Abolitionismus: Gegen Polizei und Gefängnisse – gegen bürgerliches Bestrafungssystem der Armen
Dossier
„Verbunden wird der Begriff Abolitionismus oft mit einer Bewegung von christlichen und aufgeklärten weißen Männern, die im 18. und 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei eintraten. „Abolitio“ ist Lateinisch und bedeutet genau das: „Abschaffung“ oder „Aufhebung“. Einflussreicher Gründer der London Society for the Abolition of the Slave Trade und Vorkämpfer der Bewegung war Thomas Clarkson. (…) Spricht man heute von Abolitionismus, meint man meist eine Welt ohne strafende Institutionen, ohne Polizei und ohne Gefängnisse. Dazu muss man diese Denkrichtung im US-Kontext verorten und verstehen, wie einer der deutschen Hauptvertreter dieser Bewegung, der Sozialwissenschaftler und Philosoph Daniel Loick, erklärt. Demnach wird die Masseninhaftierung in den USA als Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln gesehen. Möchte man den Kampf gegen Sklaverei fortführen, muss man auch das Gefängnissystem bekämpfen, so die Argumentation…“ Feature vom 1. August 2023 beim Deutschlandfunk Kultur („Abolitionismus: Eine Welt ohne Polizei und Gefängnisse – kann das funktionieren?“) und mehr daraus:
- Ruth Wilson Gilmore: «Abolitionismus ist eine Aufforderung, internationalistisch zu denken»
„Nicht nur in den USA setzt die Politik zunehmend auf Polizei, Grenzen und Strafjustiz“. Die US-Geografin Ruth Wilson Gilmore erklärt im Interview von Vanessa E. Thompson und Raul Zelik in der WOZ Nr.37 vom 12. September 2024 , „warum Linke das grundsätzlich bekämpfen sollten und wieso Abolitionismus mehr ist als eine historische Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei: (…) Kapitalismus beruht auf Ungleichheit, und Rassismus schreibt diese fest. Es ist einer von mehreren Mechanismen, mit denen der Kapitalismus die Ungleichheit produziert, die Kapitaleigentümer benötigen, um sich den Mehrwert aneignen zu können. Der Begriff «racial capitalism» hilft also zu verstehen, warum grosse Teile der Weltbevölkerung – das betrifft nicht nur die USA – entlang von kulturellen oder biologischen Unterschieden gespalten werden und wie Ungleichheit zu einem scheinbar objektiven Phänomen wird. Dabei beschreibt der Begriff einen Prozess: Rassismus ist nicht etwa Folge von «Rasse», sondern es ist umgekehrt der Rassismus, der dazu führt, dass wir «Rassen» zu erkennen glauben. (…) Meiner Ansicht nach ist es kein grosses Problem, dass viele Menschen bei dem Begriff [Abolitionismus] zunächst an die Abschaffung des Sklavenhandels denken. Denn diese historische Bewegung war erstens sehr internationalistisch und stellte zweitens in ihrer radikalen Form einen Angriff auf den Kapitalismus dar, der sich massgeblich auf die Sklaverei und die von versklavten Menschen produzierten Güter und Vorprodukte stützte. Abolitionismus ist in diesem Sinne eine Aufforderung, historisch und internationalistisch zu denken, sich der Grundlagen des Kapitalismus bewusst zu sein. Wenn wir von Abolitionismus in der Gegenwart sprechen, geht es aber auch darum, alle Bedingungen zu sehen, die für ein erfülltes, gutes Leben nötig sind. Ich würde sagen: Wir müssen die Abschaffung des Kapitalismus erproben, indem wir andere Bedingungen und Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt erschaffen. Das ist mehr als die blosse «Beseitigung» von Gefängnissen, Polizei und organisierter Gewalt. Nämlich die Überwindung der Bedingungen, die diese hervorbringen. (…) Der heutige Abolitionismus zieht seine Kraft aus der historischen Erfahrung, dass es dank harter und internationalistischer Kämpfe gelang, die kapitalistische Sklaverei zu besiegen. Von diesen langen, vielschichtigen Kämpfen sollten wir uns inspirieren lassen. In der Verzweiflung übersehen wir oft, was um uns herum geschieht. Aber Menschen organisieren sich ständig selbst, um Rechte zu verteidigen oder zu erkämpfen. C. L. R. James, der Autor von «Die schwarzen Jakobiner», hat einmal gesagt: Revolutionen finden statt, weil die Menschen so konservativ sind; sie warten und warten und versuchen alles, um die Situation irgendwie zu ertragen; bis sie eines Tages auf die Strasse gehen und innerhalb weniger Jahre die Unordnung von Jahrhunderten beiseiteräumen. Das bleibt meine Leitidee.“ - Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Wacquant zeigt, dass Gefängnisse vor allem dazu dienen, die Überflüssigen der neoliberalen Gesellschaft verschwinden zu lassen
