Wenn Polizisten auf psychisch Kranke schießen: Seit 2019 haben Polizisten in Deutschland 37 Menschen in offenbar psychischen Krisen erschossen
„Es tut mir leid, Ihr Sohn ist tot.“ Diesen Satz hören Katrina und David O. am Telefon. Ihr Sohn Oisín wurde am 22. Mai 2019 von der Polizei in seinem Haus in Hamburg erschossen. Auch wenn es schon mehr als fünf Jahre her ist, die Eltern stellen sich immer wieder die Frage, warum ihr Sohn auf diese Weise sterben musste. (…) Fünf Schüsse treffen ihn – unter anderem an Lunge und Herz. Hätte der Einsatz auch anders geplant werden können oder gar müssen? Um strukturelle Veränderungen vorzunehmen, bräuchte es empirische Daten. Doch wie häufig Polizisten auf Menschen in psychischen Krisen schießen, wird von den deutschen Behörden nicht erfasst…“ Beitrag von Brid Roesner vom 5. November 2024 bei tagesschau.de und mehr daraus/dazu:
- Auch 2024 viele Menschen in Ausnahmesituation getötet. Jährliche Statistik legt nahe, dass viele polizeiliche Todesschüsse vermeidbar sind
Aufzählung der Fälle von Matthias Monroy vom 12.12.2024 in ND online- Siehe u.a. das Dossier: Welcher Messer-Angriff gegen 11 Polizisten rechtfertigt 6 Schüsse aus Maschinenpistole auf senegalesischen 16-Jährigen in der Dortmunder Nordstadt? und da aktuell:
- Fall Mouhamed Dramé: Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
„Der Freispruch für fünf Polizist:innen in Dortmund zeigt erneut: Staatsgewalt ist tödlich – und die falsche Antwort auf psychische Krisen. (…) Das Problem ist: Diesen Polizeieinsatz hätte es so nie geben dürfen. Immer wieder sterben Menschen durch Polizeikugeln. Immer wieder trifft es vor allem Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Menschen, die nicht zurechnungsfähig sind. Die wie Dramé suizidgefährdet sind. Viele von ihnen erleben weitere Formen von Diskriminierung, etwa Armut oder Rassismus. Am Ende sind sie tot, statt dass ihnen geholfen wurde – weil die Polizei bei ihrem Einsatz selbst erst die Notwehrsituation hervorruft. (…) Seit Jahren schon mahnen Expert*innen, dass bewaffnete Uniformierte, die vorpreschen und dabei womöglich noch Pfefferspray, Taser oder gar Schusswaffen einsetzen, die Situation eskalieren, statt sie zu beruhigen. Immer wieder fordern sie, dass es Notärzt*innen oder psychosoziale Krisendienste sein müssten, welche die Betroffenen zuerst erreichen. Trotzdem sinken die Zahlen nicht – sie steigen…“ Kommentar von Dinah Riese vom 12.12.2024 in der taz online
- Weiter aus dem Beitrag von Brid Roesner vom 5. November 2024 bei tagesschau.de : „(…) Der Verein „Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit“ sammelt öffentlich zugängliche Daten. Demnach sind seit 2019, seit Oisín erschossen wurde, in Deutschland 36 weitere Menschen in offenbar psychischen Krisen von Polizisten erschossen worden. Insgesamt befand sich fast die Hälfte aller von der Polizei erschossenen Menschen offenbar in einer psychischen Krise. Wie wird die Polizei auf solche Einsätze vorbereitet? Wird sie ausreichend geschult und fortgebildet? Eine bundesweite Abfrage ergibt, dass es keine einheitlichen Fortbildungsstandards gibt. Nur drei Bundesländer geben an, dass eine Fortbildung speziell im Umgang mit Menschen in psychischen Krisen für alle Beamtinnen und Beamten verpflichtend ist. (…) Auch die Unterstützung durch Fachpersonal scheitere zumeist an Geld und Personal. Handlungsweisen und Ausstattungen zu verändern ist in Deutschland auch deshalb nur schwer möglich, weil die juristische Aufarbeitung zumeist kein Fehlverhalten erkennt. Der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt hat festgestellt, dass etwa 97 Prozent aller Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamtinnen und -beamte eingestellt werden. „Der Staat wird sich immer schwer damit zu tun, seine eigenen Amtsträgerinnen und Amtsträger zu verfolgen“, so Singelnstein. „Und die Polizei als Organisation und als Behörde wird immer auch Möglichkeiten haben, sich in diesen Aufarbeitungsprozessen Vorteile zu verschaffen. Deshalb wäre es, glaube ich, schon wichtig, dass wir eine Stelle außerhalb der Polizei und außerhalb der klassischen Justizbehörden haben, die für solche Verfahren zuständig ist, die in besonderer Weise unabhängig ist.“ (…) Im Fall von Oisín hat die Staatsanwaltschaft und auch die Generalstaatsanwaltschaft lange geprüft. Die beiden Schützen verweigerten die Aussage – das ist ihr gutes Recht. Wie genau der Einsatz in Oisíns Haus damals abgelaufen ist, konnte daher nicht festgestellt werden. Der Hergang ergab sich aus Indizien. Mit dem Ergebnis, dass die Polizisten in Notwehr gehandelt haben. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Die Eltern von Oisín können das nicht akzeptieren. Sie haben den Eindruck, vieles sei vertuscht worden. Sie wären gerne vor Gericht gehört worden. Katrina und David O. haben deshalb Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Der prüft nun ihren Fall. Ein Urteil wäre bindend und könnte etwa dazu führen, dass solche Fälle in Deutschland zukünftig unabhängiger behandelt werden müssten.“
- Siehe auch: