Die „Gesundheitsdiktatur“ (?) – Notstand wegen Corona-Virus verlangt nach Wachsamkeit gegenüber dem Staat

Dossier

Coronavirus, die Hetze und der Ausnahmezustand: China im ShitstormMit Angst regiert es sich leichter. Krisen ermöglichen es dem Staat, sich selbst als „hart durchgreifende“ Ordnungsmacht zu positionieren. Dies ist in gesundheitlichen Krisen nicht anders. (…) Seuchenschutzmaßnahmen erinnern an die Ausrufung von Kriegsrecht. In beiden Fällen herrscht besondere Aggressivität gegen „Abweichler“. Es sind Situationen veränderten Rechts – letztlich reduzierter Rechte für die Bürger und ausgeweiteter Rechte für die Staatsmacht. Während durch Seuchen bedingter Krisen werden unschuldige Staatsbürger teilweise wie Verbrecher behandelt. Sie müssen sich eine im Grunde entwürdigende Behandlung bieten lassen, die in normalen Zeiten als „No-Go“ gelten würde. Überwachungsmaßnahmen werden durch verstärkte Polizeipräsenz, jedoch auch elektronikgestützt durchgesetzt…“ Artikel „Die Gesundheitsdiktatur“ von Roland Rottenfußer vom 14.3.2020 bei Neue Debatte externer Link, den wir später wohl nicht mehr verlinkt hätten, doch gab er einen guten Anlass für dieses Dossier zur kritischen Betrachtung der Freiheitseinschränkungen (ohne zugleich die Gefahr der Pandemie zu leugnen!)(speziell zum Datenschutz unter Corona siehe unser Dossier Datenschutz vs. Corona-Virus – Was [nicht nur] Unternehmen beachten müssen und zur zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht das Dossier: Auch in Deutschland stehen dem Corona-Virus (politisch gewollt) knappe Ressourcen des Gesundheitswesens gegenüber):

  • BVerwG zu Corona-Verordnungen: Ausgangsbeschränkung in Bayern war unverhältnismäßig New
    „Das Bundesverwaltungsgericht hat sich erstmals mit der Rechtmäßigkeit von Corona-Regeln aus der Anfangszeit der Pandemie befasst. (…) Die Regelungen der Bayerischen Corona-Schutzverordnung vom 27. März 2020 (BayIfSMV) über das Verlassen der eigenen Wohnung waren unverhältnismäßig. Das entschied der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) am Dienstag (Urt. v. 22.11.2022, Az. 3 CN 2.21). (…) Nach den strengen Regelungen durften sich die Menschen in Bayern nicht mehr einfach so an der frischen Luft aufhalten – auch nicht alleine. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern das für die Hemmung der Virusübertragung erforderlich und damit im Sinne von § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes in der damaligen Fassung notwendig gewesen ist, befanden die Richter. (…) Die bayerische Landesregierung habe nicht plausibel begründet, warum ein Verhalten, das für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, der Ausgangssperre unterworfen werden müsste. Parallel zu der Entscheidung hatten sich die Leipziger Richter am Dienstag außerdem mit frühen Regelungen der Sächsischen Corona-Schutzverordnung zu befassen. Auch hier schlossen sie sich der Vorinstanz an: Anders als im bayerischen Fall waren die Kontaktbeschränkungen verhältnismäßig (Urt. 22.11.2022, Az. 3 CN 1.21).“ Meldung vom 22. November 2022 bei Legal Tribune Online externer Link
  • Allgemeine Impfpflicht?
    „… Uns geht es auch nicht in erster Linie um ein Ja oder Nein zu einer allgemeinen Impfpflicht, obwohl wir dazu eine Meinung haben und äußern, wichtiger ist es uns, einen Blick auf den gesamten politischen Zusammenhang zu werfen und Implikationen sichtbar zu machen, die in der öffentlichen Debatte oft ausgeblendet oder geradezu verdeckt werden, und zwar unabhängig davon, ob die Protagonist*innen eine Impfpflicht befürworten oder nicht. (…) Ein vorsorgender Staat hätte bereits im Juli 2021 Impfteams in die Pflegeheime losschicken und alle Bürgerinnen zur dritten Impfung einladen müssen. Er hätte das Kaputtsparen des Gesundheitswesens, ja der gesamten öffentlichen Daseinsvorsoge, beenden und zumindest die Finanzierung der Krankenhäuser umstellen müssen auf bedarfsgerechte Kostendeckung, um damit dem „Wettbewerb“ des Profitstrebens ein Ende zu setzen. Er hätte eine erhebliche Erhöhung der Einkommen und bessere Arbeitsbedingungen im Pflegebereich durchsetzen müssen. Er hätte auf diese Weise vielleicht Vertrauen gewonnen, das ihm jetzt bei bis zu 30 Prozent der Bevölkerung fehlt. Ein vorsorgender Staat hätte schon im ersten Lockdown, als tatsächlich auch große Teile der Wirtschaft heruntergefahren wurden, nicht die Unternehmen, sondern die Menschen absichern müssen, indem er sie mit Einkommen ausstattete. (…) Nicht unser Dasein wollte der Staat finanzieren, sondern die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verwertungsabläufe. Das zeigt sich nicht nur am Festhalten an der Schuldenbremse, sondern noch stärker an den konkreten Lockdownregeln, die zwar alle öffentlichen Aktivitäten einschränken oder unterbinden, die irgendwie Freude ins Leben bringen könnten, nicht aber prekäre Arbeits-, Lebens- und Mobilitätsbedingungen verändern. Ein vorsorgender Staat hätte die Patente für die Impfstoffe freigeben müssen und müsste das immer noch tun, damit die Menschen überall auf der Welt, insbesondere in den arm gemachten Ländern des Südens, hätten geimpft werden können. Das hätte nicht nur postkolonialer Verantwortung entsprochen, sondern auch für die Weltgemeinschaft das Risiko gefährlicher Mutationen verringert. Aber das Patentregime ist insgesamt eine gigantische Profitmaschine und damit eine Heilige Kuh des globalen Kapitalismus. (…) Sind diese Fehler der Vergangenheit schon gravierend genug, so machen es die aktuellen Versuche der Etablierung einer allgemeinen Impfpflicht noch schlimmer. (…) Angesichts all dessen ist die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland zumindest gegenwärtig durch nichts zu rechtfertigen.“ Kommentar von Werner Rätz und Dagmar Paternoga vom Februar 2022 bei werner-raetz.de externer Link
  • Der Krampf mit der Pflicht: Kann eine Impfpflicht erfolgreich sein? Je genauer man es sich ansieht, desto weniger plausibel wirkt das Vorhaben 
    „… Wenn Impfungen schwere Erkrankungen unwahrscheinlicher machen, würde eine Impfpflicht dann nicht die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern helfen? So könnte man argumentieren. Wenn man der Überlastung nicht mit einer Veränderung des Gesundheitswesen entgegenwirken möchte. Tut man dies nicht und setzt stattdessen auf eine Impfpflicht, bürdet man die sozialen Folgekosten dieses gesellschaftlichen Missstands – einem Gesundheitssystem, das nicht mehr Gesundheit für alle, sondern Profite für Wenige im Blick hat – den Einzelnen auf. Willkommen im Neoliberalismus. Und die Rückkehr zum normalen Leben, zur Freiheit? Die hängt nicht an einer Impfpflicht, das kann man auch in aller Welt sehen.Das sollte man also nicht verknüpfen. Die Aufhebung der Maßnahmen ist eine politische Frage für sich, die es jetzt – angesichts milder Erkrankungen und der Zulassung neuer Medikamenten gegen Covid – zu diskutieren gälte. Doch sollte man nicht zuvor Impfgegnern und -skeptikern eine Lektion erteilen? Eine Impfpflicht ist kein Mittel zur Erziehung und die öffentliche Gesundheitspflege keine moralische Anstalt…“ Kommentar von Jakob Hayner vom 28.01.2022 im ND online externer Link
  • Karl Heinz Roth über die Verbindung von Pandemie-Schutzmaßnahmen und deren ausbleibende Realisierung aufgrund systembedingter Probleme 
    Im Interview von Matthias Becker am 26. Januar 2022 in Telepolis externer Link (da unter dem irreführenden Titel „Der große Lockdown war niemals alternativlos“) stellt Karl Heinz Roth die Kernpunkte seiner jüngsten Veröffentlichung „Blinde Passagiere: Die Corona-Krise und ihre Folgen“ (Verlag Antje Kunstmann externer Link) vor: „… Wegen der Deregulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung der vergangenen Jahrzehnte ist das System marode. Es bewältigt die alltäglichen Anforderungen gerade noch so, aber die Beschäftigten und Institutionen sind permanent an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Diese tiefgreifenden strukturellen Probleme wurden in der Pandemiedebatte völlig ausgeklammert. (…) Meine These lautet: Der Shutdown war gar nicht notwendig! Covid-19 ist keine Killerpandemie. Wenn ein Virus wie die Pocken sich ausbreitet, das 20 bis 25 Prozent aller Infizierten tötet, dann muss man ernsthaft nachdenken, wie schwer Grundrechte wiegen gegen den Untergang eines Viertels der Menschheit. Bitte nicht missverstehen, Covid-19 ist eine schwere Pandemie, die schwerste seit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920. Aber der Lockdown mit seinen unspezifischen Kontaktbeschränkungen war weder notwendig noch zielführend. (…) Der harte Lockdown entstand aus Panik und Hilflosigkeit. Die verantwortlichen Politiker mussten feststellten, dass die Gesundheitssysteme nicht vorbereitet waren und selbst elementarste Hygienevorräten fehlten. Von Seiten der Wissenschaft kam kaum Hilfestellung. (…) Bei den Maßnahmen handelte es sich zu einem Gutteil um Symbolpolitik beziehungsweise um konzeptlosen Aktionismus. Auf diese Art sollte energisches Handeln vorgespielt werden. Die Engpässe im Gesundheitswesen wurden verschleiert, damit eine Diskussion über die tieferliegenden Probleme gar nicht erst aufkommen konnte. (…) Statt der unspezifischen Kontaktbeschränkungen wären gezielte Präventionsmaßnahmen notwendig gewesen. Dazu zählen Massentests, um neue Infektionsherde einzuhegen, das genaue Informieren der Bevölkerung und vor allem der Schutz von chronisch kranken und alten Menschen, auch durch die Einrichtung von Spezialkliniken und geeigneten Richtlinien für die Heime. Das wäre effizient und zugleich maßvoll gewesen. Die Pandemie hätte sich zwar weiter ausgebreitet, aber die schweren Verläufe, Krankenhauseinweisungen und die Sterblichkeit wären von Anfang an deutlich zurückgegangen. Hunderttausende sind unnötig gestorben. (…) [Frage:] Warum wurde der dritte Weg nicht beschritten? Karl Heinz Roth: Er hätte den Bruch mit der bisherigen Gesundheitspolitik bedeutet. Dazu hätte die Politik einen erheblichen Teil des öffentlichen Budgets in das Gesundheitswesen umzuwälzen müssen. Der dritte Weg hätte beinhaltet, die Heime wieder unter kommunale Aufsicht zu bringen und die Krankenversorgung und Pflege aufzuwerten…“ Wir werden uns dem Buch noch genauer widmen! Siehe vorerst auch:

    • Pandemie und Versagen. Ein Gespräch mit Karl-Heinz Roth über die Corona-Politik