„Loïc Wacquant, Soziologieprofessor in Berkeley und Wissenschaftler am Centre de Sociologie Européenne in Paris, untersucht in einem neuen Werk die transatlantisch explodierende Ausweitung des Strafrechtsstaats und dessen untrennbarer Zusammenhang zum Abbau des Sozialstaats und Ausweitung sozialer Unsicherheit. Der Autor, der bereits mit Armut hinter Gittern (Universitätsverlag Konstanz, 2000) einen beeindruckenden Einblick in ein Panoptikum einer überbordenden Gefängnispopulation in den USA lieferte, bezieht diesmal [in der 2. Auflage] Europa mit ein, wozu er als Franzose, der auf beiden Seiten des Atlantiks forscht, natürlich prädestiniert ist. Die Zahlen der Inhaftierungen stiegen seit den 1970er Jahre kontinuierlich, um schliesslich nach der Reform des Sozialstaats durch die Clinton-Regierung 1996, welche starke Einschnitte für die Ärmsten zur Folge hatte, bei gleichzeitiger Verschärfung des Strafrechts, bis hin zur Ausgangssperre für Jugendliche, Kriminalisierung von Bagatelldelikten wie z.B. das öffentliche Urinieren bei Obdachlosen, regelrecht aus den Fugen zu geraten. (…) Eine wachsende Unsicherheit mache sich auch in Frankreich breit, wo diese Wegsperrmentalität besonders grob kopiert wurde: „So stieg der Anteil der Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen – Beschäftigte mit Kurzzeitverträgen, Zeitarbeitskräfte, Beschäftigte auf subventionierten Stellen und in staatlich finanzierten Ausbildungsprogrammen – von eins zu elf im Jahre 1990 (oder 1,98 Millionen Menschen) auf eins zu sieben im Jahre 1999 (3,3 Millionen).“ (…) Wacquant legt dagegen an Hand von Statistiken dar, dass das Wegsperren mit den tatsächlichen Zahlen der Kriminalitätsstatistiken rein gar nichts zu tun habe, sondern politisch gewollt sei. Diese Wegsperr-Verirrungen seien in den USA, in England wie auch à la française flankiert von reisserischen Fernsehprogrammen, die in Serien zu besten Vorabendzeiten dem voyeuristischen Zuschauer wahre Höllenszenarien liefern, die mit der Realität rein gar nichts zu tun haben. (…) Loïc Wacquant wäre kein guter ehemaliger Schüler und Co-Autor von Pierre Bourdieu gewesen, wenn er nicht noch als theoretischen Schlusspunkt einen „Abriss des neoliberalen Staates“ formulieren würde, die ausführlich auf die zum Teil verkürzten, manchmal oberflächlichen, meist aber linken Interpretationen des modernen Staates eingeht. „Der Staat zieht sich zurück“, allerdings nur bei seiner ureigensten Aufgabe einer gerechten Sozialpolitik und bei der Ahndung der zunehmenden Wirtschaftskriminalität. Für aufmüpfige Arme dagegen gibt es einen hochaufgerüsteten Polizeistaat. Mit das Beste, was die letzen Jahre an soziologischen Studien geliefert wurde.“ Rezension von Adi Quarti am 31. August 2024 beim untergrundblättle von:- Loïc Wacquant „Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit“ erschien in 2. Auflage 2009 beim Verlag Barbara Budrich, Leverkusen (368 Seiten)
- Siehe auch unser Dossier: Ersatzfreiheitsstrafen: Strafender Staat bekämpft die Armen
- [CILIP 135] Warum Abolitionismus? Theorie und Praxis einer nicht neuen Bewegung
„In diesem einleitenden Text heben wir drei Aspekte hervor, die Abolitionismus so relevant machen. Abolitionismus als kritische historische und materialistische Theorie und Gesellschaftsanalyse, die viele der Probleme unserer Zeit grundlegend angehen kann; Abolitionismus als praktischer Organisierungsansatz, der gerade in den letzten Jahren global viel Zuspruch gefunden hat; und zuletzt Abolitionismus als Gegenwarts- und Zukunftsperspektive, die nicht in der Kritik verbleibt, sondern direkt Alternativen aufbaut und sichtbar macht…“ Artikel von Hannah Vögele, Lara Möller und Rebecca Merdes vom 19. Juli 2024 in CILIP 135 vom Juli 2024 mit dem Schwerpunkt „Abolitionismus – Impulse aus der Praxis“ - Angela Davis: Are Prisons Obsolete? Eine Welt ohne Gefängnis
„Davis ruft zum Abbau diskriminierender Strukturen auf und entwickelt aus antikapitalistischen, antirassistischen und feministischen Perspektiven heraus Alternativen zum bürgerlichen Strafsystem. Es ist ein Bild, das sich seit einiger Zeit nicht nur in der Landeshauptstadt zeigt: In Parkanlagen, auf öffentlichen Plätzen und selbst in Freibädern trifft man immer häufiger auf Polizeistreifen und private Sicherheitskräfte. Es herrscht Einigkeit beim „Berliner Sicherheitsgipfel“, den die Stadt jüngst ausrichtete: Videoüberwachung, Präventionseinsätze und verstärkter Streifendienst seien unerlässliche Bestandteile, um die Stadt sicher zu machen. Aber was macht uns wirklich sicher? (…) Wie ist also das Gefängnis als Institution im Kontext der Frage nach Sicherheit zu bewerten? Wofür wird es gebraucht? Wen schützt es? Und könnten wir auch ohne? Das alles sind Fragen, die Angela Davis in ihrem im Jahr 2003 erschienenen Buch „Are Prisons Obsolete?“ thematisiert. (…) Davis rekonstruiert im Hauptteil die Entwicklung der US-Gefängnisse. Dabei zeigt sie zunächst die historische Kontinuität von rassistischen Institutionen in den USA auf: über Sklaverei, Lynchjustiz und Convict Leasing – dem, nach dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkrieges, staatlich organisierten und rassistisch motivierten System der Verpachtung von Strafgefangenen als Zwangsarbeiter*innen – hin zur Segregation und schliesslich der Masseninhaftierung heute. (…) Neben den rassistischen Strukturen, die sich in der Institution Gefängnis im Kapitalismus zeigen, ist darin auch das Patriarchat fest verwoben. Dass die Verstrickungen von Klasse, Geschlecht und race im Gefängnis- beziehungsweise Strafsystem besonders intensiv zu spüren sind, zeigt Davis eindringlich: „Das heisst, deviante Männer wurden als kriminell angesehen, während deviante Frauen als geisteskrank eingestuft wurden.” (…) Der Prison-Industrial-Complex stellt den letzten grossen Analysegegenstand des Buches dar. Der Begriff beschreibt die Verquickung von Konzernen, der Regierung, Haftanstalten und den Medien. Davis beschreibt, wie private Gefängnisunternehmen durch Gefangenenarbeit Profit machen und wie der Staat sich davon eine Scheibe abschneidet. (…) In ihrem letzten Kapitel zeichnet Davis Zukunftsaussichten. So beschreibt sie, wie ein ausgebautes, kostenloses und inklusives Bildungs- und Gesundheitssystem zusammen mit der Dekriminalisierung von Sexarbeit, Migration und Drogenkonsum nach und nach die Notwendigkeit von Gefängnissen minimieren würden. Damit steht sie in der Tradition eines Abolitionismus von unten, der sich historisch durch Schwarze Massenwiderstände und marxistische Vordenker*innen vom aufklärerischen Abolitionismus als weisse und liberale Bewegung abgrenzte. Davis Aufruf zum Abbau von diskriminierenden Strukturen einerseits und dem Aufbau von neuen Verhältnissen und Produktionsformen andererseits zeigt überzeugend, wie aus antikapitalistischen, antirassistischen und feministischen Perspektiven heraus die Notwendigkeit entsteht, Alternativen zum bürgerlichen Strafsystem zu entwickeln.“ Rezension von Lara Zieß vom 16. April 2024 beim untergrundblättle - Radikale Polizeikritik: Staatlichen Gewaltinstitutionen die Finanzmittel entziehen. Das Konzept »Defund the Police« will Sicherheit und Gerechtigkeit neu definieren
„Seit der antirassistischen Protestwelle nach dem polizeilichen Mord an George Floyd in den USA erhält die Forderung »Defund the Police« viel Aufmerksamkeit. Der Ansatz will der Polizei die Finanzierung entziehen und zählt zu den abolitionistischen Transformationsstrategien. Dabei geht es die Definanzierung aller todbringenden, staatlichen Institutionen (»death-making institutions« nach Mariame Kaba). Hierzu zählen auch Gefängnisse, geschlossene Psychiatrien, Abschiebungen, Grenzzäune, Überwachungstechnik, Waffen und Militär. Stattdessen wollen die Befürworter von »Defund the Police«, dass in lebensverbessernde und -erhaltende Institutionen und Infrastrukturen investiert wird. So soll eine Welt entstehen, die sich am kollektiven Wohlbefinden orientiert und allen Menschen einen Platz zum Leben in Würde, bei guter Gesundheit und in Sicherheit bietet. Mit »Defund the Police« werden Institutionen, die als Garanten von »Sicherheit« und »Gerechtigkeit« auftreten, aus Sicht der Bewegung aber weder das eine noch das andere herstellen, infrage gestellt. Jedoch müssen diese Schlagworte – genauso wie Fragen der Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung – umfassender gesellschaftlich eingebettet werden. Um die Ursachen von Gewalt und schädigendem Verhalten in der Gesellschaft zu beseitigen, müssen auch die materiellen Grundlagen geschaffen werden, damit ein Leben in Sicherheit überhaupt möglich wird: Zugang zu Wohnraum, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Energieversorgung, das Recht zu gehen und zu bleiben, der Erhalt der ökologischen Grundlagen, Bildung und Mobilität. Das heißt auch: Es gibt viele Wege, an dieser Transformation zu arbeiten. (…) Seit diesem Jahr kämpft auch die Gruppe Defund the Police Dortmund für abolitionistische Forderungen, darunter die Abschaffung der Wache Nord, und selbstorganisierte Strukturen der Bewohner*innen in der Nordstadt. (…) Im August 2022 hat die Polizei in Dortmund den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé erschossen, als er sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Expert*innen gehen davon aus, dass rund 50 Prozent der tödlichen Polizeieinsätze eine solche Ausnahmesituation zugrunde liegt. Defund the Police Dortmund fordert für derartige Situationen »mobile, multiprofessionelle Kriseninterventionsteams«, die nicht auf Gewalt setzen. Bis es aber zu einer umfassenden Trendumkehr der Investitionen und zum Rückbau der Polizeibehörden kommt, ist es für Ansätze von »Defund the Police« noch ein weiter Weg.“ Artikel von Michèle Winkler vom 10. August 2023 in Neues Deutschland online - Eine kurze Geschichte des Abolitionismus. Die Bewegung will nicht nur Polizei und Gefängnisse endgültig abschaffen
„Seit den globalen Protesten nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 im US-Bundesstaat Minneapolis durch den Polizeibeamten Derek Chauvin hat Abolitionismus als theoretische Perspektive und soziale Bewegung neue politische Aufmerksamkeit erhalten. Die Forderung nach der Abschaffung der Polizei fand Anklang auf vielen der Massenproteste, die von den USA bis nach Europa, Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien reichten. Nach den anti-rassistischen Protesten, die historisch in ihrer Größe bisher einzigartig sind, haben sich viele weitere abolitionistische Gruppen und Initiativen gegründet, auch in Deutschland. Dabei geht es nicht bloß um die Polizei oder um Gefängnisse.
Wörtlich bedeutet Abolitionismus Abschaffung und steht damit im Gegensatz zu einer Reform. Historisch geht die Bewegung auf Kämpfe gegen das kapitalistische Plantagensystem zurück. Dabei ist die Frage nach den Akteuren in progressiven Kreisen nicht unumstritten. (…)
In diesen Ansätzen sind Fragen um direkte Gewalt, Enteignung und Formen der »unfreien « Arbeit als Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zentral. Dabei geht es radikalen Abolitionist*innen nicht um eine Reform des kapitalistischen Gesellschaftssystems, sondern um dessen Abschaffung. Ein zentrales Merkmal im Abolitionismus ist jedoch nicht nur die Negation, sondern vor allem das Erproben radikaler Alternativen. (…)
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die abolitionistische Bewegung neu definiert. Sie nahm zunehmend alle Formen des Einsperrens oder der unterdrückerischen sozialen Kontrolle (Polizei, Grenzregime, Überwachung, Psychiatrien, repressive und disziplinierende Sozialpolitik usw.) ins Visier. Auch feministische Stränge, die davon ausgehen, dass das Strafsystem nicht in der Lage ist, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt strukturell anzugehen, spielen in der Bewegung eine größere Rolle. Dies ist vor dem Hintergrund des neoliberalen Strukturwandels, der zunehmenden Bestrafung von Armut, dem Ausbau von Kontroll- und Strafsystemen sowie tödlichen Migrationsregimen zur kapitalistischen Krisenregulation nicht überraschend. Gerade die zunehmende Produktion einer armutsgefährdeten »Überschussbevölkerung« (der jüngst verstorbene Abolitionist Mike Davis spricht in diesem Rahmen von der am schnellsten wachsenden sozialen Klasse) liegt im Fokus heutiger abolitionistischer Mobilisierung. Gemeinsam bilden diese Entwicklungen eine breitere Anschlussbasis für eine radikale Politik der Ausgebeuteten und Entrechteten. Initiativen gegen Polizeigewalt und das Grenzregime, gegen Zwangsräumungen und für eine Stadt für alle, gegen die Ersatzfreiheitsstrafe und den Maßregelvollzug sowie disziplinierende Sozialbehörden erweitern damit die Kämpfe um die soziale Frage. Sie zeigen auf, dass systematische Gewalt sowie staatlich organisierte Vernachlässigung die Formen sind, durch welche die stets zunehmende »überflüssig« gemachte Bevölkerung, Wohnungslose und Entrechtete, Asylsuchende und Erwerbslose sowie Mehrfach-Unterdrückte in den innerstädtischen Armutsvierteln kontrolliert und diszipliniert werden. Zugleich entwerfen und erproben sie Alternativen im Hier und Jetzt durch selbstorganisierte Solidaritätsprojekte im Bereich Wohnen und Gesundheit, Flucht und Migration, alternativen und gemeinschaftlichen Ökonomien…“ Artikel von Shaïn Morisse und Vanessa E. Thompson am 10.08.2023 in ND online - Weiter aus dem Feature vom 1. August 2023 beim Deutschlandfunk Kultur : „… Die Schwarzen Aktivistinnen und Sozialwissenschaftlerinnen Angela Davis und Ruth Wilson Gilmore setzen sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Gefängnissen ein. Von Letzterer stammt der Slogan: „Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern: nämlich alles.“ Damit bringt sie auf den Punkt, wie schwer und wie umfänglich dieses Unterfangen ist. (…) Vertreter dieser Denkrichtung setzen Gewalttaten in einen gesellschaftlichen Gesamtkontext. Es reicht ihrer Ansicht nach nicht, den Täter isoliert zu betrachten und dann vom Rest der Gesellschaft auszuschließen. Vielmehr müsse man an die Wurzel der Tat. Es geht um strukturelle Gewalt, die aus dem Racial Capitalism resultiert, wie Thompson erläutert. (…) Anstatt sich an Exekutivorgane wie Polizei oder Justiz zu wenden, was vom Racial Capitalism marginalisierte und benachteiligte Gruppen ohnehin selten täten, sollten zivilgesellschaftliche Formen des Ausgleichs gesucht und gefunden werden. Abolitionisten sprechen in diesem Zusammenhang von Verantwortungsübernahme und transformativer Gerechtigkeit. (…) Jeder Täter und jedes Opfer ist eingebettet in eine Community, in ein näheres Umfeld von Menschen. Das sind Freunde, Angehörige, Kollegen, Bekannte oder sonst wie mit einem Verbundene. Diese Communitys sollen nun durch Verhandlungen untereinander einen Ausgleich zwischen Opfer und Täter finden. (…) Es geht also um Verantwortung für Gewalt als kollektive Aufgabe und um Veränderung des Täters und der jeweiligen Comunitys, also letztlich der Gesellschaft an sich. Das Opfer wird von den mobilisierten Communitys unterstützt. Das bedeutet für die von Gewalt Betroffenen ein ganz neues Verständnis von Sicherheit. (…) Ob man das Konzept des Abolitionismus nun gut oder schlecht findet, es regt zum Nachdenken an – über eine andere Form der Reaktion auf Gewalt, über eine, die weniger durch den Gedanken der Rache, Sühne, Schuld und Gegengewalt geprägt ist. Vielmehr soll eine bessere Welt entstehen durch eine Form des Dialogs, der Aussöhnung und der kollektiven Reaktion auf Konflikte und Gewalt. Ob das letztlich funktioniert, müsste erprobt werden.“
Höre/siehe auch:
- „Sicherheit für wen?!“ Episode 8: Abolitionismus – Polizei abschaffen? am 22. Dezember 2021 beim Radio Dreyeckland , dort auch weiterführende Links zum Thema
- Simin Jawabreh zu Polizei-Abolitionismus, Strategie, und Bewegung’Abolition needs Class-War’/ ‚Abolition braucht Klassenkampf‘ am 4. Januar 2022 beim Radio Dreyeckland
- und siehe das Netzwerk Abolitionismus auf Twitter , ebd IhrSeidKeineSicherheit