Göttingen, nicht Gütersloh – oder: Wie rassistische Schuldzuschreibungen in Epidemie-Zeiten wirken
Dossier
Das wusste schon Karl Marx – und es gilt heute noch: Vor dem Gesetz sind im bürgerlichen Staat alle gleich, immer noch darf weder der Millionär noch der Obdachlose unter der Brücke schlafen. Jetzt haben Menschen in Göttingen sich gegen die ihnen verordnete Zwangsquarantäne im Wohnsilo zur Wehr gesetzt: Das dürfen sie nicht. Das dürfte ja auch Herr Tönnies nicht, irgendetwas auf die Polizei werfen zum Beispiel. Tut er ja aber auch nicht. Stattdessen verlagert er sein rücksichtsloses Geschäft in ein anderes Bundesland und lässt jene weiter knechten, die sein Partner Laschet beschimpft. Geschäfte stehen im Kapitalismus niemals unter Quarantäne. Über die aktuellen Epidemie-Geschäfte des Herrn Tönnies hat LabourNet Germany ein ganzes dickes, fettes Dossier „Branchengrößter (doch) nicht der Branchenbeste: Corona-Fälle nun auch bei Tönnies“ – dem ist nichts hinzuzufügen (außer all dem, was noch ans Tageslicht kommen wird). Über die Proteste in Göttingen folgt hiermit eine Materialsammlung, die sich auch der Frage widmet, wer zu Wort kommt (inklusive des Links zu einem Twitter-Kanal, der die Stimmen der Betroffenen in Göttingen dokumentiert) – und dem dazu gehörenden, einmal mehr wenig segensreichen, Wirken der kommerziellen Medien…
- »Die Strafen fallen ausgesprochen hoch aus«. Nach Zwangsquarantäne in Göttingen vor einem Jahr: Hochhausbewohner mit Klagen überzogen
Ein Gespräch von Henning von Stoltzenberg in der jungen Welt vom 3. Juni 2021 mit Tamara Schreiber über deren Erfahrungen als Sprecherin der »Solidaritätsinitiative Groner Landstraße«: „… Es ist unvorstellbar, dass die Stadt so gehandelt hätte, wenn die Betroffenen nicht in solchen prekären Umständen leben würden. Die Vorfälle sind ein Ausdruck davon, wie gleichgültig und verachtend Regierung und Verwaltung bis hinunter auf die lokale Ebene mit Menschen umgehen, die sie nicht den »sozialen Leistungsträgern« zurechnen, gerade in Krisensituationen. (…) Von den Bewohnern gab es viele Diskussionen an der Zäunen. Sie wollten lebensnotwendigen Aufgaben wie Arbeit, Einkauf oder Kinderbetreuung nachgehen. Als sie auf taube Ohren stießen, gab es hitzige Streitigkeiten und verzweifelte Versuche, das Gelände zu verlassen. Für die Unterstützer ging es in erster Linie darum, Aufmerksamkeit für die Situation der Bewohner zu erzeugen. (…) Bei den Anzeigen handelt es sich in erster Linie um Widerstand und versuchte Körperverletzung, also Paragraphen, die von der Polizei gerne bei Demonstrationen genutzt werden, um Menschen einzuschüchtern und Protestierende zu kriminalisieren. Viele der Anklagen beziehen sich auf eine Kundgebung am 20. Juni 2020, bei der die Bewohner ihre Wut gegen die menschenunwürdige Behandlung zeigten. Die Polizei reagierte, indem sie erst Pfefferspray gegen die Eingesperrten benutzte, darunter auch kleine Kinder und ältere Menschen, und dann in die Wohnanlage eindrang, um gewaltsam einzelne aus der Menge festzunehmen. Im Nachgang gab es 36 Anzeigen und einige Hausdurchsuchungen, bei denen mitten in der Nacht Haustüren mit einem Rammbock aufgebrochen wurden, um Handys und Laptops zu beschlagnahmen. Dabei wurden Videos gelöscht, die die Gewalt der Polizei gegen die Bewohner zeigen. (…) Die Strafen fallen ausgesprochen hoch aus und treffen Menschen, die sowieso nur über sehr wenig Geld verfügen, besonders hart. Sie sollen dafür bestraft werden, es gewagt zu haben, sich gegen die menschenunwürdige Behandlung zu wehren. Für uns ist wichtig, Kontakt zu den Betroffenen herzustellen und auch zu halten – ihnen zu zeigen, dass sie eben nicht alleine dastehen.“ - [Strafverfahren gegen Bewohner*innen der der GL9] Im Ausgrenzungstheater
„In Göttingen an der Groner Landstraße 9 (GL9) stand im Juni knapp eine Woche lang ein Wohnkomplex unter Vollquarantäne. Der Umgang mit den Bewohner*innen war schon zuvor von Gewalt geprägt. Nun laufen wegen eines Aufstands erste Strafverfahren. Linke Aktivist*innen organisieren eine Spendenaktion. (…) Ohne die Geschehnisse in ihren Kontext einzuordnen, war von Gewalt gegen die Polizei die Rede, nachdem am 20. Juni einige Bewohner*innen der GL9 Gegenstände über den Zaun in Richtung von Polizeieinheiten geworfen hatten. Zuvor hatten diese versucht, die Bewohner*innen unter Pfeffersprayeinsatz vom Zaun des rundum abgeriegelten Gebäudes fort, zurück auf den Innenhof, zu treiben. (…) Bedauerlicherweise kommt einer Berichterstattung, die nur die Polizei als Opfer inszeniert, zugute, dass fliegende Flaschen, Metallteile und Autoreifen ein unmittelbar spektakulär wirkendes Bild boten. Die Gewalt von Stigmata, unter denen Bewohner*innen des Gebäudekomplexes zu leiden haben, manchmal seit vielen Jahren, ist unsichtbarer. (…) So geraten Menschen in No-Win-Situationen. Daraus resultierende Wut einseitig zu skandalisieren, ist nichts anderes als ein weiterer Akt in einem Ausgrenzungstheater, das an der GL9 seit Jahren bis zur Perfektion eingeübt wurde. (…) Aufgrund anhaltender Repressionsdrohungen gegen Bewohner*innen (die ersten berichten von eingehenden Strafanzeigen wegen des Aufstands vom 20. Juni) sammelt die Basisdemokratische Linke Göttingen nun in Kooperation mit der Roten Hilfe Spenden. Darüber hinaus fordern die Aktivist*innen eine Einstellung sämtlicher Strafverfahren, die im Zuge der Vorkommnisse am GL9-Zaun eingeleitet worden sind.“ Artikel von Stefan Walfort vom 4.8.2020 – wir danken! (Stefan Walfort ist Student an der Uni Göttingen. Er wohnt seit sechs Jahren an der GL9 und war vom 18. Bis 22. Juni auf dem Gelände eingesperrt) - Pfefferspray auf Minderjährige – Polizei bilanziert die Corona-Auseinandersetzungen in Göttingen. Rote Hilfe wirft den Beamten Gewalt vor