      Gestern Lockdown, heute Impfpflicht: Die öffentliche Auseinandersetzung um die staatliche Corona-Politik geht weiter – und das oft erbittert. Hier Impfgegnerschaft, Corona-Leugnung und Maskenverweigerung, dort Befürwortung der Maßnahmen oder sogar die Forderung nach ihrer Intensivierung. Ist in dieser Gemengelage eine demokratische Gesundheitspolitik noch denkbar und möglich? Der Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth hat gerade ein dickes Buch über den bisherigen Pandemieverlauf und verfehlte politische Antworten vorgelegt. Für diese Folge von GLOBAL TROUBLE haben wir uns mit ihm getroffen. Ein kritischer Blick auf fatale Shutdowns und die Pharmaindustrie, ZeroCovid und Giorgio Agamben – und ein Plädoyer für einen „dritten Weg“, in dem die Kritik an autoritärer Politik und das Eintreten für eine effektive Reaktion auf das Virus keine Gegensätze sind.“ Medico-Podcast vom 31. Januar 2022 externer Link
  • Wer hat Schuld an der Impfpflicht? – Impfgegner. Erst Impfgegner haben ihre „persönliche Entscheidung“ politisch gemacht
    Hey, liebe Impfgegner:innen, in Deutschland wäre übrigens gar keine Impfpflicht im Gespräch, wenn ihr nicht versucht hättet, mit eurer „ganz persönlichen, privaten Entscheidung“ Millionen andere Menschen zu überzeugen. Ihr selbst habt das Ganze erst politisch gemacht. Und mit Impfgegner:innen meine ich NICHT die Menschen, die sich einfach nur nicht impfen lassen wollen, weil sie davor Angst haben oder es wirklich aus medizinischen Gründen nicht können. Ich habe selbst Freunde, die aufgrund persönlicher Erfahrungen keine Impfung wollen und ich respektiere das. Ich meine die Menschen, die ganz aktiv versuchen, andere vom Impfen abzuhalten…“ Kommentar von Jan Hegenberg vom 25. Januar 2022 bei den Volksverpetzern externer Link
  • Gutachten: Vorstöße von Kassenärzten gegen Ungeimpfte rechtswidrig und kaum umsetzbar 
    „… Vorschläge der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in Berlin und Baden-Württemberg zur Sanktionierung von Patienten ohne eine in der EU zugelassene Corona-Schutzimpfung stünden nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags im Widerspruch zu dem gesetzlichen Versorgungsauftrag von Kassenärzten und wären in der Praxis rechtlich nicht umsetzbar. Die Parlamentsexperten hatten auf Anfrage aus der Linksfraktion einen Vorstoß der beiden Vorsitzenden der KV Baden-Württemberg bewertet, die den Mitgliedern des Verbandes Mitte November empfohlen hatten, nicht geimpfen Patienten nur noch eine Sprechstunde für zehn Minuten anzubieten und außerhalb dieser Zeit die reguläre Behandlung zu verweigern. Als nicht umsetzbar und rechtlich fragwürdig stuften die Bundestagsjuristen nun diesen und einen ähnlich gelagerten Vorstoß der KV Berlin ein. Diese hatte gefordert, nicht geimpfte Patienten, sollten sie wegen einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden, einen Teil der Kosten in Rechnung zu stellen. Dieser Vorschlag wurde bereits vom Kassenärztlichen Bundesverband zurückgewiesen. Kritisch äußerte sich auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), der auf die zwingende Wahrung des Solidarprinzips im Gesundheitssystem verwies: „Der Anspruch auf medizinische Leistungen ist unabhängig von der jeweiligen Beitragshöhe, sie richten sich alleine nach der medizinischen Notwendigkeit.“ (…) Diese Position bekräftigte der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko gegenüber Telepolis: „Die Vorstöße, die medizinische Versorgung Ungeimpfter einzuschränken, oder sie an den Kosten einer möglichen Behandlung zu beteiligen, legen die Axt an das Solidarprinzip des Gesundheitssystems.“ Damit würde die Büchse der Pandora geöffnet, der dann morgen auch die Aufkündigung des Solidarprinzips für Raucher, Übergewichtige, Skifahrer etc. stehen könnte. „Ich hoffe, diese Vorschläge sind jetzt vom Tisch“, so Hunko, der das Gutachten in Auftrag gegeben hatte…“ Beitrag von Harald Neuber vom 21. Januar 2022 bei Telepolis externer Link
  • Corona: Ausgangssperre als sinnlose Symbolpolitik. Linke Initiative stellt sich gegen die neue Regel in Potsdam und fordert wirksame Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten 
    „Auch in Potsdam gilt nun seit Mittwoch eine nächtliche Ausgangsbeschränkung für Ungeimpfte. (…) Für die Ausgangssperre gibt es eine Reihe von Ausnahmeregelungen. Nicht zu Hause bleiben müssen Ungeimpfte nach 22 Uhr beispielsweise, wenn sie Jäger sind und sich an Wildschweine heranpirschen sollen, um die Afrikanische Schweinepest zu bekämpfen. Die Teilnahme an angemeldeten Versammlungen und an nicht verbotenen Veranstaltungen ist ebenfalls zulässig. Auch bei Gefahr für Leib und Leben, bei einem Sterbefall in der Familie und zur Begleitung von schwer kranken Kindern dürfen Ungeimpfte das Haus verlassen – vor allem aber, wenn sie Nachtschicht haben. (…) Und hier zeigt sich nach Einschätzung des linken Bündnisses Patient*innen gegen die kapitalistische Leidkultur externer Link die Abstrusität einiger Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Das Bündnis hat sich gegründet, um gegen die sozial ungerechte Verteilung der Lasten der Coronakrise zu protestieren. Es will denen einen Stimme geben, die berechtigte Kritik an den Corona-Maßnahmen äußern wollen, ohne sich dabei Seite an Seite mit Neonazis auf der Straße wiederzufinden. Zuletzt organisierte das Bündnis Kundgebungen gegen die Corona-Mahnwachen der AfD vor dem Landtag. In einer Erklärung von Dienstagabend fordern die Patient*innen gegen die kapitalistische Leidkultur einen wirksamen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Kinder und wenden sich gegen »sinnlose und repressive Symbolpolitik«. Sie beziehen sich auf die Ausnahme von der Ausgangssperre für Beschäftigte, die zur Arbeitsstelle müssen. »In dieser Regelung wird die ganze Absurdität deutlich, die seit zwei Jahren die staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie prägt«, heißt es in der Erklärung. »Diese Maßnahmen haben offensichtlich nicht das Ziel, so schnell und so effektiv wie möglich die Pandemie zu beenden, das Leben möglichst vieler Menschen zu schützen und dabei negative soziale und psychische Folgen der Pandemiebekämpfung möglichst gut abzufedern.« Stattdessen stehe im Mittelpunkt der Grundsatz »The show must go on!« (Die Show muss weitergehen!). »Die kapitalistische Verwertung von Arbeitskraft soll ungehindert weitergehen, Produktion und Vertrieb ungestört bleiben. Deswegen wird die Durchseuchung von Kindern und Jugendlichen in Kauf genommen – damit die Eltern weiter arbeiten gehen können. Deswegen müssen Menschen auf dem Weg zur Arbeit und an ihren Arbeitsplätzen gegen die wichtigsten Schutzmaßnahmen verstoßen: Abstand halten und regelmäßig lüften.« Was an tatsächlicher Pandemiebekämpfung nicht stattfinde, werde kompensiert durch Gesten wie die Ausgangssperre…“ Artikel von Andreas Fritsche vom 20. Januar 2022 in neues Deutschland online externer Link – siehe Patient*innen gegen die kapitalistische Leidkultur auf Twitter externer Link
  • Schluss mit der unsinnigen Debatte: Ob Impfpflicht oder nicht polarisiert die Gesellschaft. Um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, wäre eine Impfpflicht ohnehin untauglich 
    „Es ist höchste Zeit, einen unsinnigen Streit zu beenden: Die Debatte über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht schadet der Bekämpfung der Coronapandemie. Sie polarisiert nur die Gesellschaft. Aus gutem Grund ist es den Befürworter:innen bislang nicht gelungen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der schlüssig und rechtssicher aufzeigt, wie mit den Besonderheiten, die Covid-19 von anderen Infektionskrankheiten unterscheidet, umgegangen werden kann. Denn anders als bei Pocken oder Masern gibt es bei der Corona-Impfung nur einen begrenzten Infektionsschutz, der zudem zeitlich überschaubar ist. Und nicht nur infizierte Ungeimpfte sind infektiös. Eine allgemeine Impfpflicht taugt nicht. Nein, man muss kein Verständnis für Impfverweiger:innen haben. Ihr Verhalten ist schlicht unvernünftig und verantwortungslos. Aber das war es auch schon vor der Bundestagswahl, als der jetzige Bundeskanzler und sein Gesundheitsminister ebenso wie die Ministerpräsident:innen jeglicher politischen Couleur noch unisono jene Impfpflicht, die sie jetzt fordern, definitiv ausgeschlossen haben. (…) In einem Gastbeitrag in der FAZ begründeten Markus Söder und Winfried Kretschmann Ende November ihren Gesinnungswandel damit, dass angesichts der hoch ansteckenden Delta-Variante die Impfquote in Deutschland zu niedrig sei, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. In Ländern wie Spanien oder Portugal mit ihren Impfquoten von 80 oder fast 90 Prozent sei sie hingegen „unter Kontrolle“. Ein Trugschluss: Inzwischen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Spanien und Portugal bei jeweils rund 1.700 – ein Rekordwert. (…) Das spricht keineswegs gegen die Impfung, sinkt damit doch das Risiko einer schweren Erkrankung deutlich. (…) Was für einen Sinn soll es dann aber noch machen, eine allgemeine Impfpflicht im Frühsommer einzuführen? Und das ist der früheste Zeitpunkt, zu dem sie kommen könnte.“ Kommentar von Pascal Beucker vom 8. Januar 2022 im der taz online externer Link – wir tendieren dazu, dem zuzustimmen, siehe dazu:

    • Kommentar von Armin Kammrad vom 18. Januar 2022
      “Eine Impflicht scheitert nicht nur an den vielen offenen und umstrittenen epidemiologischen Fragestellungen (z.B. kann die Impfung in einem Land bei einer globalen Pandemie epidemiologisch überhaupt erfolgreich sein?) Sondern sie beinhaltet auch eine Systemfrage, also das was berufsmäßig Epidemiologen und Virologen in ihrem Pro und Contra in der Regel (bequemerweise) aussparen. So wird “Impfen als Königsweg” nur deshalb empfohlen, weil alles möglichst weiterlaufen soll – obwohl das gar nicht möglich ist, wie die starke Konzentration von Schutzmaßnahmen auf den Freizeitbereich zeigen. Und bereits hier stellt sich die Systemfrage: Muss denn wirklich alles so weiterlaufen wie bisher? Warum wird die viel beschworene Solidarität nicht auch auf diejenigen ausgedehnt, die durchaus eine kurzen, aber harten Lockdown wirtschaftlich vertragen – und auch finanzieren könnten? Dass epidemiologische Grundprinzip “Je weniger Kontakte, umso mehr Schutz vor Ansteckung” gilt auch im auf Profit orientierten neoliberalen Kapitalismus. Die paar Impfgegner sind hier weder das Problem, noch ist eine gesetzliche Impfpflicht die Lösung.
