Die hessische Drohkampagne mit Hilfe von Polizei-Daten: Öffentliche Untersuchung statt polizeilicher (Selbst)Ermittler
Dossier
„… Und die Arme des NSU ragen bis in die Polizei und die Sicherheitsbehörden hinein. Auch das ist Teil der Erzählung, sowohl des alten als auch des neuen NSU. Die vertraulichen Inhalte, die nicht-öffentlichen Anschriften stammen aus Computern der Polizei. Doch wer hat diese Daten abgefragt? Wer hat diese Daten weitergegeben? Und wer hat diese Briefe geschrieben? „Welcher Polizist die Daten von Wissler abgefragt habe, sei unklar.“ Das ist natürlich großer Quatsch. Solche Abfragen werden protokolliert und auditiert. Der Zugriff auf spezifische Daten wird redundant auf Servern gespeichert, die man über eine lange Zeit hinweg auslesen kann. Die Frage, die sich stellt, ist also schlicht, ob die Polizei imstande ist, gegen sich selbst zu ermitteln. Natürlich weiß man auch, welcher Polizist es war. Er hat auch den Zugriff auf die Daten durch seinen Nutzernamen bestätigt. Da er aber die Tat selbst verneint hat, wird er nun anstatt als „Beschuldigter“ als „Zeuge“ geführt. Jemand anderes müsse sich mit seiner Nutzerkennung angemeldet und die Daten abgerufen haben. Zack. Unschuldig. So einfach geht das. Eine Überprüfung seiner privaten Computer hat es nicht gegeben. Eine Hausdurchsuchung auch nicht. Was soll die Polizei auch machen, wenn der Tatverdächtige sagt, er sei unschuldig? Würde die Polizei im Fernsehen derart dilettantisch ermitteln, wie die Polizeibeamten in Hessen, wäre der Sonntagabend-Tatort nach drei Minuten zu Ende. Täter unbekannt. Das Aktenzeichen XY bliebe für immer ungelöst. Wie so häufig, wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt ist alles krumm und schief, was nur krumm und schief sein kann. Im IT-Zugriffsprotokoll steht nicht nur, wer auf Daten zugegriffen hat, sondern auch wann. Man müsste also nur in die Dienstpläne schauen, wer zu dieser Zeit Dienst hatte und wer zu dieser Zeit in der Dienststelle anwesend war, um die Zahl der Tatverdächtigen einzudämmen...“ – aus dem Beitrag „Rechtsextremismus innerhalb der Polizei – Alles nur Einzelfälle?“ von Stephan Anpalagan am 16. Juli 2020 in der FR online über die weiter gehende Kampagne der Morddrohungen mit Adressdaten aus dem Polizeicomputer. Siehe dazu einige weitere aktuelle Beiträge zur Fortsetzung der Drohkampagne unter Verwendung polizeilicher Daten, zur immer wieder versuchten Vertuschung dieser Tatsache und zu ausbleibenden politischen Konsequenzen:
- Auflösung des Frankfurter SEK: Polizeibeamte: „Wir fühlen uns verfolgt und stigmatisiert“
„Nach der Auflösung des Frankfurter SEK ergreifen nun betroffene Beamte das Wort. Im Interview sprechen sie von konstruierten Unwahrheiten und wehren sich gegen Vorverurteilung wegen der Rassismus-Vorwürfe…“ Interview von Frank Angermund vom 19.08.21 bei der Hessenschau - Terror in Hanau: 13 SEK-Polizisten unter Rechtsextremismus-Verdacht waren im Einsatz
„… Nun gibt es eine neue Information, und die muss für die Angehörigen herzzerreißend sein: In der Nacht des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau waren 13 Polizeibeamte im Einsatz, die nun unter Rechtsextremismus-Verdacht stehen und wegen denen (und weiteren) das SEK Frankfurt vom hessischen Innenminister Peter Beuth aufgelöst wurde. Beuth sprach von „Verrohung“, von einem „Korpsgeist“, der „nach Einschätzung unserer polizeipsychologischen Experten einem Neuanfang nicht dienlich“ sei, und solche Worte wählt ein Innenminister nicht nur wegen eines rechtsextremen Chats, den die Polizei im Zuge von Ermittlungen entdeckte, die eigentlich wegen des Verdachts der Verbreitung pornografischer Inhalte von Kindern erfolgten. Es wird interessant, wie viel die Öffentlichkeit noch erfahren wird. (…) Die Initiative 19. Februar Hanau jedenfalls hört nicht auf zu fragen – auch wenn es schmerzt. „Es ist noch weitaus schlimmer als wir schon befürchtet hatten“, formuliert Newroz Duman von der Initiative 19. Februar Hanau ihr Entsetzen über den neuen hessischen Polizeiskandal in einer Pressemitteilung der Initiative. (…) „Es muss nun zügig geklärt werden, wie sich diese Beteiligung auf das Einsatzgeschehen in der Tatnacht ausgewirkt hat und ob Rechtsextreme gar in leitender SEK-Position in Hanau das polizeiliche Versagen am Täterhaus zu verantworten haben“, betont Newroz Duman. SEK-Beamte waren zumindest bei der Beobachtung und Stürmung des Täterhauses maßgeblich beteiligt. „Bis heute haben wir keine befriedigenden Antworten darauf bekommen, warum fünf Stunden zwischen Identifizierung des Täters und der Stürmung des Hauses vergangen sind,“ sagt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar. „Wir fragen uns jetzt natürlich, ob rechtsradikale SEKler in Hanau im Einsatz waren und das dortige Geschehen mitbestimmt haben.“…“ Artikel von Simone Rafael vom 16. Juni 2021 in den Belltower News - Die seltsamen Rituale des Frankfurter SEK
„Die Spezialkräfte der Frankfurter Polizei haben offenbar ein seltsames Eigenleben entwickelt. Ein Beamter spricht von einem »übersteigerten Eliteverständnis«, Hessens Innenminister von »Verrohung«. (…) Mittlerweile wurden sämtliche SEK-Beamte aus Frankfurt am Main abgezogen und in eine Unterkunft der hessischen Bereitschaftspolizei in Wiesbaden versetzt. Auslöser dafür war eine Besichtigung der Diensträume im Frankfurter Polizeipräsidium. Was er dort gesehen habe, zeuge nicht nur von einer befremdlichen Trauerkultur, sagt der Wiesbadener Polizeipräsident Stefan Müller, der jetzt für eine »Neustrukturierung« der Einheit sorgen soll. In den Diensträumen soll es eine Unmenge von »Erinnerungsstücken« und verherrlichenden Aufnahmen der Arbeit des SEK gegeben haben: Beamte, die in voller Einsatzmontur vor der Frankfurter Skyline posieren, bildliche und textliche Inszenierungen von Stärke und Macht. Müller kritisiert ein »übersteigertes Elitebewusstsein« und einen »zur Schau gestellten Korpsgeist« der Frankfurter Truppe….“ Artikel von Matthias Bartsch vom 16.06.2021 beim Spiegel online- Nicht nur SEK-Kräfte: 49 aktive Polizisten an rechten Chats beteiligt
„…An den kürzlich bekannt gewordenen Chats mit rechtsextremen Inhalten haben zahlreiche weitere hessische Polizisten teilgenommen. Insgesamt 49 aktive Beamte sollen Teil der Chats gewesen sein, wie Innenminister Peter Beuth (CDU) am Dienstag im Innenausschuss des Landtags mitteilte. Darunter seien überwiegend SEK-Kräfte, die anderen stammten aus dem Landeskriminalamt (LKA), der Bereitschaftspolizei, dem Landespolizeipräsidium sowie aus den Präsidien Ost- und Südhessen und anderen Einheiten des Frankfurter Präsidiums. (…) Hinzu kämen sieben Chat-Teilnehmer, die keine aktiven hessischen Polizisten seien. Teils seien sie aus dem Dienst ausgeschieden, teils hätten sie nichts mit der Polizei zu tun. Gegen 24 der insgesamt 56 Teilnehmer werde nicht strafrechtlich vorgegangen, auch nicht disziplinarisch. Innenminister Beuth sagte, es handele sich bei den Zahlen um einen Zwischenstand. (…) Nach Angaben von Innenminister Beuth waren 13 der 19 in rechtsextreme Chatgruppen verwickelten SEK-Beamten aus Frankfurt in der Nacht des Terroranschlags von Hanau im Einsatz…“ Meldung der Hessenschau vom 15. Juni 2021
- Nicht nur SEK-Kräfte: 49 aktive Polizisten an rechten Chats beteiligt
- Polizeiskandal in Hessen: Noch mehr Beamte an rechtsextremen Chats beteiligt
„… Waren die rechtsextremen SEK-Polizisten in der Terrornacht von Hanau im Einsatz? In Hanau warf derweil die Initiative 19. Februar die Frage auf, ob rechtsextreme SEK-Polizisten in der Terrornacht von 2020 im Einsatz waren. Die Initiative war gegründet worden, nachdem ein rassistischer Täter am 19. Februar 2020 zehn Menschen und sich selbst getötet hatte. Seither stellt die Initiative in enger Abstimmung mit den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer kritische Fragen zum damaligen Polizeieinsatz. „Bis heute haben wir keine befriedigenden Antworten darauf bekommen, warum fünf Stunden zwischen Identifizierung des Täters und der Stürmung des Hauses vergangen sind“, sagte Newroz Duman von der Initiative 19. Februar. „Wir fragen uns jetzt natürlich, ob rechtsradikale SEKler in Hanau im Einsatz waren und das dortige Geschehen mitbestimmt haben.“…“ Aus dem Artikel von Pitt von Bebenburg vom 12.6.2021 in der FR online , siehe darunter den Kommentar:- „FR-Artikel-Zitat: “(…) Ihr hessischer Landesvorsitzender Engelbert Mesarec urteilte, Beuth stelle sich ‚mit der Auflösung des gesamten SEK Frankfurt an die Spitze der Meute, die mit Fackeln und Heugabeln der Polizei zu Leibe rückt‘.“ Der Landesvorsitzende der DPolG Hessen, Engelbert Mesarec, hätte gute Gründe sich bei den Opfern von Polizeigewalt durch hessische Beamte zu entschuldigen und die Bürgerinnen und Bürger des Landes um Verzeihung zu bitten, für die zahlreichen hessischen Polizeiskandale in den letzten Jahren. Auch im Interview mit der FR vom 17.01.19 hat Herr Mesarec diese Chance versäumt: Kein Wort des Mitgefühls und des Bedauerns gegenüber den Menschen denen durch die hessische Polizei Schmerz, Leid und Ungerechtigkeit widerfahren ist!„
- Mehr Disziplinarverfahren: Weitere Polizisten wegen rechter Chats unter Verdacht
„Aufgrund der Ermittlungen wegen rechter Chatgruppen innerhalb der Polizei sind gegen weitere Beamte Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Polizeigewerkschaften kritisieren die Auflösung des SEK Frankfurt. (…) Polizeigewerkschaften kritisieren SEK-Auflösung: Der Landesverband der Deutschen Polizeigewerkschaft kritisierte den drastischen Schritt Beuths und wies auf die Unschuldsvermutung hin. „Fehlverhalten muss konsequent, aber auch verhältnismäßig geahndet werden, denn die Integrität der gesamten Polizei steht auf dem Spiel“, hieß es in einer Stellungnahme des Verbands vom Freitag. Der politische Handlungsdruck nach dem Vorfall sei nachvollziehbar, sagte Stefan Rüppel, stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP): „Man muss aber mit Augenmaß vorgehen und darf nicht die ganze Einheit vorverurteilen und bestrafen.“…“ Meldung vom 11.06.21 bei hessenschau.de - Wegen rechtsextremer Chats: Frankfurter SEK wird aufgelöst
„In Chats sollen Polizisten des Frankfurter SEK rechtsextreme Beträge geteilt haben. Vorgesetzte wussten das – und schritten nicht ein. Nun hat Hessens Innenminister die Konsequenzen gezogen: Das SEK wird aufgelöst. Nach dem Bekanntwerden rechtsextremer Polizistenchats wird das Spezialeinsatzkommando (SEK) in Frankfurt am Main aufgelöst. Das „inakzeptable Fehlverhalten“ mehrerer Mitarbeiter mache die Auflösung „unumgänglich“, sagte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU). Die aufgedeckten Chats ließen bei einigen Mitarbeitern des SEK auf eine „abgestumpfte, diskrimierende Haltung und teils rechtsextreme Gesinnung“ schließen, so Beuth. Die in der Vergangenheit angemahnte Fehlerkultur habe in Teilen des Frankfurter SEK „vollkommen versagt“…“ Meldung vom 10.06.2021 bei tagesschau.de - Rechte Chats: Polizist in Hessen angeklagt
„… Als sich ein Flüchtling über mutmaßliche Polizeigewalt beklagt hat, soll ein Polizist dies in einer WhatsApp-Chatgruppe mit den Worten kommentiert haben: Man solle ihn mal machen lassen, dann würde sich niemand mehr beschweren, dann gäbe es nur noch „Leichen“. Es soll zahlreicher solcher Chats geben. Muslime soll der Beamte als widerliches Volk bezeichnet haben, die es mit allen treiben würden und sandte dabei „schöne Grüße aus Kanakistan“. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main erhob nach Informationen von WDR und „Süddeutscher Zeitung“ (SZ) nun Anklage gegen den Polizisten. Der Beschuldigte aus dem Polizeipräsidium Westhessen soll sich demnächst vor dem Schöffengericht in Alsfeld verantworten. Die Vorwürfe in der 31 Seiten langen Anklageschrift lauten: Volksverhetzung und Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole sowie Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. In mehreren WhatsApp-Gruppen soll der Beamte zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember 2018 vor allem rassistische Beiträge an insgesamt 30 Empfänger verschickt haben, viele davon selbst Polizeibeamte. Zudem sollen die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung scharfe Waffen, darunter drei Revolver, Munition, eine Stahlrute und auch Sprengstoff gefunden haben. (…) Auch gegen den Bruder des Beamten wird ermittelt. Gegen ihn wurde Anklage vor dem Amtsgericht Alsfeld erhoben. Ihm werden mutmaßliche Propagandadelikte und der Verrat von Dienstgeheimnissen vorgeworfen….“ Beitrag von Florian Flade vom 24. Februar 2021 bei tagesschau.de - „NSU 2.0“: Bedrohte Anwältin Başay-Yıldız setzt Belohnung aus
„Seit über zwei Jahren fahndet die Polizei nach den anonymen „NSU 2.0“-Drohschreibern an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız. Ohne Erfolg. Private Informationen waren von Polizeicomputern abgerufen worden. Jetzt hat die Juristin selbst eine Belohnung ausgesetzt. Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız hat eine Belohnung in Höhe von 5.000 Euro für Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung der Urheber der mit „NSU 2.0“ gezeichneten Drohmails und Faxe führen. Sie wolle nichts unversucht lassen, damit der Fall doch noch aufgeklärt werde, sagte die Juristin dem „Evangelischen Pressedienst“…“ Meldung vom 23.11.2020 im Migazin (im Abo) - Rechtsextreme Drohbriefe: Datenmissbrauch durch Polizeibeamte wohl auch in Hamburg und Berlin
„Laut Medienberichten sollen auch Polizeibeamte in Hamburg und Berlin unbefugt auf vertrauliche Daten zugegriffen haben. (…) Bislang waren unbefugte Datenbankzugriffe im Zusammenhang mit „NSU 2.0“-Drohbriefen lediglich bei der hessischen Polizei bekannt geworden. Dort waren vertrauliche Daten von Polizeicomputern in Frankfurt am Main und Wiesbaden abgerufen worden. Jeweils kurze Zeit später erhielten Frauen wie die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Kabarettistin İdil Baydar oder die Vorsitzende der Linken-Fraktion im hessischen Landtag Janine Wissler anonyme Schreiben mit Gewaltdrohungen. Seit zwei Jahren geht das nun so. (…) In Berlin wird bislang nicht polizeiintern ermittelt, obwohl unbefugte Datenbankzugriffe durch Polizeibeamte dort immer wieder ein Thema sind. Zuletzt erhob die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk schwere Vorwürfe gegen die Berliner Polizei: Im Zusammenhang mit einer Morddrohung mit einem mutmaßlich rechtsextremen Hintergrund waren mehrmals Daten von Betroffenen von einem Polizeicomputer aus abgefragt worden. Die Behörde konnte die Rechtmäßigkeit der Zugriffe jedoch nicht abschließend begründen, die Datenschutzbeauftragte beklagte daraufhin mangelnde Kooperation seitens der Polizei. 2017 hatte ein Berliner Polizist Daten über linke Aktivist:innen aus Datenbanken gesammelt und ihnen daraufhin Drohbriefe geschickt. Gegen ihn erging ein Strafbefehl.“ Beitrag von Charlotte Pekel vom 28. August 2020 bei Netzpolitik.org- Siehe auch unser Dossier: Schreibt die Berliner Polizei selbst Drohbriefe – oder beschafft sie nur das Material dazu?
