichnet hatte…“ – aus dem Beitrag „Kritik an der Kundus-Aufarbeitung“ von Sven Hansen am 03. September 2019 in der taz online externer Link, worin auch noch auf die anstehenden Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hingewiesen wird. Siehe dazu weitere Beiträge und einen älteren Hintergrundbeitrag über die Opfer der Bundeswehr in Afghanistan:

  • Nach der britischen Royal Army bekommt auch die Bundeswehr „grünes Licht“ von einem Internationale Gerichtshof: Zivile Opfer der Bombenangriffe in Afghanistan? Ist Okay… New
    Als der frühere US-Präsident Trump US-Söldner im Irak, die wegen ihrer Verbrechen verurteilt worden waren begnadigte, war die – wie echte auch immer – Empörung groß. Kaum ein Wort aber – jedenfalls in bundesdeutschen Mainstream-Medien – fand sich zur nahezu gleichzeitigen Weigerung des Internationalen Strafgerichtshofes, eine Verfahren gegen die britische Armee (und den damaligen Oberkommandierenden Tony Blair) auch nur zu eröffnen. Da hat nun der Europäische Gerichtshf über die Bomben der Bundeswehr in Kundus eine Art Zwischenlösung gefunden, die weniger provokativ erscheinen mag: Verfahren durchgeführt, frei gesprochen. Womit also zwei internationale Gerichte bereits bestätigt hätten, dass – in der Sprache der Menschenrechtskrieger – „Kollateralschäden“ (sprich zivile Todesopfer) – eben vorkommen und kein Grund sind, die Täter juristisch zu belangen, oder, mit anderen Worten: „Schießt ruhig, passiert nichts…“ Siehe dazu mehrere Beiträge zum Urteil zugunsten des Bundeswehr-Terrors und das Urteil selbst sowie einen Beitrag (der Vollständigkeit halber) zur Verweigerung des Verfahrens gegen die Verbrechen der britischen Armee im Irak:

    • Grand Chamber judgment concerning Germany
      In the case of Hanan v. Germany, the Court has found that the investigation conducted by the German authorities into the death of the applicant’s sons fulfilled the obligation to conduct an effective investigation under the Convention and thus there has been no violation of Article 2 (right to life). The case concerned investigations carried out following the death of the applicant’s two sons in an airstrike in Afghanistan, in September 2009, ordered by a colonel of the German contingent of the International Security Assistance Force (ISAF) commanded by NATO…“ Die Pressemitteilung des EGMR vom 16.02.2021 externer Link
    • EGMR-Urteil zur Verantwortung Deutschlands im Fall Kundus: Deutschland war verpflichtet, den Luftangriff zu untersuchen
      Heute hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Fall Hanan gegen Deutschland entschieden, dass die Bundesregierung nicht gegen die Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat. Doch der Gerichtshof bekräftigt, dass Staaten, die ihre Truppen für multinationale Militäreinsätze zur Verfügung stellen, verpflichtet sind, Verbrechensvorwürfen gegenüber ihrem Personal nachzugehen. Diese Ermittlungen müssen nach den Standards der EMRK geführt werden. Das heutige Urteil ist daher für militärische Einsätze im Ausland von großer Bedeutung. Enttäuschenderweise stellte der Gerichtshof nicht fest, dass die Untersuchung Deutschlands seine Verpflichtung nach Artikel 2 der Konvention verletzt hat, den Vorfall effektiv zu untersuchen. Es bleibt aber festzuhalten, dass es durch die Geheimhaltung in den Verfahren sowie durch die Konstellation mit verschiedenen Zuständigkeiten durch NATO und Deutschland zu keinen umfassenden Ermittlungen gekommen ist. Lücken bleiben daher bestehen und müssen für die Zukunft adressiert werden. Durch die Teilung der NATO-Ermittlungen vor Ort, die nicht nach Strafprozessrecht geführt wurden und den Ermittlungen in Deutschland bleibt eine umfassende Aufarbeitung durch die absichtlich organisierte Unverantwortlichkeit zwischen NATO und Deutschland bestehen…“ Pressemitteilung vom 16.02.2021 des European Center for Constitutional and Human Rights externer Link (ECCHR) – siehe auch deren Dossier zum Fall externer Link
    • „Kundus: Europäischer Persilschein für blutigsten deutschen Angriff seit 1945“ von Lea Lotter am 16. Februar 2021 bei Klasse gegen Klasse externer Link hebt zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes hervor: „… Mehr als 100 Menschen wurden in diesem blutigsten deutschen Einsatz seit dem Zweiten Weltkrieg getötet. Alles, was die Hinterbliebenen bekommen haben, sind Einmalzahlungen von 5000 Dollar als Ausgleich für den Mord an ihren Freund:innen und Familienmitgliedern. (…) Abdul Hanan, dessen zwei Söhne bei diesem Luftangriff ermordet wurden, klagte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – er konnte nicht gegen den Angriff an sich klagen, sondern nur wegen der Aufklärungspflicht Deutschlands zu diesem. Hanan warf Deutschland Menschenrechtsverletzungen vor: Er ist der Meinung, der Fall wäre nicht ausreichend juristisch aufgearbeitet worden. Entschädigungsklagen von ihm und anderen Hinterbliebenen scheiterten bereits vor deutschen Gerichten. Die Bundesregierung war der Meinung, eine Auszahlung von je 5000 Dollar, die lächerlicherweise als “humanitäre Hilfeleistung” bezeichnet wird, wäre genug, um den Mord an ihren Familienmitgliedern auszugleichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschloss heute, dass die deutsche Justiz in diesem schweren Fall genug ermittelt hätte. Die Entscheidung ist endgültig, es gibt keine Möglichkeit zur Beschwerde…“
    • „Ignoranz gegenüber Kundus-Opfern“ von Daniel Lückingam 16. Februar 2021 in nd online externer Link zum Urteil und ersten Reaktionen unter anderem: „… Das ECCHR weist darauf hin, dass die Untersuchungen des Bombardements eine »organisierte Unverantwortlichkeit« zu Tage gefördert haben. Die Ermittlungen der Nato in Afghanistan seien nicht nach Strafprozessrecht geführt worden. Sowohl Deutschland als auch die Nato verhinderten damit eine umfassende Aufarbeitung des Falles. Rechtsanwalt und ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck, der Hanan vor dem EGMR vertritt, sagte, die Opfer wünschten sich zudem, dass die Bundesregierung Kontakt zu ihnen sucht, um sich zu vergewissern, wie es ihnen zwölf Jahre nach dem Luftangriff gehe. »Dies ist gerade mit Blick auf den Abzug der Soldaten und Soldatinnen aus Afghanistan geboten«, so Kaleck. »Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte baut auf der Erzählung der Bundeswehr und der Bundesregierung auf, die den Angriff als militärisch angemessen bezeichnet haben«, erklärte die Linke-Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz. »Im Kundus-Untersuchungsausschuss wurde festgestellt, dass der den Angriff kommandierende Oberst Georg Klein nicht zwischen Aufständischen und Zivilisten unterschieden und damit Grundregeln des Völkerrechts missachtet hatte.