      Es stellt sich viel mehr die naheliegende Frage: Was können die AG tun, damit auch Gegner einer Impfung (zu einem Zeitpunkt, wo es nicht einmal einen sicheren Impfstoff gegen die Omikron-Variante gibt!) zumindest ihren monatlichen Salär weiter erhalten? Die viel beschworene Solidarität besteht nicht nur nicht. An deren Stelle werden leider immer mehr – und auch völlig sachfremd – diejenigen zu den einzig Unsolidarischen gemacht, die eine Impfung ablehnen. Doch die Ungeimpften sind nicht die Schuldigen für eine Überlastung der Krankenhäuser sowie des Pflegepersonals – und schon gar nicht verantwortlich dafür, dass der reibungslose Systemablauf nicht zuletzt deshalb gewährleistet sein soll, damit die Politik (inkl. des neuen Gesundheitsministers) keine Umverteilung z.B. von wirtschaftlichen Profiteuren der Krise zu den Verlieren vornehmen muss. Tatsächlich gibt es genug auf Seiten der Gewinner, dass kein Nichtgeimpfter von Kündigung bedroht sein müsste. Und was die rechtliche Seite betrifft, stellt sich sowie so die Frage: Warum sollte nun plötzlich aufgrund der Pandemie im Arbeitsrecht nicht mehr gelten, dass der-/diejenige, der/die ihre Arbeitskraft weiter anbietet, nun plötzlich abgemahnt oder gar entlassen werden kann, nur weil eine Impfung abgelehnt wird? Wie die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende am Klinikum Ludwigshafen, Gordana Tatarovic, völlig zu recht betont (vgl. oben), kann sich eine Vertretung der Arbeitnehmerinteressen niemals guten Gewissens gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten nur deshalb stellen, weil sie eine Impfung ablehnen. Hier liegt nicht nur der Ver.di-Vorstand richtig mit seiner lückenlosen Verteidigung der Interessen der extrem ausgebeuteten Pflegekräfte. Das jedoch nicht nur, weil eine Impflicht den Personalbestand reduzieren – und damit ebenso den Systemablauf gefährden – kann. Bereits nach Art. 12 Abs. 2 Grundgesetz sind solche einseitigen Eingriffe in die Berufs- und Arbeitsvertragsfreiheit verfassungsrechtlich sehr bedenklich, fehlt es hier doch an der Allgemeinheit der Dienstpflicht, wenn die Gruppe der Nichtgeimpften völlig anders behandelt wird, als die der Geimpften. Natürlich trifft diese fragwürdige und arbeitsvertraglich nicht vereinbarte Impfpflicht (übrigens auch keine vertragliche Nebenpflicht) nicht nur die wirtschaftlichen Profiteure im Gesundheitswesen, sondern auch die Kleinen, die existenziell auf Beschäftigte angewiesen sind (z.B. Pflegedienste). Nur steht auch hier der Staat in der Regulierungspflicht. Es muss sich um den Ausgleich von Defiziten kümmern – und nicht mit Schuldzuweisungen nach unten von den oberen Profiteuren ablenken. Er kann sich nicht darauf beschränken, dass das System möglichst reibungslos und kostengünstig für den Staat und den privaten Profiteuren weiterläuft. Die staatliche Regulierung muss auch die Verteilung der Einkommen und Vermögen umfassen. Von Art. 2 Grundgesetz ist Absatz 2 mit seinem “Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” in der Corona-Pandemie zu eine Art übergeordnetes Grundrecht geworden. Doch was ist mit Absatz 1 Art. 2 GG, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die ja nur gewährleistet wird, soweit sie “nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt”. Warum wird eine eigentumsrechtliche Sozialverpflichtung nach Art. 14 Abs. 2 GG als pandemiebedingte Verletzung der Rechte anderer völlig ausgeschlossenen? Die fehlende Solidarität praktizieren nicht Impfgegner, sondern Gegner eines Sozialstaates, die nicht bereit sind Gesundheitsschutz durch Profitverzicht zu praktizieren. Können Impfgegner eine Zeitlang problemlos zuhause bleiben, weil sie weiter ihren Lohn erhalten, würden sie sogar eine entscheidenden Beitrag zum epidemiologischen Gesundheitsschutz liefern. Wo das nicht geht, weil die Tätigkeit von großer Bedeutung für die Allgemeinheit ist, muss man Wege finden, wie es ohne Entlassung geht – wozu natürlich und auch die epidemiologische Reflexion gehört (z.B. die Frage, reichen nicht simple, aber regelmäßige Test aus?). Vor allem muss man/frau solche unverzichtbare Berufe finanziell und von der Belastung her aufwerten. Mariana Mazzucato hat sich in ihrer sehr lesenswerten Publikation “Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern” (Campus 2018) damit beschäftigt und gezeigt: Selbst nach kapitalistischen Wertlogik gibt es grundsätzliche keine Solidarität, sobald es um die Wertverteilung geht. Also, wenn Solidarität, dann mit den richtigen Leuten, was den Abschied von der verqueren Vorstellung einschließt, Impfgegner wären grundsätzlich unsolidarisch. Wer konsequent für das Impfen ist, sollte sich auch einmal die Frage stellen, wie denn ein grundsätzlich unsolidarisches Wirtschaftssystem überhaupt eine solidarische Einstellung vermitteln soll…” Wir danken! Siehe zum Hintergrund unser Dossier: Coronavirus und Arbeitsrecht: Was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt wissen sollten – und brauchen
  • [Bedenkenswert] Impfen ist keine Privatsache mehr 
    Deutschland bereitet sich auf die fünfte Corona-Welle vor. In Großbritannien und den USA ist die Omikron-Variante innerhalb kürzester Zeit zur vorherrschenden geworden, sie umgeht den Schutz, den zweifach Geimpfte und Genesene vor Ansteckung mit der Delta-Variante noch haben und hat das Potenzial, das öffentliche und wirtschaftliche Leben in kürzester Zeit lahmzulegen, weil sie viel, viel ansteckender ist als alle vorherigen Virusvarianten. Hier rächt sich, dass die Regierungen der reichen Industrieländer Impfstoffe bevorzugt für die eigene Bevölkerung gesichert und den globalen Süden im Kampf gegen die Pandemie im Stich gelassen haben. Die Aufhebung der Patente für Arzneimittel, Medizinprodukte und Impfstoffe wäre ein Gamechanger gewesen und könnte es immer noch sein – aber vor allem die EU-Staaten stehen hier in der Welthandelsorganisation auf der Bremse.
    Die Bewältigung der Krise erfordert eine Kultur der Solidarität – international wie auch innerhalb unserer Gesellschaft. Eine Chance für mehr Solidarität bietet die Zulassung des ersten proteinbasierten Impfstoffes in der EU. Dieser könnte für diejenigen, die sich von der Propaganda der „Querdenker“ gegen die bisher zugelassenen Vakzine haben verunsichern lassen, einen gesichtswahrenden Weg zur Impfung bahnen. (…)
    Dieser psychischen und physischen Belastung setzen wir als Gesellschaft die Gesundheitsfachkräfte in den Kliniken nun seit fast zwei Jahren aus, obwohl wir mit den sehr sicheren Impfstoffen eine Möglichkeit hätten sie deutlich zu reduzieren. Viele Pflegekräfte, Klinikärzte und Klinikärztinnen sind inzwischen nicht mehr nur am Limit, sondern darüber hinaus. Zu beklagen, dass wir in unserem durchökonomisierten Gesundheitswesen schon vorher zu wenig Personal hatten, ist und bleibt zwar richtig, bietet aber in der akuten Situation keine Lösung.
    Als Gesellschaft müssen wir eine Entscheidung treffen. Was wiegt schwerer: Die Freiheitseinschränkungen für alle durch immer wieder notwendige Lockdowns und Kontaktbeschränkungen sowie das Leid auf den Intensivstationen oder die Freiheit einer Minderheit, sich gegen eine Impfung mit einem zugelassenen, milliardenfach erprobten und sehr sicheren Impfstoff zu entscheiden? Impfen ist jetzt keine Privatsache mehr, sondern ein zentrales Instrument zur Sicherung unserer aller Freiheit und Sicherheit...“ Bedenkenswerter Beitrag von Kathrin Vogler vom 22. Dezember 2021 bei Freiheitsliebe externer Link
  • Wie die Debatte um eine Impfpflicht nicht geführt werden sollte: Als bequeme Alternative oder als Frustableiter gegen Sündenböcke 
    Aus Zeitmangel hat es statt einem Artikel zum länger überlegten Thema nur einen Tweet des LabourNet-Accounts am 12. Dezember externer Link: „Ich frage mich schon länger, ob es bewußtes „spalte und herrsche“ der Politik war, zu behaupten, junge Menschen müßten sich nur ihren Großeltern zuliebe vor Corona schützen und Geimpfte seien sicher und hätten „ihre Freiheit“ verdient… Nun auch der (linke!) Hass auf Ungeimpfte?“ Vorangegangen war die Lektüre nachfolgender Beiträge – die Meinungsbildung ist noch keinesfalls abgeschlossen:

    • Corona-Debatte: Kassenärztliche Vereinigung Berlin in der Kritik
      Dutzende Praktizierende des Gesundheitswesens wenden sich gegen Mitteilung des Verbandes. Warnung vor zunehmender Unkultur in Deutschland. „Ungeimpfte Coronakranke an Behandlungskosten beteiligen“, lautete die Losung einer Pressemitteilung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin vom 23. November externer Link. In der Mitteilung nennt der Berufsverband sein Anliegen „Kollateralschäden von der Gesellschaft abzuwenden“ und fordert neben einer allgemeinen Impfpflicht einen Lockdown für alle Ungeimpften. Sofern Ungeimpfte mit einer Corona-Infektion in eine Klinik eingeliefert bzw. auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, soll es ihnen ans Geld gehen, so die Forderung der KV Berlin. Dabei könne die Kostenbeteiligung entweder über eine Eigenbeteiligung oder über einen Aufschlag auf den Kassenbeitrag erfolgen. (…) Klingt auf den ersten Blick so, als hätte jemand nachgedacht. Das aber fanden 56 Vertragsärzte und -ärztinnen sowie Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen überhaupt nicht. Sie sehen in der KV-Pressemitteilung außer gefährlichem Populismus, Scharfmacherei und Intoleranz so etwas wie eine Finte, die von den Problemen hinter der gängigen Impfwerbung ablenkt. Ihrem Unmut über den Vorstand der Berliner KV machen die Kollegen und Kolleginnen in einem offenen Brief Luft – und fordern die Rücknahme KV-Aussagen. Der offene Brief externer Link führt Argumente an, die zugleich Knackpunkte der gesellschaftlichen Debatte beleuchten. Die Unterzeichner:innen kritisieren, dass die KV Berlin mit ihrer Aussage Schuldzuweisungen und Drohungen aus der Politik gegen Ungeimpfte unterstütze. Damit sollte, so die Gegenrede, offensichtlich von dem eigentlichen Skandal des auch in der pandemischen Notlage fortgesetzten Bettenabbaus, der zunehmenden Arbeitsbelastung und des „Ausbrennens“ des Pflegepersonals und der stationär arbeitenden ärztlichen Mitarbeiter:innen abgelenkt werden. (…) In dem Fall beklagen die Kritiker:innen zu Recht den Verfall des öffentlichen Diskurses. Zugleich, so ist hinzuzufügen, werden hier Techniken sichtbar, einen Konsens der Alternativlosigkeit zu erzwingen. Der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld (emerit.) beklagt die Alternativlosigkeit der „neoliberalen Phantom-Mitte“, wie er das Zentrum der Konsensgesellschaft nennt. Mit dessen Entstehung, so Mausfeld, gehe der Rechtspopulismus Hand in Hand. (…) Vor nicht allzu langer Zeit machte das Verhalten der KV schon einmal von sich reden. Zwei KV-Vorsitzende der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) – beides praktizierende Kassenärzte – hatten „Impfverweigerung als frech und gesellschaftlich inakzeptabel“ bezeichnet. Telepolis berichtete über den Vorgang („Ungeimpfte bald ohne Arzt?“). Später wurden die Vorschläge relativiert und das Rundschreiben offline genommen externer Link. De facto lief der ursprüngliche Vorschlag der beiden KV-Ärzte darauf hinaus, Patienten, die sich einer Corona-Impfung verweigerten, von der Behandlung auszuschließen. Das alles sollte nachdenklich machen. Und sollte helfen, die Debatte nicht aus dem Ruder laufen zu lassen…“ Beitrag von Arno Kleinebeckel vom 11. Dezember 2021 in Telepolis externer Link, siehe dazu auch:

      • „… Allen Impfzögerern oder auch Menschen, die sich dagegen entschieden haben, pauschal unehrenhafte Motive und grundlose „Verweigerung“ zu unterstellen, betrachte ich als übergriffig. Psychotherapeutisch gesehen sind hier „Projektionen“ am Werke: „Die erlauben sich, was ich mir nicht zugestehe. Ich folge Empfehlungen und Anweisungen, die von Wissenschaft und Politik gegeben werden, schränke mich ein, bin ‚vernünftig‘ und die schlagen alles in den Wind.“ Das ist eine klassische „Sündenbock-Projektion“. Dass solche Projektionen nicht toleranz- und gesprächsfördernd sind, ist klar. Sie bewirken im Gegenteil Gegenprojektionen. Bei Maßnahmen-Befolgern beobachte ich auch Widersprüchlichkeiten. Wenn man davon ausgeht, dass AHA-Regeln und zweifache Impfung vollständig schützen und auch die Ansteckung anderer verhindern, täuscht man sich. Das ist bekannt und braucht nicht weiter erläutert werden. Um vollständig geschützt zu sein, müsste man sich zu Hause einschließen und dürfte gar nicht mehr unter Menschen gehen. Ich erlebe aber, dass Geimpfte, die sich ausreichend geschützt glauben, Restaurants, Konzerte, Weihnachtsmärkte usw. besuchen, da ohne Masken und Abstände beieinander stehen und sich unterhalten. Das ist verständlich, denn irgendwann hat auch der Überzeugte all die Restriktionen satt und möchte seinen Bedürfnissen nachgehen. Ich gestehe, dass auch ich nicht immer und überall sämtliche Regeln befolgt habe, obwohl ich sie grundsätzlich für sinnvoll halte. Also ganz so folgsam und vernünftig sind die Befolger doch nicht immer. Auch sie tragen durch ihre Inkonsequenz zum Infektionsgeschehen bei. Da ist ein Stück weit Realitätsblindheit am Werke. Selbstbeobachtung und -erkenntnis wären hier nützlich und würden zu mehr Vorsicht oder bewusster Risikoannahme verhelfen. Jedenfalls sei allzu Überzeugten geraten zu überprüfen, ob sie von Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit bestimmt werden. Eine Haltung dieser Art – genauso wie ihre eventuelle Wut über „Uneinsichtige“ – überzeugt niemanden und führt zu Verhärtungen auf der anderen Seite…“ Aus dem Beitrag von Wolfram Janzen vom 11. Dezember 2021 in Telepolis externer Link („Psychogramm der Corona-Gesellschaft“)
    • Impfpflicht: Es ist noch nicht soweit
      „Die deutsche Impfkampagne war halbherzig, die Impfquote ist entsprechend niedrig. Nun zieht die Bundesregierung eine Impfpflicht in Erwägung. Doch es gibt bessere Alternativen, um die Impflücke zu schließen. Um eines vorab klarzustellen: Jeder und jede sollte sich gegen das Coronavirus impfen lassen, wenn im Einzelfall keine medizinischen Gründe dagegen sprechen. (…) Doch sie bleibt ein schwerer Grundrechtseingriff, der nur als letztes Mittel bleiben darf, wenn alle Alternativen ausgeschöpft wurden. Dies ist jedoch nicht der Fall. (…) Eigentlich ist es selbstverständlich, doch es sei an dieser Stelle nochmals wiederholt: Die freie Entscheidung über medizinische Behandlungen und das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Patientin sind besonders geschützte Bereiche der Privatsphäre und persönlichen Autonomie. Aus gutem Grund gibt es deshalb Regelungen wie die ärztliche Schweigepflicht, die mit einem Zeugnisverweigerungsrecht verbunden ist, also der Berechtigung, staatlichen Institutionen gegenüber die Auskunft zu verweigern. (…) Darüber hinaus gilt aber das Prinzip, dass Grundrechtseinschränkungen nur dann zulässig sind, wenn alle praktikablen Alternativen ausgeschöpft wurden. Doch Bundes- und Landesregierungen können – von positiven Ausnahmen abgesehen – nicht behaupten, ihren Pflichten nachgekommen zu sein. Eine wirklich groß angelegte Werbekampagne für das Impfen, mit entsprechender gesellschaftlicher Breitenwirkung, gab es nie. Die tatsächlich unternommenen Anstrengungen, Aufklärung über das Thema in Gesellschaftsgruppen zu tragen, die schwerer zu erreichen sind, waren so halbherzig, dass sie kaum Wirkung zeigen konnten. So frustrierend es für viele Betroffene von Corona, aber auch für das Gesundheitspersonal und dessen Angehörige sein mag: Der Staat hat die Pflicht, umfangreich über das Impfen zu informieren und es entsprechend zu bewerben, bevor er zu weiteren autoritäreren Maßnahmen greift. (…) Berufsbezogene Impfpflichten sind von einer allgemeinen Pflicht gesondert zu betrachten, viele der genannten Probleme stellen sich hier nicht. Dennoch sind sie zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls mindestens fragwürdig. Menschen in Pflegeberufen erhielten zu Beginn der Pandemie Applaus, nun erfahren sie staatliches Misstrauen und Maßregelung. Eine echte Verbesserung ihres Einkommens und ihrer Arbeitsbedingungen ist nicht in Sicht – Frust, Verbitterung und das Gefühl, die Pandemie solle allein auf ihrem Rücken ausgetragen werden, sind vorprogrammiert und berechtigt. (…) Vor allem darf eine Impfpflicht im Gesundheitssektor nicht ohne die Unterstützung von Gewerkschaften und Berufsverbänden eingeführt werden, welche sie bisher mehrheitlich ablehnen. (…) Eine Impfpflicht, ob allgemein, im Schulbetrieb oder für bestimmte Berufsgruppen kann verhältnismäßig sein, wenn alle alternativen Wege beschritten wurden. In Deutschland ist das bislang noch nicht geschehen.“ Artikel von Alexander Brentler vom 9. Dezember 2021 bei Jacobin.de externer Link. Und das Neuste:
    • [Arbeitgeberverband Pflege] Arbeitgeber wollen Pflegebonus nur an Geimpfte auszahlen
      Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) fordert, den erneut geplanten Pflegebonus nur an geimpftes Personal auszuzahlen. Geschäftsführerin Isabell Halletz sagte der «Rheinischen Post» (Samstag) mit Blick auf Corona: «Wer sich nicht impfen lassen will und damit die Pflegebedürftigen in den Einrichtungen gefährdet, der kann dafür keinen Bonus kriegen.»…“ dpa-Meldung vom 11.12.2021 bei krankenkassen.de externer Link
  • Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse – Urteil und Kommentar 
    „… Wer sich nach all den ablehnenden Entscheidungen im Eilverfahren, nun präzise höchstrichterliche Grundrechtswertungen erwartete, kann nur enttäuscht sein. (…) Bei dem Versuch eines aussagekräftigen Kommentars, tue ich mich deshalb auch schwer. Knapp zusammengefasst lässt sich aber sagen, dass nichts wirklich in der Begründung überzeugt und auch nicht von großer Wichtigkeit ist. (…) Wenn das höchste deutsche Gericht es nicht einmal im Falle dieser Pandemie schafft, den gesetzgeberischen Eingriff in Grundrechte wenigsten stellenweise kritisch zu sehen, wie ist es dann mit anderen möglichen „äußeren Gefahrenlagen“, wie z.B. bei Klimakatastrophen? Wird man/frau regierungstreu auch in solchen Fällen jede Menge vage und verquaste Verhältnismäßigkeiten konstruieren? Wichtig: Rechtlich betrachtet, geht der Erste Senat mit seinem Versuch einer Legalisierung von massiven Grundrechtseingriffen bei „äußeren Gefahrenlagen“ deutlich über die aktuell geltende Notstandsgesetzgebung hinaus. Und das ist der wirklich kritische und beängstigende Kern in dieser judikativen Unterwürfigkeit unter einer Corona-Bundespolitik, die nun wirklich nicht als zukunftsweisend betrachtet werden kann. Und das sei zum Schluss noch wenigsten kurz angemerkt: Kritisch zu betrachten ist die Haltung des Ersten Senats nicht nur allgemein bezüglich Grundrechten, sondern auch was einen angemessenen Gesundheitsschutz betrifft. (…) Bei Harbarths Lieblingsthema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ sollte niemand vom Ersten Senat also zu viel verfassungsrechtliche Sicherheit erwarten.“ Kommentar von Armin Kammrad vom 2. Dezember 2021  – wir danken!