„13 Ermittlungsverfahren, 36 Tatverdächtige, elf verletzte Beamte sowie »eine lange Liste« von Straftatbeständen: Gut sechs Wochen nach den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern eines unter Corona-Quarantäne stehenden Wohnblocks in Göttingen und der Polizei hat die danach eingesetzte Sonderkommission jetzt eine vorläufige Bilanz vorgelegt. Gleichzeitig erneuern linke Gruppen ihre Kritik an »massiver Gewalt« der Polizei. Der Solidaritätsverein Rote Hilfe prangert unverhältnismäßige Ermittlungsmethoden an und ruft zu politischer und finanzieller Unterstützung der von Strafverfahren betroffenen Personen auf. In den als soziale Brennpunkte geltenden Hochhäusern hatten sich etwa 120 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die niedersächsische Stadt Göttingen ordnete daraufhin am 18. Juni für die rund 700 gemeldeten Bewohner Tests an und verhängte eine Ausgangssperre. Unter ihnen sind viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten. Auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort äußerst in prekären Verhältnissen. Für knapp 600 Bewohner übernimmt die Stadt die Mietkosten. (…) Die Polizei habe am 20. Juni Pfefferspray auch gegen Kleinkinder eingesetzt, Demonstranten seien äußerst »gewaltvoll« festgenommen worden. Auch in den Folgetagen seien Beamte in die abgesperrten Wohnblöcke eingedrungen, um einzelne Bewohner festzunehmen, heißt es vonseiten der Roten Hilfe. Überhaupt sei die für die Hochhäuser verhängte Voll-Quarantäne unverhältnismäßig gewesen. Die Stadtverwaltung sei organisatorisch zudem nicht in der Lage gewesen, die Versorgung der Bewohner sicherzustellen. »Stattdessen wurde versucht, die Betroffenen mit Polizeigewalt einzuschüchtern und buchstäblich für Ruhe zu sorgen«, sagte ein Sprecher der Roten Hilfe. Die Initiative fordert »komplette Straffreiheit für alle Betroffenen«, weil die Situation erst durch den unrechtmäßigen Polizeieinsatz entstanden sei…“ Beitrag von Reimar Paul bei neues Deutschland vom 3. August 2020 - [Spendenaufruf der Roten Hilfe Göttingen] Solidarität mit den Bewohner*innen der Groner Landstraße 9a-c!
„Viele der Menschen, die am 20.06.2020 gegen von der Stadt Göttingen verhängten Vollquarantäne protestiert haben, sind jetzt von Repression betroffen. Auch damit wollen wir die Bewohner*innen nicht alleine lassen. Aufgrund von Auseinandersetzungen mit der Polizei an der Groner Landstraße während der Komplett-Quarantäne haben sich erste Personen bei einer Solidaritäts-Initiative gemeldet, die Post von der Göttinger Polizei bekommen haben. (…) Den betroffenen Bewohner*innen werden unterschiedliche Straftaten, darunter schwerer Landfriedensbruch, zur Last gelegt. Die Solidaritäts-Initiative fordert komplette Straffreiheit für alle Betroffenen, da die Situation an der Groner Landstraße durch den unrechtmäßigen Polizeieinsatz erst entstanden ist. Von Anwält*innenkosten bis hin zu möglichen Geldstrafen wird für die Unterstützung der Betroffenen Geld benötigt werden. (…) In solchen kollektiven Maßnahmen der Stadtverwaltung werden struktureller Rassismus und Klassismus in der Gesellschaft und in den Institutionen deutlich. Und auch rassistische Polizeigewalt ist niemals ein Einzelfall – weder in Göttingen, noch deutschlandweit, noch global. BlackLivesMatter-Proteste machen seit vielen Jahren auf rassistische polizeiliche Übergriffe aufmerksam, auch in Göttingen. Vor diesem Hintergrund macht das unsensible und repressive Vorgehen der Stadtverwaltung und der Polizei fassungslos. Daher ist es jetzt gerade wichtig, die Betroffenen nicht allein zu lassen und sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. Angefangen bei Anwält*innenkosten bis hin zu möglichen Strafzahlungen wird für die konkrete Unterstützung der Betroffenen viel Geld benötigt werden. Wieviel genau ist zur Zeit noch nicht abzusehen, aber die überzogenen Vorwürfe und die weiteren Festnahmen durch die Polizei deuten ein noch höheres Ausmaß an. In jedem einzelnen Fall fallen durch polizeiliche Maßnahmen erstmal Kosten an, mit denen die Bewohner*innen nicht allein gelassen werden dürfen! Solidarität mit allen von Repression Betroffenen!“ Spendenaufruf vom 20. Juli 2020 von und bei Rote Hilfe Göttingen – Spendet jetzt auf das Unterstützungskonto der Solidaritätsinitiative:
Rote Hilfe e.V. Göttingen
IBAN: DE72 4306 0967 4007 2383 99
BIC: GENODEM1GLS
Betreff: #GronerLand - Rassismus, Ausbeutung und Stigma: Wie neoliberale Stadtpolitik in Göttingen „soziale Brennpunkte“ produzierte
