UN-Experte sieht Systemversagen bei Polizeigewalt in Deutschland
„Die Überwachung der Polizei in Deutschland funktioniere nicht, sagt ein UN-Experte. Auch der Umgang der Bundesregierung mit dem Thema Polizeigewalt sei bedenklich. Die Behörden in Deutschland versagen nach Einschätzung eines UN-Menschenrechtsexperten systematisch bei der Erfassung und Ahndung von Polizeigewalt. Dieses Fazit zieht der bisherige UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Nils Melzer (…) „Die Überwachung der Polizei funktioniert in Deutschland nicht.“ Arroganz sei gefährlich, sagte Melzer: „Das zerstört das Vertrauen der Bürger in die Polizei.“…“ Agenturmeldung vom 21. April 2022 in der Zeit online
, siehe weitere:
- Zwei-Klassen-Justiz: Wie Polizist*innen vor dem Gesetz besser gestellt werden
„… Schon etwas zu viel Körperspannung kann ausreichen, damit eine Interaktion mit der Polizei als Widerstand oder Angriff gewertet wird. Demonstrierenden wird dann beispielsweise ein „aktives Sperren“ vorgeworfen. Die Folge: eine Anklage wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Auch wer sich selbst als Opfer von Polizeigewalt sieht und deswegen Anzeige erstattet, erfährt schnell, dass Polizist*innen darauf oft mit einer Gegenanzeige reagieren. So oft, dass Anwält*innen häufig sogar davon abraten, Anzeige zu erstatten. Denn bei einer Gegenanzeige mit dem Vorwurf „tätlicher Angriff auf einen Vollstreckungsbeamten“ droht eine Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis. Und nahezu alle dieser Fälle landen auch tatsächlich vor Gericht. Ein zentraler Grund dafür war bisher selbst unter Jurist*innen kaum bekannt: In neun deutschen Bundesländern gibt es interne Vorschriften, die dazu führen, dass mutmaßliche Gewalt gegen Polizist*innen härter verfolgt wird als Polizeigewalt gegen Bürger*innen. Wir veröffentlichen exemplarisch eine bislang geheime Anweisung des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen. (…) Eigentlich sieht die Strafprozessordnung (StPO) extra eine Regelung für geringfügige Fälle vor, mit der Gerichte entlastet werden: das „Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit” (…) Doch genau diese Möglichkeit – eine Einstellung nach den Paragrafen 153 oder 153a der Strafprozessordnung – ist in weiten Teilen Deutschlands ausgeschlossen, wenn das mutmaßliche Opfer Polizist*in im Dienst ist. In einer Rundverfügung des Justizministerium Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2021 heißt es dazu, dass bei Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen eine Einstellung nach den beiden Paragrafen „regelmäßig nicht in Betracht“ komme. Mit dieser internen Regelung werden die Staatsanwaltschaften also angewiesen, mutmaßliche Straftaten gegen Polizist*innen in jedem Fall in einer Hauptverhandlung vor Gericht anzuklagen. Ähnliche Regelungen gibt es nach unseren Recherchen in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen, Sachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. (…) Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass Polizist*innen Gewalt und Widerstand gegen sich behaupten, sich später aber herausstellt, dass es eigentlich umgekehrt war. Ausgerechnet diese Fälle landen aufgrund der strikten Vorgabe dann vor Gericht, obwohl der gleiche Sachverhalt ohne Beteiligung der Polizei dort vermutlich gar nicht erst angeklagt worden wäre. „Hier wird durch die Exekutive de facto ein Sonderstrafrecht geschaffen“, kritisiert Lukas Theune. Er ist Strafverteidiger und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen-und-Anwälte-Vereins (RAV). (…) „Es ist völlig intransparent“, kritisiert Rechtsanwalt Lukas Theune vom RAV. „Wir können unsere Mandant*innen ohne Kenntnis solcher Anweisungen schwerer beraten und verteidigen.“ Vielfach hätten Verteidiger*innen bereits vermutet, dass es eine solche Regelung gibt, dies jedoch bisher nicht belegen können.“ Beitrag von Aiko Kempen 16. April 2025 bei FragDenStaat - UN-Experte: Systemversagen bei Polizeigewalt in Deutschland
„In Deutschland gibt es beim Umgang mit Polizeigewalt nach Auffassung eines UN-Menschenrechtsexperten „Systemversagen“. Dieses Fazit zieht der bisherige UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, aus einem Austausch mit der Bundesregierung, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagt. Zuvor hatte „Die Welt“ darüber berichtet. Die Bundesregierung widerspricht der Einschätzung. „Ein Muster übermäßiger Anwendung von Gewalt durch Polizeibeamte gegenüber Personen oder gegenüber Demonstranten gibt es in Deutschland nicht“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage. (…) „Ich fand die Reaktion der Regierung bedenklich“, sagte er jetzt. Nach Auffassung der Bundesregierung sei es verhältnismäßig gewesen, dass Polizisten beispielsweise einen nicht aggressiven Demonstranten vom Fahrrad stießen und auf den Boden warfen. „Die Wahrnehmung der Behörden, was verhältnismäßig ist, ist verzerrt“, sagte Melzer. (…) Er habe die Bundesregierung um eine Statistik gebeten, wie viele Polizisten wegen unverhältnismäßiger Gewalt belangt werden, sagte Melzer. Die Antwort sei gewesen: in zwei Jahren sei es ein einziger gewesen, und in mehreren Bundesländern gebe es gar keine Statistiken. „Das ist kein Zeichen von Wohlverhalten, sondern von Systemversagen“, sagte Melzer. „Die Behörden sehen gar nicht, wie blind sie sind.“ (…) Während Demonstranten teils in Schnellverfahren abgeurteilt würden, würden Verfahren gegen Polizisten eingestellt oder verschleppt, „bis niemand mehr hinschaut“. Sein Fazit: „Die Überwachung der Polizei funktioniert in Deutschland nicht.“ Arroganz sei gefährlich, sagte Melzer: „Das zerstört das Vertrauen der Bürger in die Polizei.“ (…) Melzer hat seine abschließende Einschätzung am 28. März nach Berlin geschickt. Es dauert 60 Tage, bis das UN-Büro für Menschenrechte sie veröffentlicht…“ Agenturmeldung bei der Süddeutschen Zeitung online am 21. April 2022