  • Von Ambivalenz, Zweifel und Fanatismus. Über das aufklärerische Konzept der Skepsis in Zeiten der Pandemie und das reflexartige Hinterfragen von allem, was „von oben“ kommt 
    Der Zweifel steht bei mir als Kardinaltugend von Aufklärung und Demokratie hoch im Kurs. „Es ist klug und weise, an allem zu zweifeln“, propagierte Voltaire. Ohne den Zweifel wäre es nie gelungen, die Vorherrschaft des Glaubens über das Denken zu brechen und neue Horizonte zu öffnen. Der Aufkleber in meinem Rücken war frisch, stand also vermutlich im Kontext der Turbulenzen, für die sich der Begriff „Corona-Krise“ eingebürgert hat. Zweifel an der Triftigkeit der von der Regierung ergriffenen Maßnehmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, begleiteten diese Maßnahmen von Anfang an. Und dagegen ist so lange nichts zu sagen, wie die Kritik sich im Bezugsrahmen der Vernunft bewegt und für vernünftige Argumente zugänglich bleibt. Zweifel im Sinne der Aufklärung ist mit kritischer Urteilskraft verschwistert, was so viel heißt, dass der Zweifel auch auf sich selbst angewandt werden muss. (…) Man sollte also in einem demokratischen Gemeinwesen der Führung nicht vertrauen, und schon gar nicht blind, sondern all ihre Handlungen und Entscheidungen auf ihre Vernünftigkeit überprüfen. Man sollte in einer wahrhaften Demokratie auch lernen, wie man den Gehorsam verweigert, wenn sich Entwicklungen anbahnen, die auf eine neuerliche Barbarei hinauslaufen. Die Möglichkeit einer Faschisierung wohnt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach wie vor inne. Die Morde von Halle, Kassel und Hanau haben uns diese Gefahr wieder einmal nachdrücklich vor Augen geführt. Auch in scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen überleben Mechanismen, die von einem fanatischen Demagogen in einer Zeit der Krisen und Umbrüche geweckt werden können, so dass ein Land nach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen ist. Die von der Bundesregierung gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen, die auch massive Eingriffe in die Grundrechte einschließen, sind zeitlich begrenzt und an den pandemischen Ausnahmezustand gebunden. Wir müssen allerdings aufpassen, dass sie nicht nach dem Ende der Pandemie beibehalten und Teil einer neuen Normalität werden, von der manche Politiker schon länger träumen. Das Regieren per Notverordnung und Dekret und am Parlament vorbei könnte Schule machen. Wenn Grundrechtseinschränkungen sich verstetigen sollten, ist Widerstand geboten. (…) Beim Versuch, soziale Bewegungen zu verstehen, kommt Psychologie immer dann ins Spiel, wenn es irrational zugeht und geraunt wird: „Wir wissen ja, wer dahintersteckt!“ Um zu verstehen, warum Arbeiter sich gegen miese Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen und für höhere Löhne und Gerechtigkeit kämpfen, braucht man kein keine tiefgreifende Psychologie. Das ergibt sich aus ihrer sozialen Lage, die sich ohne irrationale Brechungen als Klassenbewusstsein in ihre Köpfe umsetzt. Wenn Arbeiter hingegen Leuten folgen, die ihre Rechte mit Füßen treten und ihren Zorn gegen Außenseiter und Minderheiten lenken wollen, dann benötigt man Psychologie, um das begreifen zu können. Max Horkheimer schrieb in seinem bahnbrechenden Aufsatz Geschichte und Psychologie: Dass Menschen überholte gesellschaftliche Bedingungen am Leben erhalten, statt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, „weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist. Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, umso weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen. Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken.“ Die in der Folge der Corona-Ereignisse und der Impfkampagne um sich greifende Radikalisierung scheint mir so ein Fall zu sein, der nach einer psychologischen Deutung verlangt. (…) Natürlich gibt es auch rationale Gründe, an der Impfung zu zweifeln, aber das Gros der ins Feld geführten Begründungen erfüllen das Horkheimer‘sche Kriterium des Handelns gegen die eigenen, wohlverstandenen Interessen und die der Allgemeinheit. (…) So ist die Frage: Impfen oder Nicht-Impfen eben keine Privatsache, sondern besitzt eine gesellschaftliche Dimension. Moral kommt ins Spiel, wenn es um die Beziehung zu den anderen geht. Ein Handeln wird nur dann moralisch vertretbar genannt werden können, wenn es seine Auswirkungen auf die anderen mit einbezieht. Freiheit ist nicht die Freiheit des Fuchses im Hühnerstall. Das ist der Freiheitsbegriff der FDP und der Marktradikalen, der dem Sozialdarwinismus Tür und Tor öffnet. Wir dagegen sollten dabei bleiben: Meine Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit der anderen. Sie endet da, wo sie die anderer verletzt oder beeinträchtigt. Meine Entscheidung, mich nicht impfen zu lassen, gefährdet nicht nur meine eigene Gesundheit, was hinnehmbar wäre, sondern auch Gesundheit und Leben anderer. Das mitzudenken nannte man früher einmal Solidarität. (…) Fanatismus entsteht, wenn unsere Selbstwertregulation es nicht zulässt, Ambivalenzen zu tolerieren, sondern auf Spaltungen angewiesen ist. Das geschieht zur Zeit massenhaft. Sogar alte Freundschaften gehen darüber in die Brüche. (…) Hass und Feindseligkeit breiten sich aus, wenn wir Teilpersonen externalisieren und dann im anderen bekämpfen. Die Exkommunikation des Zweifels ist die Basis des Fanatismus. Man will es eindeutig haben, wo Mehrdeutigkeit existiert und ausgehalten werden müsste…“ Artikel von Götz Eisenberg vom 14. November 2021 in Telepolis externer Link
  • Jugendliche in der Pandemie: „Irgendwann knallt es“ 
    Noch immer ungeimpft und eingeschränkt – die Unzufriedenheit junger Menschen in der Pandemie wächst. Viele fühlten sich um die beste Zeit ihres Lebens gebracht, sagt Jugendforscher Schnetzer im Interview mit tagesschau.de. tagesschau.de: Hamburg, Berlin, Karlsruhe – in den vergangenen Wochen haben sich deutschlandweit immer wieder Tausende junge Menschen in den Parks und Grünanlagen zum Feiern getroffen – oftmals, ohne dabei die Corona-Regeln einzuhalten. Haben Sie dafür Verständnis? Simon Schnetzer: Ja, dafür habe ich großes Verständnis, weil den jungen Menschen sämtliche Rückzugsräume genommen wurden, in denen sie sonst sozial mit anderen zusammenkommen. Und es geht hier nicht nur um Orte zum Feiern. Es sind ja auch die Schulen oder Universitäten, also all die Orte, an denen sie sonst mit anderen Menschen zusammenkommen, arbeiten, einen Kaffee trinken oder flirten. Und nun stellt sich die Frage, wo diese jungen Menschen hinkönnen. Es ist ja kein Luxus, andere Menschen zu treffen, sondern ein Grundbedürfnis. Für dieses Bedürfnis haben Politik, Kommunen und Gesellschaft keine Ersatzräume geschaffen. Und wenn jetzt die Parks die letzten verbleibenden Räume für junge Menschen sind, habe ich vollstes Verständnis dafür, dass sie sich dort treffen. (…) Es muss sich doch jeder nur mal selbst die Frage stellen, was man gemacht hätte, wenn man mit 16 oder 18 Jahren für mehr als ein Jahr eingeschränkt worden wäre. Die meisten wären wohl auf die Barrikaden gegangen. Und genau das machen die Jugendlichen derzeit – allerdings in einer noch sehr sanften Form – und die Älteren wundern sich, weil sie sich nicht mehr in die Lage der jungen Menschen hineinversetzen können. Schlicht auch deshalb, weil die meisten von ihnen schon geimpft sind und gerne vergessen, dass für andere noch harte Einschränkungen gelten. (…) Grundsätzlich richtet sich ihr Ärger gegen die Politik, weil sie die Interessen und Bedürfnisse der jungen Menschen vernachlässigt. Die Politik hat sehr viel Vertrauen dadurch verspielt, andere Interessen konsequent höher zu stellen, anstatt auch einmal den Jungen zuzuhören und sie zu berücksichtigen. (…)Die jungen Menschen haben das Gefühl, dass sie der Politik egal sind. Sie haben sich jetzt mehr als eineinhalb Jahre zusammengerissen, waren solidarisch mit den Älteren und den Risikogruppen, aber keiner hat einmal gefragt, was man denn für sie tun könnte. (…) Eine Generation, die die Erfahrung gemacht hat, dass man etwas bewegen kann, wenn man auf die Straße geht, wird früher oder später aufbegehren. Es fehlt gerade nur noch der gewisse Funken, der diese Stimmung entfacht. Diese Eskalationen der vergangenen Wochen in den Parks könnten dieser Funken sein. Und wenn die Politik jetzt nicht in einen Dialog mit den Jugendlichen geht, um eine gemeinsame Lösung zu finden, dann werden sich die jungen Menschen das nicht länger bieten lassen. (…) die jungen Menschen sind nicht in die Parks gezogen, um Randale zu machen, sondern sie sind in die Parks gegangen, um ihre Freiheiten wiederzuerlangen, weil sie gemerkt haben, dass es die Politik noch immer nicht verstanden hat. Und statt mit ihnen zu sprechen, schickt die Politik die Polizei und nimmt ihnen den letzten Rückzugsort. Und in dieser angespannten Lage könnte die Stimmung bald kippen und auch in Gewalt umschlagen…“ Interview von Christian Frahm vom 13.07.2021 bei tagesschau.de externer Link
  • [Berlin] Feiern im Park: Keine Party ist illegal! 
    Wer darf mit wie vielen anderen draußen Bier trinken? Die vielen Verordnungen angesichts Corona verwirren sogar den Innensenator. Die taz klärt auf. Auch an diesem Wochenende werden sich in Parks und auf Freiflächen der Stadt wieder – nicht nur – junge Menschen treffen, um zu plaudern, zu trinken, Musik zu hören, zu tanzen. Bis die Polizei kommt und dem Spaß ein Ende macht. Dann wird wieder die Rede sein von illegalen ­Partys. Dabei weiß jede/r: Keine Party ist illegal, höchstens die Situation, in der sie stattfindet, wie es in Abwandlung einer bekannten Weisheit heißt. Doch was ist nun erlaubt und was nicht? Durch die Auflagen infolge der Pandemie ist das noch komplizierter als sonst zu beantworten. Zumal ab Samstag neue Coronaregeln gelten. (…) Wie lange dauert es, bis die Polizei aufkreuzt? Wenn der Anruf um 17 Uhr eingeht, wird die Polizei hoffentlich Dringenderes zu tun haben, als der Beschwerde nachzugehen. Aber je später, umso wahrscheinlicher, dass die Uniformierten im Park aufkreuzen, insbesondere zur Nachtzeit. Wenn wirklich eine Lärmbelästigung vorliegt, werden sie schleunigst dafür sorgen, dass Ruhe einkehrt. Wie gehen die Einsatzkräfte vor? Das ist wie immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit, man könnte auch sagen, es hängt von der Laune und Tagesform der Einsatzkräfte ab. Der Grundsatz ist laut Polizei­pressestelle, die Feiernden zunächst anzusprechen, auch mittels Lautsprecherdurchsagen, und sie zum Verlassen der Grünanlagen aufzufordern. In den meisten Fällen werde dem auch Folge geleistet. Andernfalls würden aber auch Platzverweise erteilt und Ordnungswidrigkeitenanzeigen geschrieben. Bei Fortdauer der Party maximiert sich das Risiko, dass die Musikanlage beschlagnahmt wird. Schlauer wäre, sofort zu ver­schwinden und woanders weiterzufeiern. Und wie ist das mit dem Alkohol – der war doch mal verboten während Corona? Achtung, jetzt wird es kompliziert (am besten nüchtern lesen). Wörtlich heißt es in Paragraf 10 der geltenden Sars-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung: Der Verzehr von alkoholischen Getränken in Grünanlagen „ist im Sinne des Grünanlagengesetzes“ untersagt. Ein Blick ins Grünanlagengesetz indes zeigt: Von einem Alkoholverbot in Parks steht da nichts. Selbst Innensenator Andreas Geisel (SPD) kennt offenbar die Berliner Gesetzeslage nicht. Im Juni hatte er das Alkoholverbot auf einer Pressekonferenz mit den Worten begründet: Alkohol konsumieren in Parks, „das konnte man noch nie, das hat nichts mit Corona zu tun“. Auch Geisels Pressestelle konnte das Zustandekommen dieses Irrtums am Donnerstag nicht aufklären. (…) Informierter zeigen sich immerhin die Bezirke: „Es gibt kein Alkoholverbot im Grünflächengesetz.“ Und auch die Polizei kennt sich aus. Wenn die Feiernden von den Einsatzkräften per Lautsprecher auf das Alkoholverbot in den Grünanlagen hingewiesen würden, geschehe das allein auf Grundlage der Infektionsschutzverordnung, so die Pressespesprecherin…“ Artikel von Bert Schulz, Plutonia Plarre und Jonas Wahmkow vom 9.7.2021 in der taz online externer Link
  • [„Billigalkoholverbot“] Feiern zum Nulltarif: Ein Lob des Cornerns in Zeiten der Pandemie / Für eine Stadt für alle
    • Feiern zum Nulltarif: Ein Lob des Cornerns in Zeiten der Pandemie
      „Wenn ein soziales Phänomen von einer ganzen Mannschaft an Protest- und Zukunftsforscher*innen ausgelotet wird, kann es nur langweilig oder politisch bedenklich werden. So ist es dem Cornern ergangen. Doch was ist das eigentlich? Meist junge Leute treffen sich in lauen Sommernächten zum Draußen-Trinken, auf eisigen Bordsteinkanten wird mit warmem Bier gelungert, frei nach dem Motto: kalter Hintern, aber gute Laune. Als während des G20-Gipfels in Hamburg zum Massencornern aufgerufen wurde, ließen die Reportagen in Zeit, taz und Welt nicht lange auf sich warten. (…) In jenem Sommer wurde damit jedes vor der Tür getrunkene Bier zu einem rebellischen Akt. Danach wurde es aber endgültig in das Hamburger Stadtmarketing integriert. (…) Jetzt wird wieder über Unvernunft in den Ausgehvierteln geredet, so auch in Hamburg. Das Cornern werde zum Sicherheitsrisiko. Gleichzeitig darf die Tagesschau vermelden, dass die Elbphilharmonie wieder offen ist. Nachdem nun monatelang über Aerosole berichtet wurde, zeigt die Nachrichtensendungen die freundlichen Abteilungsleitertypen und Bildungsbürger*innen wie sie in ihrer wohlhabenden Parallelwelt ganze Säle mit ihrem Atem füllen, während einige hundert Meter weiter die Elbe rauf die Polizei jeden öffentlichen Park von Jugendlichen räumt. Die Rückkehr zur Normalität wird eine umkämpfte sein. Denn durch die geschlossene Gastronomie ist Freizeitgestaltung eine sehr öffentliche Veranstaltung geworden. Das Monopol auf Spaß haben jetzt nicht mehr nervige Barkeeper*innen und grimmige Türsteher*innen. Das Draußen-Feiern, das Cornern, ist nicht nur ärmer an Aerosolen, sondern auch reicher an Selbstbestimmung. Kein sechs Euro Drink, keine Sperrstunde limitieren den Abend.“ Artikel von Johannes Tesfai vom 15 Juni 2021 aus ak 672 externer Link
    • Die neuen Lockerungen der Pandemie-Maßnahmen: Für eine Stadt für alle
      „Schon zu Beginn der Pandemie wurde vielerorts hemmungslos bevormundet, diskriminiert, bespitzelt und es wurden Nachbar*innen, die sich nicht an die Regeln hielten, an die Staatsmacht verpfiffen. Es zeigte sich, dass die unter anderem von Theodor W. Adorno in den 50er Jahren beschriebene autoritäre Persönlichkeit keineswegs der Vergangenheit angehört, sondern auch heute noch fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft ist. Dieser tief sitzende Hass auf alles Libertäre, alles, was anders denkt, fühlt und aussieht als man selbst, scheint die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu überdauern. Das bürgerliche Spießertum würde viele der Freiheitseinschränkungen am liebsten für immer beibehalten. Junge Menschen, die in Parks zu lauter Musik Alkohol trinken, feiern und Spaß haben? Geht ja gar nicht, sofort die Polizei rufen und dem bunten Treiben ein Ende setzen. Am besten gleich einen Zaun drum rum machen und Sicherheitsleute patrouillieren lassen. Dann ist man auch gleich die leidigen Obdachlosen los, bei denen kriegt man eh nur ein schlechtes Gewissen angesichts des eigenen Wohlstands. Derart lust- und lebensfeindliche Einstellungen sind ein Nährboden für faschistische Ideologien. Für den kapitalistischen Staat sind solche Impulse natürlich von Vorteil: Subversive, unerwünschte und arme Menschen können damit aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen und dieser kann gleichzeitig für rein kommerzielle Interessen nutzbar gemacht werden. Die Dystopie einer Stadt, in der es nur Leuten mit Geld erlaubt ist, sich draußen aufzuhalten, rückt damit näher. Wenn es in Außenbereichen von Restaurants, Cafés und Clubs erlaubt ist, mit 250 Leuten zu feiern, man im kostenlos nutzbaren öffentlichen Raum aber maximal fünf Freund*innen treffen und teilweise nicht einmal Alkohol konsumieren darf, dann hat das nichts mehr mit Pandemie-Bekämpfung zu tun, das ist reine Klassenpolitik gegen die ausgebeuteten Menschen in dieser Gesellschaft. Damit geht nicht nur ein großer Teil des Berliner Lebensgefühls verloren, die Hauptstadt wird damit endgültig zu einer Stadt der Reichen.“ Kommentar von Marie Frank vom 15. Juni 2021 in neues Deutschland online externer Link – siehe zum Thema auch die Beiträge direkt hier unten:
  • [Nicht nur in Hamburg: „Billigalkoholverbot“] Die neuen Trinkregeln. In Hamburg werden Orte, an denen junge Menschen Alkohol trinken, zu „Hotspots“ erklärt und von der Polizei geräumt – aber Kneipen dürfen öffnen 
    „… Klingt alles toll und nach echtem Leben. Aber gleichzeitig geschieht etwas, das nicht recht dazu passen will: In Hamburgs Ausgehvierteln St. Pauli und Schanze werden neue Verbotstafeln aufgehängt. „Alkoholverbot“ steht darauf, zur Sicherheit auch noch mal auf Englisch. Und dazu ein Stundenplan, den man zweimal lesen muss, bis man die ganze Tragweite verstanden hat: Mo–Fr 0–6 und 14–24 Uhr; Sa, So, Feiertage 0–24 Uhr. Das heißt: Trinken darf man beispielsweise auf dem Schulterblatt vor dem linken Zentrum Rote Flora noch montags bis freitags von sechs Uhr morgens bis 14 Uhr. Aber wer tut das schon? Vielleicht die Wohnungslosen, die auf den Treppen der Flora ihr Lager aufgeschlagen haben, aber was tun die danach? Und was am Wochenende? Es sind nicht mehr diese Do-it-yourself-mäßig laminierten und mit Kabelbindern fixierten Schilder, die vor Monaten am selben Ort die Maskenpflicht angekündigt hatten, nicht diese eilig aufs Pflaster gesprühten Piktogramme. Es sind solide, ordentlich bedruckte und fest verschraubte Verbotsschilder. Gekommen, um zu bleiben. (…) Genauer gesagt handelt es sich um ein „Alkoholverkaufs- und Konsumverbot“, noch genauer ist sogar schon das „Mitführen“ von Alkohol verboten. Außer natürlich, wenn man in einer Kneipe sitzt oder in einem Restaurant. Die dürfen schon seit zwei Wochen wieder draußen ausschenken – an Gäste mit Sitzplatz. Seit einer Woche kann man dort sogar wieder drinnen trinken, wenn auch unter Auflagen, die für viele kleine Gastronomen ähnlich ruinös sind wie der Lockdown vorher. Schlimmer trifft es nur die Kioske, meist von Migrantenfamilien betrieben. Ihr Geschäftsmodell ist im Eimer, wenn der abendliche Alkoholverkauf dauerhaft wegfällt. Das „Alkoholverbot“ ist also vor allem ein „Billigalkoholverbot“. Wer es sich leisten kann, kann aus der Kneipe am Schulterblatt bei Aperol Spritz gemütlich zuschauen, wie die Polizei den Pöbel vertreibt…“ Kommentar von Jan Kahlcke vom 11.6.21 in der taz online externer Link, siehe auch:

    • Im Namen der Verordnungen
      Die Hamburger Hotspot-Strategie führt zu Ausschreitungen. Statt jungen Menschen nach dem Lockdown Angebote zu machen, reagiert die Stadt mit Gewalt…“ Artikel von   Arne Matzanke vom 12. 6. 2021 in der taz online externer Link
    • Stuttgart und die Polizei: Zäune im Kopf. Jugendliche und die Polizei: In Stuttgart hat es wieder geknallt. Das eigentliche Problem ist eine provinzielle Politik
      „… Auch in Städten wie Tübingen, Heidelberg und Hamburg kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jungen, meist migrantischen Jugendlichen und der Polizei. Die Politik ist überfordert. Die Polizei geriert sich als Opfer. Die mediale Berichterstattung geht selten über paraphrasierte Pressemitteilungen der Polizei hinaus. Der Tenor: Die Jugendlichen sind das Problem. (…) Aus der komplexen Verzahnung aus Corona-Einschränkungen, struktureller Diskriminierung, Rassismus, öffentlichem Raum und Polizeiarbeit ergeben sich Stressoren, die für Politiker wie den durch die heile Vorstadtwelt geprägten Nopper nicht existent sind. Sein Horizont wird definiert durch die eigene autochthone, privilegierte Lebenswelt. Auch Noppers Kollege, Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler), sieht das Problem nur von der Seite, aus der Pfefferspray geschossen wird. Dass Innenminister Thomas Strobl (CDU) dazu in zahlreichen Medien von mehr Videoüberwachung auf dem Schlossplatz fantasiert, komplettiert die Symbolpolitik einer provinziellen Großstadt, die mit soziokulturellen Entwicklungen politisch überfordert ist. Das Problem sind »die Störenfriede«. Nicht etwa die Kapitulation der CDU vor den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft…“ Artikel von Elena Wolf vom 11.06.2021 in ND online externer Link
  • Corona-Politik und Staatsverständnis 
    „Die Einschätzung der Corona-Politik steht und fällt mit der Einschätzung der Pandemie …und vielleicht auch mit dem Staatsverständnis. (…) Eine Linke, die sich auf den Staat fixiert, bleibt bürgerlich beschränkt. Egal ob sie sich als Staats-Linke in diesen hineinbegibt oder sie den „Souverän als Feind“ ausmacht. Sie bleibt politisch. Lauert hinter einer linken Staatskritik, in der der Staat zum automatischen Subjekt mit dem Telos autoritärer Herrschaft mutiert, versteckter Liberalismus und bürgerlicher Individualismus, also bürgerliche Formen der Selbstbestimmung? Eine Linke, die sich aus guten Gründen in der Tradition der Arbeiter*innenbewegung verortet, wird menschliches Leben als wesentliches Freiheitsrecht verteidigen, sie wird sich auf die Perspektive der Arbeitenden in den Betrieben (Arbeitsschutz), aber auch gerade in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, den Krankenhäusern etc. (Arbeitsbedingungen) einlassen. Sie wird auch – wie immer schon in der Geschichte – bürgerliche Freiheitsrechte vor autoritärem Zugriff verteidigen. Eine im Marxschen Sinne kommunistische Perspektive analysiert die systematischen Mängel kapitalistischer Gesellschaften angesichts einer globalen Bedrohung der Menschheit durch eine Pandemie. Sie kritisiert deren beschränkten Horizont, deren eingeschränkte Sicht- und Handlungsweise, die von ihr produzierten sozialen Ungleichheiten, ihre Praxis. Sie hat ‚Freiheit, Gleichheit, … Bentham‘ schon längst hinter sich gelassen. Aus dieser Perspektive heraus wäre auch das Handeln des Staates einzuschätzen, ohne die Tatsache zu übersehen, dass die politischen Verhältnisse nicht so sind, diesen unmittelbar aufzuheben, aber auch ohne die Perspektive aus dem Auge zu verlieren, dies zu tun.“ Kommentar von Thomas Gehrig vom 8. Juni 2021 bei Links-Netz externer Link
  • Atlas der Zivilgesellschaft 2021: Corona-Pandemie bedroht Freiheitsrechte weltweit 
    Die Corona-Pandemie führt in vielen Ländern auch zu sozialen Verwerfungen. Das zieht Proteste nach sich, denen vielfach mit massiver Polizeigewalt begegnet wird. Freiheitsrechte weltweit sind bedroht. Die Corona-Pandemie führt weltweit zu Einschnitten bei den Freiheitsrechten. Das geht aus dem „Atlas der Zivilgesellschaft 2021“ externer Link des Hilfswerks „Brot für die Welt“ und des internationalen Netzwerks Civicus hervor. Demnach lebten 2020 fast 90 Prozent der Weltbevölkerung in Staaten, wo die Räume für gesellschaftspolitisches Engagement beschränkt, unterdrückt oder gar geschlossen sind – fünf Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor. (…) Im Bericht werden etliche Regierungen genannt, die ihren Bürgern pauschal untersagten, für ihre Anliegen auf die Straße zu gehen. So seien etwa in Südafrika, Russland, Indien, Brasilien, Polen, Mosambik und Nicaragua mit Verweis auf den Infektionsschutz Ausgangssperren verhängt und Versammlungen verboten worden…“ Meldung vom 01.06.2021 beim Migazin externer Link – es ist natürlich nicht die Pandemie, die die Freiheitsrechte bedroht, sie wird dazu benutzt
  • Grundrechte-Report 2021: Nach der Pandemie keine neuen Einschränkungen tolerieren!
