Über 3.000 Seiten NSU-Urteilsbegründung – welches Wort kommt darin nicht ein Mal vor? (Hilfestellung: Der Name einer aufzulösenden Vereinigung)
„… Was die Schuld Zschäpes betrifft stellen sie sich annähernd durchgehend auf die Seite von Gericht und Anklage. Sie kritisieren aber teils massiv, dass sich das Gericht mit der Unterstützerszene, möglicherweise weiteren Mittätern und der Rolle des Staates, vor allem der Verfassungsschutzämter, nicht beschäftigte. Tatsächlich taucht das Wort „Verfassungsschutz“ im Urteil kein einziges Mal auf. Der Name Tino Brandt findet sich zwar immerhin 49 Mal, wobei seine Rolle als V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes aber nur schemenhaft gezeigt wird. Das Gericht zitiert aus einer Aussage des im NSU-Prozess Mitangeklagten Holger G., nach dessen Einschätzung es „Gerüchte“ gegeben habe, Brandt sei Geheimdienst-Spitzel. Man habe „gewusst, dass Tino Brandt immer Geld gehabt habe“, zitiert das Gericht aus der Aussage des ebenfalls Mitangeklagten Carsten S. Über die Herkunft des Geldes verliert das Gericht allerdings kein Wort. In der Beweisaufnahme war das über Monate hinweg Thema. Demnach war Geheimdienst-Geld der Lebensunterhalt für Brandt und einige Gesinnungsgenossen. Im Ganzen zahlte die Behörde rund 200.000 Euro an ihn aus. Zugleich organisierte Brandt die militanten Kameradschaften in Thüringen im von ihm gegründeten „Thüringer Heimatschutz“. Zu diesem Verband gehörte auch die „Kameradschaft Jena“ mit Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Brandts „Heimatschutz“ hatte seinen Namen offenbar überhaupt erst auf Wunsch der Geheimdienste erhalten. Bei einem Treffen mehrerer Ländergeheimdienste unter Leitung eines Beamten namens Christian M. vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz wurde der ursprüngliche Name „Anti-Antifa Ostthüringen“ als untauglich bezeichnet und eine Neubenennung nahegelegt, wie aus einem Gesprächsprotokoll hervorgeht, das Telepolis vorliegt. Auch das war im NSU-Prozess thematisiert worden, findet sich im Urteil aber nicht wieder…“ – aus dem Beitrag „Im schriftlichen Urteil zum NSU-Prozess kommt das Wort „Verfassungsschutz“ nicht vor“ von Christoph Lemmer am 08. Mai 2020 bei telepolis über die Vergesslichkeit bundesdeutscher Justiz. Siehe dazu auch eine weitere aktuelle Kritik an der Urteilsbegründung und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag dazu:
- „“So etwas habe ich in 16 Jahren als Juristin nicht erlebt““ am 05. Mai 2020 in der hessenschau online ist ein Gespräch von Alina Leimbach mit der Anwältin Başay-Yıldız, worin diese unter anderem ausführt: „… Nach dem Tod von Enver Şimşek wurde seine Frau depressiv, die Kinder wuchsen ohne den Vater auf, der Haupternährer der Familie fiel vom einen zum anderen Tag aus. Und die Familie musste sich zu allem Überfluss noch von der Polizei die eigene Wohnung durchsuchen lassen, wurde abgehört und jahrelang verdächtigt. Ein rechtsextremer Hintergrund wurde gar nicht als Motiv erwogen. Und all diese Folgen werden mit keinem Satz in der Urteilsbegründung erwähnt. Stattdessen wird Enver Şimşek im Urteil sogar noch zum stereotypen Statisten herabgewürdigt. Das der Familie mitzuteilen und diese Vorgehensweise nicht erklären zu können, war einer der schlimmsten Momente in meiner beruflichen Laufbahn. Ich hoffe, dass ich so etwas nie mehr erleben muss. (…) Nein, so etwas habe ich in meinen ganzen 16 Jahren als Juristin noch nicht erlebt. Um mal einen Vergleich heranzuziehen: Ich habe beim Attentat im Münchner Olympiaeinkaufszentrum eine Opferfamilie vertreten. Dort hat das Gericht persönliche Worte bei der Urteilsbekanntgabe an die Angehörigen gerichtet und diesen viel Kraft und Mut bei der Bewältigung ihres schmerzlichen Verlustes gewünscht. Damit hat der Richter direkt auf die Gefühlswelt der Hinterbliebenen Bezug genommen und anerkannt, dass dort Menschen zu Tode gekommen sind…“
- Siehe dazu zuletzt: „Die NSU-Urteilsbegründung: Voller Verständnis. Für die Täter“ am 04. Mai 2020 im LabourNet Germany