« Zudem habe Klein mehrere Einsatzregeln der Nato ignoriert und auf die vorgeschriebene »show of force« verzichtet, einen Überflug in niedriger Höhe als Warnung für den bevorstehenden Angriff. »Stattdessen ließ Klein ohne Vorwarnung bombardieren«, fasste Buchholz zusammen. »Das Ende der juristischen Aufarbeitung des Bombardements am Kundus-Fluss ist nicht das Ende der politischen Aufarbeitung«, teilte Omid Nouripour, Sprecher für Außenpolitik der Grünen, mit. »Weiterhin verweigert die Bundesregierung eine unabhängige und wissenschaftliche Evaluation des Afghanistan-Einsatzes, bei der auch die Geschehnisse des 3./4. September 2009 einfließen müssen«, so Nouripour. Der Angriff in Kundus habe nicht nur die Bundeswehr und ihre Strukturen verändert, sondern auch die Politik und die Sichtweise der Öffentlichkeit auf Auslandseinsätze. Nouripour mahnte, gerade die SPD, die eine solche Evaluation in der Opposition stets eingefordert hatte, müsse hier liefern, wenn sie nach den Rüstungsexporten nicht auch noch an dieser Baustelle ihre Glaubwürdigkeit verlieren wolle. »Aus zeitlichen Gründen wird es von Seiten der SPD-Fraktion kein Zitat geben«, heißt es aus der Pressestelle auf »nd«-Anfrage. Die Fraktion waren zeitgleich mit der Linken, Grünen, FDP und CDU/CSU um eine Stellungnahme zum Urteil gebeten worden. »Der gewünschte Teilnehmer hat seine Mailbox leider ausgeschaltet. Sie können daher keine Nachrichten hinterlassen«, hieß es in der CDU-Pressestelle. Zeitdruck auch bei der Pressestelle der FDP, die jedoch auf Nachfrage versicherte, an einer Pressemitteilung zu arbeiten. Im Verteidigungsministerium verwies eine Sprecherin auf das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, das die Federführung in dem Fall habe. Eine Stellungnahme von dort lag bis Redaktionsschluss nicht vor…“
  • „Neue Hoffnung“ von Jörg Kronauer am 03. September 2019 in der jungen welt externer Link über Erwartungen der Betroffenen unter anderem: „Zehn Jahre nach der Tat keimt Hoffnung auf. Am Mittwoch vergangener Woche, kurz vor dem Jahrestag des Massakers von Kundus, gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg bekannt, seine Große Kammer habe Abdul Hanans Klage gegen die Bundesrepublik angenommen. Hanan hatte bei dem Massaker in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009, für das der damalige Bundeswehroberst Georg Klein militärisch Verantwortung trug, zwei Söhne im Alter von acht und zwölf Jahren verloren. Insgesamt waren Dutzende, vermutlich gar über hundert Zivilisten zu Tode gekommen. Hanan fordert Gerechtigkeit – und obwohl seine Klage wie die anderer Opferangehöriger von deutschen Gerichten letztinstanzlich abgewiesen wurde, hat er nicht aufgegeben: Er ist einen Schritt weiter gegangen und hat sich an den EGMR gewandt. Dessen Große Kammer wird sich nun damit befassen. Begonnen hatten die Ereignisse, die letztlich in das Massaker mündeten, am Nachmittag des 3. September 2009 gegen 15.30 Uhr afghanischer Ortszeit, also gegen 13 Uhr in Deutschland. Taliban-Kämpfer hatten bei der Ortschaft Aliabad wenige Kilometer südlich des deutschen Feldlagers in Kundus zwei Tanklaster in ihre Gewalt gebracht. Die militärische Gesamtlage war stark angespannt. Auch die Bundeswehr war in erbitterte Gefechte verwickelt, und die Befürchtung machte unter deutschen Militärs die Runde, die Taliban könnten die frisch erbeuteten Tanker als rollende Bomben nutzen, um das deutsche Feldlager anzugreifen. Abends wurde US-Luftunterstützung angefordert, zunächst zur Aufklärung. Es zeigte sich, dass die zwei Tanker auf einer Sandbank in einem Fluss festsaßen, den sie offenbar hatten überqueren wollen. Zahlreiche Menschen – vorwiegend Zivilisten aus den umliegenden Dörfern – waren gekommen, zapften den begehrten Treibstoff ab, suchten damit zugleich die feststeckenden Tanker wieder flottzumachen. Der zuständige Kommandeur, Oberst Klein, befahl, die Fahrzeuge per Luftangriff zu vernichten. Um 1.49 Uhr Ortszeit am 4. September – 23.19 Uhr in Deutschland – warfen zwei F-15-Jets der United States Air Force die tödlichen Bomben ab…“