- „Was man über die Drohungen im Namen des „NSU 2.0“ weiß“ von Jan Bielicki am 15. Juli 2020 in der SZ online fasst den offiziell registrierten Tatbestand in bezug auf bisherige Nichtermittlungen gegen uniformierte Tatverdächtige so zusammen: „… Dass der anonyme Absender den Namen ihrer Tochter und ihre Privatadresse kannte, war für Başay-Yıldız besonders bedrohlich – und noch bedrohlicher sollte sein, was Ermittler des hessischen Landeskriminalamts (LKA) in den folgenden Wochen herausfanden. Die Spur führte sie in das 1. Polizeirevier in Frankfurt, gelegen an der Hauptgeschäftsstraße Zeil. Dort waren Başay-Yıldız‘ Daten im Sommer grundlos in einem Dienstcomputer abgerufen worden – von welchem der Polizisten genau, ist nicht ausermittelt. Eine Beamtin war offenbar eingeloggt, aber die Abfrage konnte ihr nicht nachgewiesen werden. (…) Das Droh-Fax blieb kein Einzelfall. Başay-Yıldız hat seither mehr als ein Dutzend ähnliche Drohschreiben erhalten. Aber erst vor zwei Wochen wurde bekannt, dass sie nicht das einzige Opfer von Bedrohungen war, bei denen die Täter auf persönliche Daten zurückgriffen, die allem Anschein nach aus hessischen Polizeicomputern stammten. Am 15. Februar 2020 ging die erste von mehreren Mails bei Janine Wissler ein, in denen der Fraktionschefin der Linken im hessischen Landtag ein „Tag X“ angedroht wurde, an dem die Polizei sie nicht mehr beschützen können werde. Wieder taucht die Formel „NSU 2.0“ auf, wieder enthält das Schreiben neben üblen Beschimpfungen Informationen über die Adressatin, die öffentlich nicht zugänglich sind – etwa ihre Wohnadresse. Und wieder führte eine Spur in ein hessisches Polizeirevier: Wenige Tage bevor die Politikerin das Drohschreiben erhielt, wurden ihre persönlichen Daten auf einem Polizeicomputer in Wiesbaden abgefragt – unter der Kennung eines Polizeibeamten, der jedoch abstreitet, die Abfrage gestellt zu haben. (…) Zwei weitere Linken-Politikerinnen, die Bundestagsabgeordnete Martina Renner und die Berliner Landesfraktionsvorsitzende Anne Helm, erhielten ebenfalls Schreiben, die Todesdrohungen enthielten, dazu persönliche Daten, die öffentlich eigentlich nicht zugänglich sind – und die Unterschrift „NSU 2.0“. Eine Verbindung zur Polizei ist bislang in diesen beiden Fällen nicht aufgefallen. Weitere „NSU 2.0“-Mails richteten sich an Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und seinen Innenminister Peter Beuth (beide CDU)…“
- „„So viele „Einzelfälle““ von Martina Mescher am 16. Juli 2020 im Freitag online (Ausgabe 29/2020) zu bisher ergebnislosen Untersuchungen – und historischen Beispielen einst erlaubter Kritik an der Polizei: „… Nennenswerte Ergebnisse zum „NSU 2.0“ kamen bei den monatelangen polizeilichen Ermittlungen bislang nicht heraus. Dabei geht es immerhin auch um die Frage, ob die Verfasser der Drohbriefe aus den Reihen der Polizei kommen. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) sagte nach den Entwicklungen der vorigen Woche erstmals, er schließe ein rechtsextremes Netzwerk in der Polizei nicht mehr aus. Jemand, der den Komplex „Polizei“ tatsächlich erforscht, ist der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr. Er sagt: „Ein Netzwerk ist mehr als eine Struktur. Wenn es eine kausale Verbindung gibt zwischen den Datenabfragen von den Polizeicomputern in Wiesbaden und Frankfurt, dann haben wir allen Grund zur Sorge, und das braucht größte Aufmerksamkeit“. Die Linke fordert, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernimmt. Denn die Drohbrief-Serie hat sich ausgeweitet: Zwei weitere Politikerinnen der