GFF-Klage gegen uferlose Befugnisse des Bayerischen Inlandsgeheimdienstes beim Bundesverfassungsgericht
Dossier
„Die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) über die letzten vier Jahre koordinierte Klage gegen eine Vielzahl von Regelungen des neuen Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) wird nun endlich am 14. und 15. Dezember in Karlsruhe mündlich verhandelt. (…) Die am 1. August 2016 in Kraft getretene Novelle des BayVSG gibt dem bayerischen Inlandsgeheimdienst erweiterte Überwachungsbefugnisse, die im Dienste der „Inneren Sicherheit“ noch breiter und tiefer in die Grundrechte der Bevölkerung eingreifen, als dies in den übrigen Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes der Fall ist. (…) Die Beschwerdeführer sind mehrere Personen, die als Funktionsträger bzw. Mitglieder von im Bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnten Organisationen glaubhaft machen können, Gegenstand der geheimdienstlichen Überwachung zu sein. Zu diesen Organisationen gehört insbesondere der Landesverband Bayern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)…“ GFF-Pressemitteilung vom 18. November 2021 mit Hintergründen, siehe weitere Informationen:
- Die Verfassung schützen – zur Not auch vor dem Verfassungsschutz: Bundesverfassungsgericht weist Geheimdienst in grundrechtliche Schranken
„Ausgerechnet der bayerische Innenminister Joachim Herrmann brachte nach dem Urteil am 26. April 2022 gegenüber der Presse auf den Punkt, worauf die GFF seit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) Mitte 2017 gehofft hatte: Jetzt müssen alle Verfassungsschutzgesetze in Deutschland überarbeitet werden, denn ihm sei kein einziges Gesetz bekannt, das den neu aufgestellten Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspreche. Damit hat er recht. Das Urteil aus Karlsruhe muss der Startschuss für eine grundrechtskonforme Überarbeitung aller Rechtsgrundlagen deutscher Inlandsgeheimdienste sein. (…) Unsere Verfassungsbeschwerde nahm das BayVSG auf 70 Seiten detailliert auseinander: Noch nie seien Geheimdienstbefugnisse so umfassend angegriffen worden, kommentierte folgerichtig die Bundesverfassungsrichterin Gabriele Britz zum Auftakt der mündlichen Verhandlung im Dezember 2021. Da die GFF auch als sachkundige Organisation geladen war, konnte unser Vorsitzender Ulf Buermeyer in der mündlichen Verhandlung noch mal die Forderung der GFF nach einem stärkeren Trennungsgebot zuspitzen: „Geheimdienste sollten sich auf ein im Kern politisches ‚Frühwarnsystem‘ beschränken. Sobald sich eine Gefahr hinreichend konkretisiert hat, sollten sie den Fall an die Polizei abgeben, die rechtsstaatlich ungleich besser kontrolliert wird.“ Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth, beschrieb die grundlegende Bedeutung des Verfahrens so: „Es geht um nicht weniger als das Austarieren von wehrhafter Demokratie und individuellem Grundrechtsschutz.“ Mit seinem Grundsatzurteil vom 26. April 2022 hat Karlsruhe dann auch wichtige Leitplanken für ebendieses Verhältnis aufgestellt. (…) Jetzt müssen alle Landesgesetzgeber ihre Verfassungsschutzgesetze mit den Grundrechten in Einklang bringen. Wir werden genau hinsehen: Wenn die kommenden Gesetzesnovellen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, klagen wir erneut. Gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht schützen wir die Verfassung – zur Not auch vor dem Verfassungsschutz!“ Analyse des Urteils vom 11. May 2022 bei GFF- Siehe auch Dossier: VVN/BdA, Ende Gelände, Fridays For Future, aber kaum Nazis – der Verfassungsschutz Bayern bittet: Löst mich endlich auf… und das Urteil hier:
- Bundesverfassungsgericht: Bayerisches Verfassungsschutzgesetz teilweise verfassungswidrig
„Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass mehrere Vorschriften des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, weil die dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz darin eingeräumten Befugnisse teilweise gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Schutz der informationellen Selbstbestimmung, teilweise in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, teilweise gegen das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) und teilweise gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) verstoßen…“ Ausführliche Pressemitteilung vom 26. April 2022 zum Urteil vom 26. April 2022 (1 BvR 1619/17), siehe auch:- Erfolg für die Freiheitsrechte nach GFF-Klage: Bundesverfassungsgericht weist Bayerischen Verfassungsschutz in die Grenzen des Grundgesetzes
„Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gab heute in weiten Teilen einer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) eingereichten Klage gegen das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) statt und fällte ein Grundsatzurteil. Die Karlsruher Richter*innen erklärten einen Großteil der Überwachungsbefugnisse des Bayerischen Inlandsgeheimdienstes für verfassungswidrig. Bijan Moini, Leiter des Legal Teams der GFF und Prozessbevollmächtigter, betont die weitreichende Bedeutung der heutigen Entscheidung aus Karlsruhe: „Heute ist ein guter Tag für die Grundrechte und den Rechtsstaat in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Verfassungsschutz klare Grenzen gesetzt: Trotz seiner besonderen Befugnisse und Aufgaben gilt für den Inlandsgeheimdienst kein Freifahrtschein bei Grundrechtseingriffen. Wer im Auftrag der wehrhaften Demokratie für den Schutz der Verfassung arbeitet, muss sich auch selbst an ihre Regeln halten.“ Das Gericht entschied unter anderem, dass die Befugnis Auskunft über Verkehrsdaten aus Vorratsdatenspeicherung zu ersuchen, nichtig ist. Weitere Überwachungsbefugnisse wurden für unvereinbar mit den Grundrechten erklärt. Darüber hinaus stärkte es das Trennungsprinzip zwischen Verfassungsschutz und Polizei, indem es klare Schranken für den Informationsaustausch hochzieht…“ Meldung von Janina Zillekens vom 26. April 2022 bei der GFF - Grundrechtsverletzungen durch Überwachung?
„Für viele Kritiker verletzt das bayerische Verfassungsschutzgesetz Grundrechte. Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hatte nun teilweise Erfolg.“ Video des Beitrags von C. Deker / C. Schneider am 26.04.2022 beim ZDF – mit Kerem Schamberger! - Siehe auch seine Freudesbekundungen auf Twitter sowie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-BdA eV : „Wir beglückwünschen die Vertreter der bayerischen VVN-BdA (Harald Munding, Friedbert Mühldorf und @KeremSchamberg) und @freiheitsrechte zur gewonnenen Klage gegen den bayerischen Verfassungsschutz.“ und:
- Wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Erfolg für die demokratische Zivilgesellschaft
Pressemitteilung der VVN-BdA vom 26. April 2022
- Erfolg für die Freiheitsrechte nach GFF-Klage: Bundesverfassungsgericht weist Bayerischen Verfassungsschutz in die Grenzen des Grundgesetzes
- NSU als Argument für mehr Geheimdienstbefugnisse: Das Bundesverfassungsgericht überprüft Bayerns Verfassungsschutzgesetz. Innenminister Herrmann argumentiert ausgerechnet mit dem „Nationalsozialistischen Untergrund“
„Während das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Überwachungsbefugnisse des Inlandsgeheimdienstes im Bayerischen Verfassungsschutzgesetz überprüft, weil Mitglieder linker und antifaschistischer Organisationen dagegen Beschwerde eingereicht haben, verteidigt Bayern Innenminister Joachim Herrmann (CSU) das 2016 verabschiedete Gesetz ausgerechnet mit Blick auf den NSU-Skandal.
Um die Jahrtausendwende hatten Verfassungsschutzämter Hinweise auf den Verbleib von drei untergetauchten „Bombenbastlern“ aus der rechten Szene Thüringens nicht an die Polizei weitergegeben, was zur ungestörten Genese das „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) geführt hatte. Nach Bekanntwerden des NSU sei schließlich beanstandet worden, dass es „zu wenig gegenseitige Informationen der Sicherheitsbehörden“ gegeben habe, sagte Herrmann am Dienstag Reportern der ARD-tagesschau. Die Kläger, über deren Beschwerde am Dienstag in Karlsruhe mündlich verhandelt wurde, waren allerdings nie wegen eines Terrorverdachts untergetaucht. Sie hatten im Gegenteil Öffentlichkeitsarbeit für ihre Überzeugungen geleistet und von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht. Sie sind unter anderem Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), die im bayerischen Verfassungsschutzbericht auf Seite 258 als „linksextremistisch beeinflusst“ erwähnt wird. Deshalb könnten sie in Bayern von Überwachungsmethoden betroffen sein, die weit über die Befugnisse von Geheimdiensten anderer Bundesländer hinausgehen: Zum Beispiel von optischer und akustischer Überwachung von Wohnungen, verdeckten Zugriffen auf Computer oder der Ortung von Handys. (…) Dass der bayerische Innenminister ausgerechnet mit dem NSU-Skandal argumentiert, nennt Schamberger „perfide und absurd“: „Der Verfassungsschutz, ich spreche lieber vom Inlandsgeheimdienst, war selbst am NSU-Komplex und an der Deckung der Täter:innen beteiligt“, sagte Schamberger am Dienstagabend gegenüber Telepolis. Es gebe in Deutschland genug Sicherheits- und Überwachungsbehörden. „Der Verfassungsschutz hat genug Dreck am Stecken, um aufgelöst zu werden, statt ihn mit weiteren Kompetenzen und Befugnissen auszustatten.“ Das Bundesverfassungsgericht will sein Urteil erst im kommenden Jahr verkünden…“ Beitrag von Claudia Wangerin vom 15. Dezember 2021 bei Telepolis - Verhandlung in Karlsruhe: Was darf der bayerische Verfassungsschutz?
„Das bayerische Verfassungsschutzgesetz regelt, wann wer wie überwacht werden darf und wann die Erkenntnisse an die Polizei weitergegeben werden dürfen. Geht das zu weit? Das muss nun Karlsruhe klären. Zugriff auf gespeicherte Vorratsdaten, Handyortung, Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchungen – all das und mehr soll der bayerische Verfassungsschutz seit 2016 dürfen. Aus Sicht der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ist das viel zu viel. Es sei ein „beispielloses Arsenal an Überwachungsbefugnissen“. Die Bürgerrechts-Organisation unterstützt deshalb eine Verfassungsbeschwerde gegen das bayerische Verfassungsschutzgesetz, mit dem die Befugnisse zur Überwachung geregelt worden sind. Heute wird in Karlsruhe darüber verhandelt. Ein Urteil wird es erst in einigen Monaten geben. Geklagt haben drei Männer. Sie gehören Organisationen an, die im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt werden. Sie gehen deshalb davon aus, dass sie von einer Überwachung betroffen sein könnten. An dem bayerischen Gesetz kritisieren die Kläger, dass der Datenaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei zu weit gehe. Grundsätzlich gilt: Aufgabe der Polizei ist es, Straftaten zu verhindern und zu verfolgen sowie Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Dafür darf sie eine Reihe von Maßnahmen ergreifen – auch gegenüber einzelnen Personen und im Zweifel zwangsweise. (…) Aus Sicht der Gesellschaft für Freiheitsrechte weicht das bayerische Verfassungsschutzgesetz dieses Trennungsprinzip zwischen Polizei und Geheimdiensten, das Machtmissbrauch verhindern solle, weiter auf. Sie plädiert dafür, dass Nachrichtendienste nicht ihre Daten an die Polizei weitergeben sollen, sondern die ganzen Fälle. (…) Die Kläger bemängeln außerdem, dass der Verfassungsschutz auf gespeicherte Vorratsdaten zugreifen darf – und das ohne richterlichen Beschluss. (…) Die Gesellschaft für Freiheitsrechte verfolgt mit der Verfassungsbeschwerde auch ein rechtspolitisches Anliegen: Man wolle verhindern, dass sich andere Bundesländer an dem bayerischen Gesetz orientieren und es zu einem „bundesweiten Negativtrend“ komme. Das Verfahren solle dem Bundesverfassungsgericht außerdem die Gelegenheit geben, das Verhältnis zwischen Geheimdiensten und den anderen Sicherheitsbehörden auszutarieren…“ Beitrag von Claudia Kornmeier vom 14.12.2021 in tagesschau.de , siehe auch:- Mit dem Rechtsstaat gegen den Geheimdienst
„Ein kommunistischer Wissenschaftler lässt vom Bundesverfassungsgericht prüfen, ob die bayerischen Verfassungsschützer zu viele Befugnisse haben. Seine Chancen stehen nicht schlecht.
Daraus, dass er Kommunist ist, macht Kerem Schamberger keinen Hehl. Bei der vergangenen Bundestagswahl trat der 35-Jährige in München-Süd für die Linke an. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaften und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Dissertation über kurdische Medien hat er im Juni vorzeitig abgeschlossen, mit »magna cum laude«, der zweitbesten Note. Wenn es nach dem Verfassungsschutz gegangen wäre, hätte Schamberger die Stelle als Doktorand allerdings nie antreten dürfen. (…) Gemeinsam mit zwei anderen Bürgern hat der Wissenschaftler beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen das bayerische Verfassungsschutzgesetz eingereicht. Die Befugnisse des Inlandsgeheimdienstes des Freistaats gehen ihnen zu weit. Am morgigen Dienstag will der Erste Senat unter Vorsitz des Präsidenten Stephan Harbarth darüber verhandeln. Schon das ist für Schamberger ein Erfolg, denn von Tausenden Verfassungsbeschwerden jährlich werden nur einzelne überhaupt in mündlicher Verhandlung geklärt. (…) Sollte Schambergers Beschwerde stattgegeben werden, wäre das für ihn allerdings nur ein Teilerfolg. Er sähe es am liebsten, wenn Verfassungsschutzbehörden ganz abgeschafft würden.“ Artikel von Dietmar Hipp vom 13.12.2021 im Spiegel online (im Abo)
- Mit dem Rechtsstaat gegen den Geheimdienst
- Einer der Beschwerdeführer ist der Augsburger Oberarzt Dr. Harald Munding , Landessprecher der VVN-BdA (und bekennendes Fördermitglied) – ein anderer Kerem Schamberger – siehe „Bundesverfassungsgericht zu Befugnissen der bayerischen Verfassung“ in der tagesschau am 14.12.2021 um 20 Uhr mit Kerem und Harald