  • „Wie viele Menschen hat die Bundeswehr in Afghanistan getötet?“ von Thomas Mickan am 12. Februar 2015 bei IMI-Online externer Link zum Anfang des Abschnitts, in dem die Frage versucht wird zu beantworten: „… Nach Auswertung der Quellen und der Abwägung, in welchem Umfang diese zu berücksichtigen sind, muss von mindestens 126-132 (update 26.8.2016: 142-148) getöteten Menschen durch die Bundeswehr ausgegangen werden, plus die veranschlagte Zahl von 142 Opfern des Kunduz-Bombardements. Bei den so insgesamt rund 270 (update 26.8.2016: 290) getöteten Menschen sind auch jene mit erfasst, bei denen die Bundeswehr, wie auch bei den Tanklastzügen, Luftnahunterstützung erhalten hat. Diese Zahl ist allerdings äußerst konservativ und beschränkt sich lediglich auf die öffentlich zugänglichen Quellen, insbesondere im Zeitraum 2009-2010. Sie ist nur eine vorläufige erste Schätzung, die sich im Rahmen einer weiteren Aufarbeitung des Afghanistankonfliktes mit großer Wahrscheinlichkeit noch um ein Vielfaches erhöhen wird. Ein erstes Indiz für eine bessere Schätzung liefert eine psychologische Untersuchung an der TU-Dresden über posttraumatische Belastungsstörungen. Unterstützt und begleitet durch die Bundeswehr – es kann also von transparenter, bundeswehrnaher Forschung gesprochen werden – befragten die Psycholog_innen Soldat_innen, die in Afghanistan gekämpft haben. Die Stichprobe wurde repräsentativ aus der Grundgesamtheit von 9617 Soldat_innen des 20. und 21. Einsatzkontingentes aus den Jahren 2009/2010 gezogen. Der Umfang der Stichprobe betrug 1599 Fälle, von denen 1483 Fälle einen Fragebogen zu ihren möglicherweise traumatisierten Erlebnissen in Afghanistan ausfüllten. Aufgrund der hohen Rücklaufquote kommen die Forschenden zu dem Ergebnis, dass sie „keine bemerkenswerten Einschränkungen für die Repräsentativität der Studie für die Soldaten des ISAF-Einsatzes 2009/2010“ erkennen können. Die Soldat_innen wurden beispielsweise befragt, ob sie während ihres Einsatzes mindestens einmal „zerstörte Häuser oder Dorfer gesehen“ haben. Von den 1483 Befragten beantworteten dies 1131 Personen mit Ja. Dies schließt nicht aus, dass sie nicht auch mehrmals diesem Einsatzereignis begegnet sind. Für die Frage nach der Tötungshäufigkeit durch deutsche Soldat_innen sind insbesondere drei Items besonders interessant. Erstens wurde gefragt, wie viele Soldat_innen „auf einen Gegner gezielt oder geschossen haben“. Das beantworteten von den 1483 Personen insgesamt 432 mit Ja. Zweitens wurde gefragt, ob die Person den „Beschuss des Gegners befohlen“ hatte – von den 1483 beantworteten 197 Personen dies mit Ja. Die diskussionswürdigste Zahl ist allerdings die Frage, ob die Soldat_innen „verantwortlich für den Tod eines Gegners“ waren. Von den 1483 Befragten beantworteten 131 Personen diese Frage mit Ja. Ob zivile Personen getötet wurden, oder ob Soldat_innen mehrfach töteten, wurde nicht erfasst!…“
  • Spurensuche in Kundus
    Ein deutscher Oberst befahl das Bombardement von zwei Tanklastern bei Kundus. Zwischen 17 und 142 Tote habe es gegeben, hieß es später. Die Ausstellung „KUNDUZ, 4. September 2009“ in Potsdam gibt den Zahlen ein Gesicht…“ Reportage von Mandy Schielke vom 05.05.2010 bei der Deutschen Welle externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=153923
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