Partei, Martina Renner und Anne Helm, haben Drohbriefe vom „NSU 2.0“ erhalten. Gemeinsam ist allen drei Politikerinnen, dass sie sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus engagieren. Dazu kommt: Auch die Kabarettistin İdil Baydar erhielt Drohmails. Auch in ihrem Fall wurden Daten von einem hessischen Polizeirechner abgerufen. (…) Fragt man Rafael Behr, wie er auf das Wort „Einzelfälle“ reagiert, fällt die Antwort knapp aus. „Allergisch“, sagt er. Die Einzelfallthese gehe davon aus, dass sich ein paar wenige Polizisten ohne Kontakte und ohne Kommunikation in der polizeilichen Organisation bewegen. Das entspreche aber nicht dem Polizeialltag. „Wer plötzlich mit einer Wehrmachtkoppel in der Dienstschicht auftaucht, der kann das nicht für sich behalten.“ Behr erinnert daran, dass um die rechtsextremen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden selbst die Innenministerkonferenz irgendwann nicht mehr herumkam. Dort beschloss man als Konsequenz, eine Zentralstelle beim Bundesamt für Verfassungsschutz einzurichten, die sich um die „Aufklärung rechtsextremistischer Umtriebe im öffentlichen Dienst“ kümmern soll. Doch im NSU-Komplex hat sich der Verfassungsschutz selbst als Teil des Problems erwiesen. Es fällt also schwer, trotz neuen Chefs, zu glauben, dass er der passende Adressat für diese Aufklärungsarbeit sein kann. Eher bräuchte es eine unabhängige Kontrollinstanz der Polizei. Derlei Forderungen parieren Polizeigewerkschaften regelmäßig mit dem Vorwurf, das stelle Polizisten unter „Generalverdacht“. Vielleicht wäre es für die Debatte hilfreich, den Blick ein wenig zu weiten, weg von der Tagespolitik, etwa in die Zeit der Anti-AKW-Bewegung: Der Hamburger Kessel, in dem 1986 mehr als 800 Menschen bis zu 13 Stunden festgehalten wurden, führte nicht nur zu Kritik, sondern auch zu Gerichtsverfahren gegen Polizisten und Schadensersatzzahlungen für die Demonstranten. Das auch, weil der Protest gegen Polizeiwillkür damals selbstverständlich schien…“
- „“Dinge werden unterm Radar gehalten““ von Sandra Stalinksi am 15. Juli 2020 bei tagesschau.de ist ein Interview mit Oliver von Dobrowolski (PolizeiGrün) zur aktuellen Vertuschung in Hessen, worin er unter anderem antwortet: „… Ich kann es schwer nachvollziehen, denn eigentlich werden Polizisten sehr stark sensibilisiert für das Thema Datenschutz und unrechtmäßige Abfrage von Daten, wenn auch die Regeln dazu in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich sind. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Man loggt sich ja mit einem Ausweis oder einer Kennung ein und braucht dann noch ein Passwort. Entweder hat sich also jemand missbräuchlich mit diesen Anmeldedaten eingeloggt. Oder die Person, die jetzt als Zeuge geführt wird, war eingeloggt, hat dann aber den Raum verlassen und den Rechner nicht gesperrt. So oder so ist die Ausrede etwas schwach. Wenn Internetkriminelle erwischt werden, fruchtet die Ausrede ja auch nicht, dass sich da jemand ins W-Lan gehackt hat. Da greift die Sorgfaltspflicht jedes Einzelnen. / Halten Sie es für möglich, dass Einzelne oder Teile der Polizei versuchen, die Aufklärung zu verhindern? / Ja, das halte ich für möglich. Gehen wir mal davon aus, dass die Täterin oder der Täter aus der Polizei kommt, und das ist ja momentan der wahrscheinlichere Fall. Dann ist das erstmal ein normaler Reflex, sich herauszureden. Aber, wenn so jemand als Beschuldigter geführt würde, hätte der Rechtsstaat ganz andere Mittel, um Beweise zu erheben – oder auch um jemanden zu entlasten. Den Verdacht, dass hier nicht richtig aufgeklärt werden soll, verstehe ich…“