„… Im 1975 eröffneten, bis zu 17 Stockwerke hohen Iduna-Zentrum gibt es 407 Wohnungen. Es sind überwiegend 1-Zimmer-Wohnungen zu 34 m². Daneben gibt es Appartements mit zwei bis vier Zimmern mit Flächen zwischen 55 m² und 81 m². Viele Jahre war das Iduna-Zentrum eine „angesagte Adresse“ besonders für angehende Akademiker*innen, war es doch mit der Universität auf der anderen Straßenseite durch eine Fußgänger*innenbrücke verbunden. Seit den 1990er Jahren haben sich aufgrund mangelnder Investitionen Wohnqualität und Mieter*innenschaft verändert. Es kommt zu Leerständen. In den 2000er Jahren ändert sich die Situation. Die Zahl der Bewohner*innen wächst seit 2002 wieder und nimmt vor allem seit 2012 stark zu. 2017 wohnen rund 600 Personen im Iduna-Zentrum, das sind 75% mehr als 2002. Zugezogen sind vor allem kinderreiche Familien; etwa 100 Kinder wohnen inzwischen in dem Komplex. Der Anteil von Familien mit 5 und mehr Personen liegt deutlich über dem gesamtstädtischen Durchschnitt. Die Belegunsgdichte pro Wohnung ist damit deutlich gestiegen.(VU 2018, 22f.) Seit 2016 plant die Stadtverwaltung die Vorbereitung einer Stadtsanierung in der nördlichen Innenstadt („Historische Altstadt-Nord“). Das Gebiet für eine „Vorbereitende Untersuchung“ (VU) wird 2017/18 auf das Iduna-Zentrum ausgeweitet. Der Bericht der vorbereitenden Untersuchung liegt der Stadt ab Mitte 2018 vor, er wird im Dezember 2018 im Bauausschuss diskutiert. Die Ausweisung als Sanierungsgebiet und Aufnahme in das Programm „Soziale Stadt“ läuft. In dem Bericht wird festgehalten: „In der Zusammenschau zeigt sich, dass im Iduna-Zentrum vor allem Menschen leben, die hinsichtlich ihres Einkommens, ihrer Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und ihres sozialen Status‘ Ausgrenzung und Benachteiligung erfahren…“ – aus dem ausführlichen und ausgesprochen lesenswerten Beitrag „„Hotspots“ Iduna-Zentrum und Groner Landstraße 9 – Über soziale Brennpunkte, unverantwortliche Wohnungseigentümer und sozialstaatliche Wohnungspolitik“ von Hans-Dieter von Frieling am 29. Juni 2020 bei Stadtentwicklung Göttingen über die Politik, die die Entstehung von Zwangs-Quarantäne-Räumen produziert - Hinter Gittern. Als die Stadt Göttingen einen Hochhauskomplex an der Groner Landstraße 9 abriegelte, war das Virus nur der vorgeschobene Grund
„Hauptsache, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) schmeckt seine Currywurst. Möge sie von Tönnies sein, hofft man als Bewohner des Hochhauses, das der Göttinger Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) nach Bekanntwerden von etwa 100 positiv ausgefallenen Tests auf das neuartige Coronavirus unter Vollquarantäne stellte. Am 18. Juni 2020 war es soweit: Mit Verweis auf eine Allgemeinverfügung verwandelte die Stadt das Gebäude im Handumdrehen in einen Knast. Ein Bauzaun ringsherum, bewacht durch Mitarbeiter/innen des Ordnungsamts und eines privaten Sicherheitsdiensts sowie durch ein Großaufgebot der Polizei, sorgte dafür, dass fünf Tage lang niemand von den Bewohnern und Bewohnerinnen sich vom Gelände entfernte – so lange, bis man (Rachenabstriche, entnommen in einem mobilen Testzentrum vor Ort) zwei negative Testergebnisse vorweisen konnte. Nach Presseschätzungen wohnen in dem Gebäude etwa 700 Menschen, darunter viele Rom*nja, Drogenabhängige und Prekarisierte. Es blieben nach den 100 positiv Getesteten also 600 Menschen übrig, von denen man erst mal hätte annehmen können, dass sie keine konkrete Gefahr für die Gesundheit ihrer Mitmenschen darstellen. (…) Die Gefahr, sich innerhalb des Hauses nun erst recht zu infizieren, nahmen Köhler und Broistedt in Kauf: Konnten sich Bewohner und Bewohnerinnen zuvor noch wunderbar aus dem Weg gehen, so entstand jetzt auf dem Gelände eine Enge, die ein höheres Ansteckungsrisiko mit sich brachte – vor allem vor einer Essensausgabe und einem »Infopoint« des städtischen Krisenstabs (statt Informationen gab es hier Beschwichtigungsversuche und ein Abschieben der Verantwortung auf andere Institutionen). Ansammlungen von Menschen mit mehrheitlich dunkler Haar- und Augenfarbe hinter Zäunen vor der schmierig-grauen Außenfassade des Hauses lichteten Teile der Presse begierig ab. Die Berichterstattung trug so ihren Teil zur Konstitution eines xenophoben und klassistischen Diskurses bei, der seitdem die Kommentarspalten und Social-Media-Kanäle dominiert. Infolge all dessen machte sich das Gefühl breit, als Bewohner des Hauses gehöre man selbst nicht zur schützenswerten Bevölkerung und sei vollkommen rechtlos. (…) Am 20. Juni trat die Polizei zunehmend repressiv, behelmt und mit Knüppeln im Anschlag, gegenüber den dank der mangelhaften Informationspolitik und der miserablen Versorgung in Rage geratenen Bewohner/innen auf. Pfefferspray als Reaktion, auch gegen Kinder, hielt der Polizeipräsident Uwe Lührig für »absolut gerechtfertigt«, wie er auf einer Pressekonferenz am nächsten Tag betonte…“ Artikel von Stefan Walfort von Ende Juni beim Konkret-Magazin - GronerLand in Göttingen: Ein extremes Beispiel für Corona-Klassenpolitik gegen die Armen
„Göttingen erlebt zurzeit den zweiten Fall von Positivtestungen des Coronavirus in einem Hochhaus, in dem Menschen in sehr kleinen und schlecht ausgestatteten sowie unverhältnismäßig teuren Wohnungen leben. Aber statt alternativen Wohnraum oder wenigstens Notunterkünfte bereitzustellen, hat die Stadt Göttingen beschlossen, den gesamten Wohnkomplex abzusperren. Etwa 700 Menschen, darunter 200 Kinder, durften für fast eine Woche den Komplex nicht verlassen. Sie wurden tagelang weder ausreichend mit Lebensmitteln noch mit Hygiene- und Schutzartikeln versorgt. Als es am Samstag zu Ausbruchversuchen kam, reagierte die Polizei völlig unverhältnismäßig, so mit dem Einsatz von Pfefferspray in Durchgängen, in denen sich auch Kinder aufhielten. Erst am Montagabend wurden den ersten Bewohner*innen unter würdelosen Bedingungen ein Verlassen des Komplexes erlaubt. Die Unterzeichnenden fordern die Vertreter*innen der Stadt Göttingen auf: Sofort angemessenen Wohnraum für die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9 zur Verfügung zu stellen, notfalls durch die Belegung von Hotelzimmern! / Alle rassistischen Äußerungen, die nahe legen, dass die Einwohner*innen des Gebäudekomplexes nicht zur Göttinger Bevölkerung gehörten, sofort zu unterlassen! / Sich gegen eine Strafverfolgung einzelner Bewohner*innen anlässlich der Ausbruchsversuche am Samstag klar auszusprechen! Wir sehen den ‚Göttinger‘ Fall als skandalösen ’neuen‘ Umgang mit der Corona-Krise, in der die Verantwortung für die Folgen der Ausbeutung von Mieter*innen und Arbeiter*innen faktisch auf die Betroffenen verlagert wird. Es ist kein Zufall, dass neue Hotspots von Corona-Infektionen dort entstehen, wo Wohn- und Arbeitsbedingungen prekär sind. Die Parallelen zu den Fleischfabriken, deren Arbeitende oft zu zehnt in einem Zimmer wohnen, sind auffällig...“ – so die „Erklärung zur Situation der Bewohner*innen der Groner Landstraße 9 in Göttingen“ am 25. Juni 2020 von und beim Arbeitskreis Arbeitskämpfe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) zur Situation in Göttingen und den Forderungen an die Stadt. Siehe dazu auch zwei Meldungen aus dem Twitter-Kanal GronerLand zur aktuellen Situation und zwei Beiträge, die das Vorgehen der Stadt Göttingen deutlich machen – und das (Nicht) Vorgehen (in Berlin), wenn es sich um „Prominente“ handelt, sowie einen Beitrag, der die ganze rassistische Kampagne nochmals zusammen fasst:- „Seit heute sind die Zäune abgebaut, die Eingänge aber weiter von Ordnungsamt & Security kontrolliert. Die Bewohner*innen berichten von willkürlichen Regelungen nach denen sie raus oder rein dürfen“ am 26. Juni 2020 im Twitter-Kanal GronerLand zur fortgesetzten Repression gegen die Menschen im „Hotspot“
- „Pressemitteilung des „Solidaritäts-Bündnisses GronerLand“ im Nachgang zu ihrer Protestkundgebung“ am 24. Juni 2020 ebenfalls im Twitter-Kanal GronerLand zur Solidaritätsdemonstration am Vortag (in insgesamt 17 Tweets): „Das „Solidaritätsbündnis GronerLand“ zeigt sich am Abend zufrieden mit der Kundgebung, die sie in der Groner Landstraße abgehalten haben. Über 600 Teilnehmer*innen hatten am Die Nachmittag ein Zeichen der Solidarität mit den Bewohner*innen des unter CoronaQuarantäne stehenden Gebäudes gesetzt. Trotz der Freude über die breite Unterstützung zeigt sich das Bündnis jedoch weiterhin empört über die Zustände vor Ort…Auch die Bewohner*innen des Gebäudekomplexes kamen auf der Solidaritätskundgebung zu Wort. In abgespielten Audio-Aufnahmen schilderten verschiedene Personen die prekäre Versorgungslage…“
- „»Infektionen wurden billigend in Kauf genommen«“ am 26. Juni 2020 in der jungen welt ist ein Gespräch von Kristian Stemmler mit Setare Torkieh, Medizinstudentin im Einsatz bei Abstrichen, worin unter anderem hervor gehoben wird: „… In dem Komplex leben mehr als 600 Menschen unter für mich schockierenden Bedingungen. Allein die Anzahl der Menschen, die in einer Wohnung leben müssen, ist unfassbar. Ich bin mir sicher, dass viele sich solche Bedingungen, besonders in so einer Akademikerstadt wie Göttingen, gar nicht vorstellen können. Um sich zurückzuziehen oder Abstand zu halten, ist dort absolut kein Platz. Die Leute sind zusammengepfercht. Beim Testen ist mir etwas aufgefallen, was mich besonders schockiert hat: Viele Bewohner, besonders die Kinder, haben Infektionen im Mund- und Rachenbereich oder ihre Zähne sind in einem extrem schlechten Zustand. Viele Erwachsene haben zudem prekäre Jobverhältnisse und bangen ausgerechnet in dieser Lebenssituation um ihre finanziellen Einkünfte. (…) Das große Polizeiaufgebot und die Vollausrüstung haben mich eingeschüchtert und mir Angst gemacht. All das signalisierte, dass ein deeskalierender Umgang nicht vorgesehen war. Besonders schockiert war ich davon, dass Polizisten Pfefferspray gegen Kinder eingesetzt haben. Die hatten in den ersten Reihen am Zaun gestanden. Es war offensichtlich, dass das Pfefferspray sie treffen würde…“
- „Klasse Virus“ von Elsa Koester am 26. Juni 2020 im Freitag online (Ausgabe 26/2020) hält einleitend unter anderem fest: „… Wer ins Freibad will, muss sich das Ticket jetzt Tage vorher kaufen – online. Mit Kreditkarte, oder per Paypal. Das Prinzenbad in Berlin-Kreuzberg galt immer als Treffpunkt aller Milieus. Jetzt nicht mehr. Jetzt schwimmen hier an einem Sommertag nur noch: weiße Körper. Coronafrei. Dabei kam das Virus in Deutschland einmal genau über diese Einfallstür. Es befiel weiße Akademikerkörper, die im Februar natürlich nicht schwammen, sondern Ski fuhren, in Ischgl. Jetzt vollzieht Corona eine Klassenwanderung. Wenn der R-Wert in Deutschland über zwei liegt, dann löst das nur deshalb keine Panik aus, weil der Infektionsausbruch stark begrenzt ist. Auf einen Häuserblock in Berlin-Neukölln, zwei Häuser in Göttingen, die Mitarbeiter von Tönnies. Noch relevanter als die lokale Begrenzung scheint die soziale. Die Träger des Virus haben derart wenig Kontakt zu anderen Milieus, dass diese sich kaum vor einer Ansteckung sorgen müssen. „Wir haben es nicht mit einer Infizierung quer durch die Bevölkerung zu tun, wie das zum Beispiel nach Ischgl der Fall war“, sagte der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), als der lokale Lockdown um Gütersloh noch verhindert werden sollte; es handele sich um Menschen, die „an weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gar nicht teilnehmen“. Skifahrende für den sozialen Querschnitt zu halten, Tönnies-Arbeiter aber als außerhalb der Gesellschaft stehend zu betrachten: Das ist interessant...“
- „Borchardt kommt ohne Corona-Bußgeld davon“ von Lorenz Maroldt am 26. Juni 2020 im Checkpoint Tagesspiegel zu – eindeutig illegalen – „Prominenten-Treffen“ und deren Folgenlosigkeit unter anderem: „… Die Promi-Sause vom 15. Mai bleibt folgenlos. Nach einem Polizeieinsatz wegen offenkundiger Verstöße gegen die Covid-19-Verordnung hatte die Behörde „ein kräftiges Bußgeld“ angekündigt – doch die Rechnung fällt nach Checkpoint-Informationen unter den Tisch. Hier die interne Auswertung des Falles: Wegen der lediglich pauschalen Aussage der beteiligten Beamten ist die Anzeige der Polizei „nicht als beweissicher anzusehen“ und somit „in ihrer Qualität leider unbrauchbar“. Festgestellt wurde, dass rund 300 Personen im Lokal waren, die an teils zusammengestellten Tischen saßen und den Mindestabstand unterschritten. Allerdings nahm die Polizei keine Personalien auf, auch auf eine Fotodokumentation wurde verzichtet – das sei „von der Führung nicht erwünscht“. Mindestens ein Foto von dem Abend gibt es allerdings: Es zeigt FDP-Chef Christian Lindner vor dem Lokal mit herunterhängender Maske in inniger Umarmung des Honorarkonsuls von Weißrussland...“
- „In Göttingen und anderswo: Die unter dem Vorwand von „Corona“ betriebene rassistische Hetze und Polizeistaatsgewalt bekämpfen“ im Juni 2020 , Flyer Nr. 56 der GewerkschafterInnen und Antifa gemeinsam gegen Dummheit und Reaktion hebt unter anderem hervor: „… Anfang Juni wurde in Göttingen unter Corona-Vorwand eine rasch bundesweit verbreitete rassistische Hetzkampagne losgetreten. Vertreter*innen der Stadt Göttingen präsentierten nach dem Auftreten von Covid-19-Anste-ckungen in dem Hochhauskomplex „Iduna Zentrum“ um-gehend Schuldige: Die Infektionen stünden angeblich in Zusammenhang „mit mehreren größeren privaten Feierlichkeiten“ von „Mitgliedern mehrerer Großfamilien.“ Ins Visier genommen wurden vor allem Roma, die angeblich am 24. Mai in ihren Wohnungen das muslimische Zuckerfest gefeiert hätten. Wenig später legte die Stadt Göttingen nochmals nach: Angeblich gäbe es auch Hin-weise auf ein Treffen in einer illegalen Shisha-Bar im Hochhauskomplex. Angeblich befand sich in dem Gebäudekomplex auch der „Patient Null“ als Ursprung für die Ausbreitung des Cocid-19-Virus in dieser Zeit. Die im Hochhaus lebenden Roma und andere „nicht deutsche“ Menschen dort wurden als Sündenböcke für die Infektionsfälle, ja für die dann folgende Schließung sämtlicher Schulen in Göttingen präsentiert. Wie es in einer Erklärung aus dem Roma Center Göttingen vom 5.6.2020 heißt, kennt in Göttingen jede*r dieses Haus und verbindet damit sozial deklassierte Roma-Familien und andere Migrant*innen. Damit begann ein regelrechtes Lehrstück, wie nationalistische und rassistische Verhetzung in Szene gesetzt wird. Vor allem drei zentrale Lügen waren gegen die dem Haus lebenden Roma in die Welt gesetzt worden...“
- Fotogalerie bei Flickr von Links Unten Göttingen von den Auseinandersetzungen an dem Hochhaus Groner Landstr. 9a in Göttingen mit der Polizei
- „Der Sündenbock im Hochhausblock“ von Simon Volpers am 18. Juni 2020 in der jungle world zu den rassistischen Komponenten der städtischen und medialen Kampagne: „… In den vergangenen drei Wochen wurden diese Klischees einmal mehr hervorgekramt. Denn das Iduna-Zentrum ist zu einem sogenannten Corona-Hotspot in der beschaulichen Universitätsstadt geworden. Wie medial schnell kolportiert wurde, sollten dort einzelne Infizierte die geltenden Quarantäneregeln nicht beachtet und weitere Personen angesteckt haben. Die Gesamtzahl der Infizierten sollte im niedrigen dreistelligen Bereich liegen. In Göttingen wurden deshalb die Schulen und einige Freizeiteinrichtungen erneut präventiv geschlossen. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht. Die Stadtverwaltung verbreitete folgende Geschichte: Zahlreiche Mitglieder von Großfamilien hätten während privater Feierlichkeiten zum muslimischen Zuckerfest für die Verbreitung des Virus gesorgt, deshalb müssten mit einigem Aufwand sämtliche Bewohner des Hauses getestet werden. Ungefähr 700 seien das, genau könne das aber niemand sagen. Als einige Hausbewohner versuchten, sich des umgehend einsetzenden Medienrummels zu erwehren und ein Kamerateam dabei mit Gemüse bewarfen, war das Bild des sozialen und infektiösen Schandflecks perfekt. »Drohgebärden vor laufenden Kameras«, titelte das Göttinger Tageblatt am 5. Juni und fügte als Unterzeile hinzu: »Ein Leben zwischen Quarantäne, Virustests und gegenseitigem Misstrauen«. Als die erste Aufregung vorüber war und Bild eine Reportage über die »arabisch-albanischen Clans« im »Coronablock« veröffentlicht hatte, konnten dann die Bewohner des Iduna-Zentrums ihre Sicht der Dinge kundtun – wenn auch nicht mit der Reichweite der Sensationspresse. In einer online kursierenden Gegendarstellung kritisierten »betroffene Familien« aus dem Haus die »unkorrekte und unvollständige Berichterstattung«. Demnach sollen die besagten familiären Feiern niemals stattgefunden haben, vielmehr seien Verstöße gegen die Quarantänebestimmungen im Haus den Behörden frühzeitig angezeigt worden. Auch die Betreiber einer Göttinger Shisha-Bar, die ebenfalls zum »Corona-Hotspot« erklärt worden war, behaupteten, die Abstands- und Hygienevorschriften ordnungsgemäß durchgesetzt zu haben. Unter der Überschrift »Hetze wegen Corona in Göttingen breitet sich aus« meldete sich auch das Roma Antidiscrimination Network (RAN) zu Wort. Es beklagte, durch die städtischen Stellungnahmen und die daraus resultierende einseitige Berichterstattung seien »Vorurteile und letztlich Rassismus« geschürt worden. Dabei hätten die betroffenen Bewohner des Iduna-Zentrums sehr verantwortungsvoll gehandelt. RAN zufolge wurden infizierte Familienmitglieder selbständig isoliert und von ihren Angehörigen mit dem Nötigsten versorgt. Ein weiteres online kursierendes Schreiben eines Bewohners bestätigte das umsichtige Verhalten insbesondere der Roma-Familien…“
- „Nach #Mietenwahnsinn – Aufstand in Göttinger Quarantäne-Wohnblock: „Die Leute haben kein Essen zuhause!““ am 21. Juni 2020 bei Perspektive Online meldet: „… Weil mindestens 120 Menschen infiziert sind, stehen in einem Göttinger Wohnblock 700 Menschen unter Quarantäne. Die Ausgänge sind mit Bauzäunen abgeriegelt. Versorgt werden die BewohnerInnen nach eigenen Angaben mit abgelaufenen Chips und Äpfeln. Deswegen kam es gestern Nachmittag zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Polizei und Ordnungsamt bewachen seit Freitag, dass die 700 BewohnerInnen des Wohnkomplexes Groner Landstraße sich an die Ausgangsbeschränkungen halten. Die Stadt wollte mit Notfallpaketen die Versorgung aufrecht erhalten. Im Hochhauskomplex leben rund 200 Kinder und Jugendliche, die Wohnverhältnisse seien „prekär“. Am Mittag hatte vor dem Gebäude noch eine Protestaktion der Basisdemokratischen Linke Göttingen stattgefunden. Sie beteiligten sich am bundesweiten Aktionstag #MietenwahnsinnStoppen. Währenddessen sei die Stimmung bei den BewohnerInnen hochgekocht. Die Polizei schirmte DemonstrantInnen vom Gebäude ab und setzte Pfefferspray ein, um den Protest außer Sichtweite zu bringen. Die BewohnerInnen setzten ihren Protest gegen die Quarantänemaßnahmen jedoch fort, versuchten die Bauzäune zu überwinden. Rund 100 Personen versuchten, sich an der Polizei vorbeizudrängen. Andere warfen mit Gegenständen aus Fenstern und von Dächern auf die Polizeikräfte. Diese forderten Unterstützung aus Hildesheim, Hameln und Nienburg an, sie setzten Pfefferspray gegen die BewohnerInnen ein. Einige Einsatzkräfte seien verletzt worden...“
- „Bewohner in Quarantäne bewerfen und verletzen mehrere Polizisten“ am 20. Juni 2020 in der Zeit online steht hier beispielhaft dafür, wie die Ereignisse dann in entsprechende Meldungen umgearbeitet werden, die nicht direkt von der Pressestelle der Polizei kommen. Nicht direkt.
- „Die Legende von den „Großfamilien“ am Corona-Hotspot“ von Stefan Lauer bereits am 12. Juni 2020 bei den Belltower News zur anwachsenden Hetzkampagne: „… Vor wenigen Tagen wurde nun bekannt, dass im „Iduna“-Zentrum eine Corona-Hotspot entstanden sei. Der Krisenstab der Stadt Göttingen, geleitet von Petra Broistedt, spricht von 170 Infizierten aus mehreren „Großfamilien“, die sich angesteckt hätten, weil sie unter Missachtung der Vorschriften gemeinsam das Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan, das Zuckerfest gefeiert hätten. Auch in einer Moschee sollen die ominösen „Großfamilien“ gewesen sein. Die Medien reisen an. In der Stadt werden Bewohner*innen befragt, in praktisch jedem Fernsehbeitrag werden ausschließlich weiße Menschen interviewt, die ihrer Empörung wegen der Verantwortungslosigkeit der Hochhausbewohner*innen, Luft machen. Rücksichtlosigkeit wird den Menschen vorgeworfen. In Boulevardmedien sind „Arabische Clans schuld an Göttinger Massenausbruch“. Jetzt stellt sich heraus: Alles ist ganz anders. Sogar die Zahlen des Krisenstabes werden im Nachhinein korrigiert. Tatsächlich gibt es im Haus nur 60 Infizierte. Die restlichen Fälle sollen allerdings mit dem Ansteckungsherd in Verbindung stehen. „Die unterschiedlichen Zahlen beruhen nach Angaben der Stadt Göttingen auf einem Übermittlungsfehler,“ heißt es beim NDR. Das Roma Antisdiscrimination Network (RAN) macht auf weitere Missstände in der Berichterstattung und bei Behörden aufmerksam. Denn tatsächlich entstand der Infektionsherd laut RAN nicht durch die beschuldigte „Großfamilie“, sondern durch einen anderen Mann. Das Gesundheitsamt hatte bei ihm eine Infektion vermutet und seit dem 17. Mai Quarantäne verordnet. Daran hielt der Mann sich allerdings nicht und war im Haus, auch im Fahrstuhl, unterwegs. Unter anderem Mitglieder der jetzt kriminalisierten Familien wiesen die Behörden mehrfach darauf hin, eine Reaktion gab es keine. Der Mann wurde erst am 29. Mai in Polizeibegleitung ins Krankenhaus gebracht. Trotzdem gaben die Behörden an „Patient Null“, also der erste Corona-Fall im Hochhaus, soll das Mitglied einer der Roma-Familien sein, der sich im Rahmen des Zuckerfestes, angesteckt hätte. Die Angehörigen des Mannes wollte sich nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus testen lassen, wurde aber von der Klinik abgewiesen. In den Medien war dagegen davon zu lesen, dass sich Bewohner*innen einem Test verweigern würden…“
- „Polizeipräsident nennt Einsatz „absolut gerechtfertigt““ von Paul und Gloria Geyer am 21. Juni 2020 im Tagesspiegel online über die Rechtfertigung des Polizeieinsatzes: „… Mehrere der seit Donnerstag in dem Gebäude eingesperrten Bewohner bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein – Augenzeugen zufolge auch gegen Kinder. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben. Der Polizeieinsatz sei, „auch wenn im Internet etwas anderes dargestellt wurde“ in dieser Form „absolut gerechtfertigt“, erklärte der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig auf einer Pressekonferenz am Sonntagmittag. Er könne nachvollziehen, dass die Quarantäne-Maßnahmen zu Unmut führen würden, aber er habe „kein Verständnis“ dafür, dass Angriffe auf die eingesetzten Beamtinnen und Beamten durchgeführt wurden, sagte Lührig weiter. Dem Einsatzleiter der Göttinger Polizeiinspektion Rainer Nolte zufolge habe sich die Situation gegen 15.20 Uhr am Samstag zugespitzt. Circa 80 bis 100 Einwohner des Gebäudekomplexes hätten sich an der äußeren Absperrung befunden. Zeitgleich habe in circa 50 Metern Entfernung eine Demonstration stattgefunden. Es sei zu „verstärkten Unmutsäußerungen“ gekommen, die sich in „Richtung Eskalation“ steigerten, sagte Nolte auf der Pressekonferenz. Menschen hätten versucht den Bauzaun zu übersteigen und Bewohner hätten sich unter anderem mit brennenden Mülleimern, Pflastersteinen und Möbelstücken bewaffnet. Eine Verstärkung der Einsatzkräfte habe einen Ausbruch verhindern können. Göttings Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) erklärte auf der Pressekonferenz, dass er zu dem Zeitpunkt der Eskalation selbst vor Ort gewesen sei. Gegen 16.30 Uhr habe er vom Leiter der Polizei eine Nachricht erhalten, dass man zwei Personen gefunden habe, die bereit seien, mit ihm zu sprechen, sagte Köhler am Sonntag. (…) Köhler könne die Frage, inwiefern die Demonstration ein Auslöser der Eskalation gewesen sei, nicht beurteilen. Er habe allerdings erkennen können, dass es aus den Demonstrationen heraus Ausrufe gegeben habe, die die Lage „zumindest verschärft“ hätten. Eine von der Gruppe ohnehin am Sonnabend geplante Kundgebung zum Aktionstag „Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!“ wurde kurzfristig vom Marktplatz in die Groner Landstraße verlegt. Die etwa 250 Teilnehmenden hätten sich vor dem Gebäude versammelt, „um ihre Solidarität mit den dort internierten Bewohnern zu zeigen sowie für den Erlass von Corona-Mietschulden, Verringerung von Mieten und gute Wohnungen für alle zu demonstrieren“, teilt Lena Rademacher von der Basisdemokratischen Linken mit. Zahlreiche Bewohner verfolgten die Redebeiträge aus den Fenstern heraus, mehrere dutzend weitere versammelten sich an den Absperrungen...“
- „Nach Berichten von politischer Gruppe redical hat die Polizei vor ca. einer halben Stunde eine weitere Person im Gebäude Komplex GronerLandstr9 festgenommen“ am 21. Juni 2020 im twitter-Kanal Links Unten Göttingen ist einer der zahlreichen Tweets mit Meldungen über die Atmosphäre der Konfrontation, die beständig gepflegt wird
- „Unterstützung von Passant*innen wird von den Hilfssherifs der HKS abgelehnt und die Menschen zurück geschickt“ am 21. Juni 2020 im Twitter-Kanal der Göttinger Gruppe Redical ist eine weitere diese Meldungen über die „Strategie der Spannungen“ vor Ort
- „Arme, Migranten – und Corona-Sündenböcke“ am 21. Juni 2020 im Tagesspiegel online hebt unter anderem zu Herrn Laschets Ausfällen gegen „Rumänen und Bulgaren“ hervor: „… Der Ministerpräsident von NRW formulierte später neu und rückte Tönnies als Verantwortlichen in den Fokus. Aber gesagt war gesagt. Rumänen und Bulgaren als Schuldige – das ist Spalterrhetorik, von der nicht anzunehmen ist, dass sie auf gänzlich taube Ohren stoßen wird. Desgleichen, wenn auch bisher fast ohne Nennung von Herkunft, geschieht in Berlin-Neukölln und Göttingen, wo ein ganzer Häuserblock und ein Hochhaus nach Coronaausbrüchen unter Quarantäne gestellt wurden. Der ersatzweise Hinweis lautete in diesen Fällen, die Betroffenen seien sozial schwach und sprächen kaum Deutsch. In Bremerhaven brach das Virus bei einem Gottesdienst einer Gemeinde von Russlanddeutschen aus, davor gab es Ähnliches aus Frankfurt/Main zu vermelden. So kann nebenbei aus der Bedrohung durch ein Virus die Bedrohung durch Fremdstämmige, Ausländer, Bildungsferne und Arme werden, die man als jene ausmacht, die den Sinn der Bekämpfungsmaßnahmen nicht begreifen wollen oder befolgen können. Das mag eine willkommene Entlastungsübung sein für eine Bevölkerung, die mehrheitlich weder arm noch ausländischer Herkunft ist und somit (trügerischerweise) meint, sich vor Corona sicher wähnen zu dürfen. Aber es ist mehr als ungut, wenn das auf diese unmoderierte, wabernde Art zum Thema wird. Aus anderen Ländern sind neben medizinischen längst auch sozioökonomische Daten zur Coronakrise bekannt. In Deutschland werden die nicht verknüpft, obschon das für die Bekämpfung des Virus wichtig sein kann, denn daraus könnte sich ablesen lassen, ob und wie man einzelne Milieus oder Gruppen unterschiedlich ansprechen muss, um das gewünschte Ziel der Regeleinhaltung und damit der Viruseindämmung zu erreichen...“ Nun ruft er dazu auf, das Virus dürfe nicht auf „die Bevölkerung“ übergreifen!
- „Ein Virus spaltet die Gesellschaft“ von Felix Hütten und Henrike Roßbach am 20. Juni 2020 in der SZ online berichtet zu dieser „sozialen Komponente“ unter anderem: „… Für Deutschland liefern erste Untersuchungen deutliche Hinweise, dass auch hierzulande die Gesundheit armer Menschen unter der Pandemie besonders leidet. So zeigt eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des Instituts für Medizinische Soziologie der Uniklinik Düsseldorf und der AOK, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalt hatten. Eine genaue Erklärung der Ergebnisse steht noch aus. „Als wissenschaftlich belegt aber gilt, dass Menschen, die von Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind, häufiger an Vorerkrankungen leiden, die im Fall einer Coronainfektion das Risiko eines schweren Verlaufs erhöhen“, sagt Studienleiter Nico Dragano. Die Forscher werteten für ihre noch nicht begutachtete Studie Daten von mehr als 1,3 Millionen Versicherten aus. Um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie methodisch zu untersuchen, hat sich das Kompetenznetz Public Health zu Covid-19 gegründet, ein Zusammenschluss von mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In einer ersten Stellungnahme schreiben sie, es sei davon auszugehen, dass sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen häufiger mit dem Virus in Kontakt kämen, häufiger schwer erkrankten und dass sie verstärkt unter dem Infektionsschutz litten – etwa durch Arbeitslosigkeit, Isolation oder fehlende Bildungsmöglichkeiten. Letzteres ist der zweite soziale Aspekt der Pandemie. Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Kinderhilfswerks Arche, das sich um sozial benachteiligte Kinder kümmert, berichtet von der Isolation vieler Familien, von Kindern, die durch wochenlange schlechte Ernährung bis zu 30 Kilo zugenommen hätten, von Flüchtlingskindern, die Deutsch verlernt hätten, von sechsköpfigen Familien auf 70 Quadratmetern ohne Balkon und von Jugendlichen, die sich an die Trägheit vor dem Bildschirm gewöhnt hätten...“
- „Corona fördert den Rassismus“ von Susanne Memarnia am 18. Juni 2020 in der taz online zur Quarantäne in Berlin und ihrer rassistischen „Bearbeitung“, die es eben keineswegs nur „in Göttingen“ gibt: „… Am Vorgehen des Bezirks Neukölln mit dem heftigen Corona-Ausbruch in einigen Wohnblocks gibt es von mehreren Seiten Kritik. Roma-Initiativen beschweren sich, der Umgang mit den Menschen trage antiziganistische Züge. „Ich glaube nicht, dass man sich getraut hätte, ein ganzes Haus mit ‚Deutschen’ unter Quarantäne zu stellen“, sagte Milan Pavlovic vom Rroma Informations-Centrum der taz. Ähnlich fragt Georgi Ivanov von Amaro Foro, einem Selbsthilfeverein von Roma und Nicht-Roma: „Warum stellt man nicht nur die positiv getesteten Haushalte unter Quarantäne? Warum spricht Stadtrat Falco Liecke öffentlich von Roma und rumänischer Nationalität, was hat das mit der Krankheit zu tun?“ (…) Am Dienstag hatte der Bezirk bekannt gegeben, dass sieben Häuser mit 369 Haushalten komplett unter Quarantäne gestellt worden seien. Bis Mittwoch waren 70 BewohnerInnen positiv auf Covid-19 getestet worden. Die Quarantäne wurde bereits am vergangenen Samstag verhängt. Die Verbindung zwischen den betroffenen Häusern soll sein, dass überall Mitglieder einer oder mehrerer Pfingstlergemeinden leben. Auch in Spandau und Mitte sollen in diesem Zusammenhang Quarantänen verhängt worden sein – zumindest in Mitte aber wohl nicht für ein ganzes Haus, sondern nur für positiv getestete Haushalte. Gesundheitsstadtrat Liecke (CDU) wurde in den vergangenen Tagen mehrfach mit Äußerungen zitiert, dass ein Großteil der Betroffenen aus der „Roma-Community“ komme. Die Kommunikation erweise sich als „schwierig“, sagte er etwa der Morgenpost, weil viele kaum Deutsch sprächen und auch „bildungsmäßig nicht auf dem Stand (sind), dass sie alle medizinischen Informationen verstehen können“. Es sei ein typisch antiziganistisches Klischee, so Ivanov, dass ein Gesundheitsthema in Zusammenhang mit Roma gebracht werden. Dabei lebten etwa in dem einen – nun bekannten – Haus auch Menschen vieler anderer Nationalitäten…“
- „“Ein Staat im Staat““ von Lina Verschwele am 21. Juni 2020 in der SZ online berichtet aus Gesprächen mit Tönnies-Beschäftigten, die ansonsten so selten selbst zu Wort kommen, wie etwa die Familien aus Göttingen oder Berlin (egal, ob sie große oder kleine Familien sind…): „…Für Tönnies hat Popescu erst Fleisch verpackt, später selbst geschnitten. Er berichtet von 200 Stunden Arbeit im Monat und Unterkünften, in denen sich vor der Pandemie drei bis sieben Personen ein Zimmer teilten. Beides scheint ihn nicht zu schockieren. „Natürlich ist die Arbeit hart.“ Früher war Popescu Soldat, das sei leichter gewesen. Er habe vielleicht ein Zehntel so schwer gearbeitet wie bei Tönnies. Anfangs habe er geglaubt, die Arbeit nicht zu schaffen – das industrielle Schlachten erschien ihm zu brutal. Mittlerweile sieht er seinen Job bei Tönnies als Rampe. Über die Arbeit dort will er in Deutschland einen besseren Job in einer anderen Branche finden. Wirklich verwundert klingt Popescu nur bei einem Thema. Schon vor rund sechs Wochen seien er und seine Frau auf Corona getestet worden. Danach seien sie weiter zur Arbeit gegangen. Erst zwei Wochen später hätte ihnen jemand die Ergebnisse mitgeteilt: Popescus Frau war positiv. Warum die Auswertung so lange dauerte, kann er nicht verstehen. Auch nicht, dass es danach keine weiteren Tests gegeben habe, und auch keine Informationen. Am nächsten Tag seien er, seine Frau und die gesamte Schicht in Quarantäne geschickt worden. Seitdem habe sich niemand mehr bei ihm gemeldet. Auch andere Arbeiter sagen der SZ und der Beratungsstelle Faire Mobilität, dass es schon seit Längerem einzelne Corona-Fälle bei Tönnies gegeben habe. Nach Marius Popescu melden sich weitere Arbeiter bei der SZ, die meisten sind aufgebracht. Andrei Amariei* schreibt, er wolle Menschen warnen – vor der Ausbeutung auf Schlachthöfen wie dem von Tönnies. Amariei ist aus dem Geschäft ausgestiegen. Von 2015 bis 2019 hat er in Deutschland Fleisch verpackt, die meiste Zeit bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Er lebt wieder in Rumänien und ist froh darüber, erzählt er in einem Facetime-Anruf. Die Liste seiner Vorwürfe an Tönnies ist lang...“
- Siehe dazu auch: „groner_land_voices“ – ein neuer Twitter-Kanal, der ankündigt: „Hier wird es ab jetzt Bilder, Videos und Stimmen der Bewohner:Innen sowie aktuelle News geben. Über #gronerlandvoices kommen gesondert Bewohner:Innen zu Wort, weitere News gibt es unter #gronerland“
- Siehe für die keinesfalls neuen Hintergründe folgende Dossiers im LabourNet Germany:
- Hierarchie der Not. Wer unten steht, leidet mehr: Die Corona-Krise verdeutlicht und verschärft die soziale Ungleichheit
- Die Gesundheitsdiktatur (?) – Notstand wegen Corona-Virus verlangt nach Wachsamkeit gegenüber dem Staat
- Wer kontrolliert die Polizei, die uns bei den diversen Ausgangssperren kontrollieren soll?