- „Ein Rücktritt des Polizeipräsidenten ist keine Aufklärung“ von Markus Decker am 15. Juli 2020 bei der FR online zum neuesten bäuerlichen Opfergang ist ein Interview mit der Ombudsfrau der Bundesregierung Barbara John, worin sie unter anderem anmerkt: „… Wer könnte das nicht als einen Vorgang betrachten, der in zweierlei Hinsicht ungeheuerlich ist? Zum einen, weil Personen einfach bedroht werden, als wären wir eine Gangstergesellschaft. Zum anderen, weil die Quelle der Daten Polizeicomputer sind. Das bedarf dringend der Erklärung. Ein Rücktritt des Polizeipräsidenten ist keine Aufklärung...“
- „Hessen, wir haben ein Problem“ von Christoph Schmidt-Lunau am 14. Juli 2020 in der taz online unter anderem zur Rolle des hessischen Polizeiministers bei der Vertuschungskampagne: „… Unterdessen gerät deshalb der oberste Dienstherr der hessischen Polizei, Innenminister Peter Beuth, CDU, immer stärker unter Druck. Am Donnerstag hatte der Minister öffentlich eine Breitseite gegen das ihm unterstellte Landeskriminalamt gefeuert. Er nannte es „inakzeptabel“, dass er im Fall Wissler erst am Tag zuvor vom Datenabruf von einem Polizeicomputer erfahren habe. Am Freitag entmachtete er die LKA-Spitze, indem er einen „Sonderermittler“ mit der Federführung der Fahndung betraute. Am Dienstag teilte das Innenministerium mit, Landespolizeipräsident Udo Münch sei mit sofortiger Wirkung in den Ruhestand versetzt worden. Minister Beuth sagte, als oberster Polizist übernehme Münch Verantwortung für Versäumnisse, „die er nicht alleine zu vertreten hat. Mit seiner Entscheidung will er auch das Vertrauen in die hessische Polizei erhalten“. Die Landtagsopposition sprach dagegen von einem Bauernopfer. Zeitgleich wurden FAZ und FR offenbar polizeiinterne Vermerke zugespielt, die den Minister in Verlegenheit bringen. Bereits im März, so geht aus den Vermerken hervor, seien Beamte des Landespolizeipräsidiums über diesen brisanten Datenabruf von einem Polizeicomputer informiert worden. Auf taz-Anfrage erklärte das Ministerium, dass „nunmehr“ aufgearbeitet werde, weshalb „der Minister nicht unmittelbar über einen solch schwerwiegenden Verdacht informiert wurde“. Weiter heißt es: „Die Aufarbeitung ist in vollem Gange. Die bisherigen Darstellungen haben weitere Nachfragen ergeben, die zurzeit noch erörtert werden“...“
- „Polizeiskandal in Hessen – Eindeutige Spur nach Berlin“ am 15. Juli 2020 beim Inforadio meldet: „… Einiges spreche dafür, dass es eine Verbindung zwischen dem hessischen Polizeisystem und den Anschlagsserien in Berlin-Neukölln gebe, sagt rbb-Reporter Jo Goll. Er beschäftigt sich mit der Geschichte seit Jahren. Denn auch die Linken-Politikerin im Berliner Abgeordneten Haus, Anne Helm, habe bereits Drohbriefe mit dem Absender „NSU 2.0.“ erhalten. Dabei seien auch persönliche Daten freigelegt worden, die der Öffentlichkeit so nicht bekannt gewesen seien. „Dies, so Helm, lasse auf Kontakte zu örtlichen Neo-Nazis schließen“, berichtet Goll, der sich zuvor mit der Politikerin unterhalten hat. Doch noch ein Punkt spreche für eindeutig für eine Verbindung nach Hessen: Das ARD-Magazin Kontraste habe recherchiert, dass ein Berliner Polizist beschuldigt werde, polizeiinterne Nachrichten in einer AfD-Chatgruppe weitergeleitet zu haben. „Und in dieser Chat-Gruppe war auch einer der Hauptverdächtigen der Neuköllner Anschlagsserie“, berichtet der rbb-Reporter. Hinzu käme noch, dass der Polizist aus Hessen stamme…“
- Siehe zum Hintergrund unser Dossier: Morddrohungen gegen Linke-Abgeordnete in Hessen: Mit polizeilichen Daten