    Nach der Corona-Pandemie bestehe keine Gefahr auf eine dauerhafte Beschränkung von Grundrechten, sagt Sarah Lincoln von der Gesellschaft für Freiheitsrechte in SWR2, anlässlich der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2021, der sich unter dem Titel „Ungleiche (Un-)Freiheiten in der Pandemie“ vor allem mit Grundrechtseingriffen während der Covid-19 Pandemie beschäftigt…“ Text und Audio des Gesprächs am 26.5.2021 beim SWR2 externer Link Audio Datei – siehe dazu auch:
  • Ungleichheit im Zeichen der Pandemie: Bürgerrechtsorganisationen beleuchten im »Grundrechtereport« schwerwiegende Defizite durch Maßnahmen gegen Corona
    „Am Mittwoch wurde der diesjährige »Grundrechtereport« in Berlin vorgestellt. Dieser beschäftigt sich – wenig überraschend – schwerpunktmäßig mit den Grundrechtseingriffen des Staates während der noch immer andauernden Covid-19-Pandemie, die sich bisher – so die Herausgeber in ihrem Vorwort – im »Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Gesundheit einerseits und den Freiheitsrechten andererseits bewegt« hätten. In 43 Beiträgen werfen die Autoren einen genaueren Blick auf die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die Zumutungen der Coronakrise für die Beschäftigten im Gesundheitssektor, die prekären Bedingungen in Schlachtbetrieben, den fehlenden Schutz vor Corona in Geflüchtetenunterkünften und die ungleichen Auswirkungen der Pandemie im Bildungsbereich. Die »mitunter fundamentalen Einschränkungen, die zuvor kaum vorstellbar gewesen wären«, stellten die Gesellschaft vor ethische, soziale, juristische und politische Herausforderungen, warnen die Herausgeber im neuen Report mit dem Titel »Ungleiche (Un-)Freiheiten in der Pandemie«. Keineswegs bieten die Bürgerrechtsorganisationen dabei eine wie auch immer geartete Argumentationshilfe für fragwürdige Gruppierungen und Zusammenschlüsse, die seit geraumer Zeit unter der Eigenbezeichnung »Querdenker« von sich reden machen und sämtliche Maßnahmen, die die Bundesregierung und Landesregierungen zum Schutz der Bevölkerung vor der Pandemie auf den Weg gebracht haben, rundum ablehnen. Vielmehr betonen die Herausgeber, dass sich während der Pandemie »gerade prekäre Lebensverhältnisse zuspitzten« und dass »die Lage marginalisierter Menschen und Gruppen dadurch fort- und weiter festgeschrieben« worden sei. Schließlich würden gerade in Zeiten von Krisen und grundsätzlichem gesellschaftlichen Wandel bestehende gesamtgesellschaftliche Risse zutage gefördert. Es seien oftmals »unzureichend Repräsentierte, die sich im politischen Interessenkonflikt innerhalb tradierter Institutionen nicht oder nur schwerlich durchsetzen können«, konstatieren die Bürgerrechtsorganisationen. Damit thematisieren sie im Gegensatz zu sogenannten Querdenkern bereits bestehende soziale Verwerfungen, die sich während der Pandemie nur noch weiter zugespitzt haben, und lassen sich von Fakten anstelle von Verschwörungsmythen und irrwitzigen Phantastereien leiten…“ Rezension von Markus Bernhardt in der jungen Welt vom 27. Mai 2021 externer Link

  • Corona-Ausgangssperren: Wissenschaftlich fragwürdig, verfassungsrechtlich bedenklich 
    Ausgangssperren – ein massiver Eingriff in die Grundrechte. Die Bundesregierung begründet das vor allem mit dem Ergebnis einer Studie aus Oxford. Deren Autoren wehren sich gegen solch politische Vereinnahmungen. Und auch eine Untersuchung aus Deutschland bezweifelt die Wirksamkeit von Ausgangssperren…“ Video des Beitrags von Jan Schmitt und Jochen Taßler im Monitor vom 29.04.2021 externer Link (07:02 Min.. UT. Verfügbar bis 31.12.2099. Das Erste) – siehe zu Protesten dagegen unser Dossier: Solidarität in Zeiten von Corona – und linke Widerstandsstrukturen
  • GFF-Gutachten “Grundrechtliche Bewertung einer Ausgangssperre zur Pandemiebekämpfung”
    „Das sogenannte Corona-Notbremsegesetz (…) ist hinsichtlich der geplanten Ausgangssperre verfassungsrechtlich unzulässig. Das ist das Fazit eines Rechtsgutachtens von Prof. Dr. Anna Katharina Mangold in unserem [GFF] Auftrag. Für den Fall, dass die geplanten Änderungen am Infektionsschutzgesetz (IfSG) unverändert beschlossen werden, bereiten wir den Gang vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor…“ Hinweis von Daniela Turß von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) zum Kurzgutachten “Grundrechtliche Bewertung einer Ausgangssperre zur Pandemiebekämpfung” von Prof. Dr. Anna Katharina Mangold vom 20. April 2021 externer Link , was nun zwar etwas entschärft, aber trotzdem in § 28b IfSG mit 342 Ja- zu 250 Nein-Stimmen (und 64 Enthaltungen) sowie des Verzichts des Bundesrats auf Vermittlung Gesetzeskraft erhalten hat. Siehe auch:

    • Methode Martin Luther King. Ausgangssperren treffen vor allem Menschen, die in beengten Verhältnissen leben: Zeit für linken Widerstand
      Wenn die Politik Ausgangssperren verordnet, wie im neuen Bundesinfektionsschutzgesetz bei einer Inzidenz von über 100, dann dürfen diese keinesfalls auch so heißen. Offiziell wird der Begriff systematisch gemieden, viel lieber sprechen die Verantwortlichen von »Ausgangsbeschränkungen«. Das verharmlosende Wording ist Teil der Ideologieproduktion in Zeiten der Pandemie. Es soll verdecken, gegen wen sich die drastischen Verbote vorrangig richten: gegen sozial Benachteiligte, die sich auf der Straße treffen, weil zu Hause kein Platz ist. Spätestens in ein paar Wochen, wenn es abends lange hell bleibt, könnte es Ärger geben an solchen Orten in Deutschland. Die Konflikte mit der Polizei an der Hamburger Alster und auf dem Stuttgarter Schlossplatz lieferten bereits einen Vorgeschmack. In einem innenstadtnahen Park von Brüssel attackierten Reiterstaffeln und Wasserwerfer Tausende von Besucher/innen eines im Internet angekündigten Musikfestivals, das sich im Nachhinein als Aprilscherz entpuppte. Solche Vorfälle sind Warnsignale an eine Politik, der nichts anderes einfällt als ein »harter Lockdown« nach dem anderen, stets mit dem fadenscheinigen Zusatz »kurz«...“ Kommentar von Thomas Gesterkamp vom  23.04.2021 im ND online externer Link
  • Das Grundrechtekomitee lehnt Ausgangssperren ab
    „Der aktuelle Entwurf der Bundesregierung für ein verschärftes Infektionsschutzgesetz enthält unter anderem nächtliche Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr als eine der Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie. Diese sollen in allen Landkreisen und kreisfreien Städten ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gelten, es sei denn, der Aufenthalt außerhalb der eigenen Wohnung ist begründet. Ausnahmen sollen nur etwa für medizinische Notfälle oder den Weg zur Arbeit gelten. Das Grundrechtekomitee lehnt Ausgangssperren ab und fordert, diese aus dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung und allen sonstigen Maßnahmenkatalogen zu entfernen. Ausgangssperren stellen einen weiteren Schritt in der schon jetzt umfänglichen Reglementierung des Privatlebens dar, während diverse Bereiche der Wirtschaft, insbesondere Großbetriebe, weiterhin vielfach von pandemiebedingten Vorschriften unbehelligt bleiben. Ausgangssperren schränken darüber hinaus nicht nur die Bewegungsfreiheit aller ein, sie bringen vor allem marginalisierte und vulnerable Gruppen in Gefahr. Denn Ausgangssperren dienen insbesondere der Vereinfachung der Kontrolle von Individuen im öffentlichen Raum. Derartige Kontrollen richten sich erfahrungsgemäß weniger gegen eine wohlhabende Mehrheitsgesellschaft, sondern überproportional gegen Jugendliche und Zugehörige marginalisierter Gruppen, wie etwa von Rassismus betroffene Menschen, Wohnungslose oder Menschen in ärmeren Stadtteilen. Britta Rabe, Referentin des Grundrechtekomitees, kommentiert: „Ausgangssperren sind nichts anderes als ein Freibrief für Schikane, Willkür und Gewalt durch die Polizei. Es ist klar, wen diese Schikane trifft: Gruppen, die nicht Teil der bürgerlichen weißen Mehrheitsgesellschaft sind. Ausgangssperren verschärfen Racial und Social Profiling.“ (…) Sollten Ausgangssperren in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen werden, ermutigen wir zum Beschreiten des Rechtswegs. Es wäre zu hoffen, dass möglichst viele Gerichte der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 7. April 2021 folgen. Dieses hatte Ausgangsbeschränkungen im Eilverfahren für „voraussichtlich rechtswidrig“ erklärt.“ Pressemitteilung des Grundrechtekomitees vom 15. April 2021 externer Link

    • Hinweis: Sofern es sich um ein Bundesgesetz – und keine Länderverordnung – handelt, ist jedoch das Bundesverfassungsgericht zuständig; eine gesetzliche Regelung steht über verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und kann deshalb nur als konkrete Normenkontrolle von den Instanzgerichten geltend gemacht werden. Es ist gerade das Ziel der Gesetzesänderung des Infektionsschutzgesetzes nicht nur die föderale Regelung zu ersetzen, sondern damit verbunden auch die landesrechtliche Verwaltungsrechtsprechung.
  • Bundestagsgutachten stützt Kritik an geplanter Änderung des Infektionsschutzgesetzes
    „… Ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags stärkt Kritikern eines Kabinettsentwurfs zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes den Rücken. Das siebenseitige Papier, das Telepolis exklusiv vorliegt, verweist auf mehrere Gerichtsentscheide, die teils erhebliche Zweifel an der alleinigen Begründung von Grundrechtseinschränkungen durch einen Inzidenzwert äußern, auch wenn damit die Virusverbreitung gehemmt werden soll. „In der Rechtsprechung wurde das alleinige Abstellen auf Inzidenzwerte als Voraussetzung von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie bereits öfter kritisiert“, heißt es in dem Gutachten, das unmittelbar vor der geplanten Novelle des Infektionsschutzgesetzes verfasst worden war. Gerichte hätten vor allem Zweifel an der Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen in größeren Gebieten wie Kreisen geäußert, sofern dies allein mit dem Inzidenzwert in diesem Gesamtgebiet begründet werde. (…) Während damit die Argumentationsgrundlage der geplanten erneuten Änderung des Infektionsschutzgesetzes infrage gestellt wird, sorgen Pläne des Bundes, die Corona-Maßnahmen in untergeordneten Verwaltungsgliederungen per Verordnung durchzusetzen, für weitere Debatten. Zwar gesteht der Änderungsentwurf der Regierung einen sogenannten Parlamentsvorbehalt ein, also die notwendige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. FDP-Fraktionsgeschäftsführer Buschmann aber hält diese Regelung für zu vage und die zu erwartenden Entscheidungsfristen für zu kurz: „So wird vermutlich in der Praxis jedes Mal die Zustimmung des Parlaments fingiert sein, wenn eine solche Verordnung kurz nach einer regulären Sitzungswoche erlassen wird, ohne dass parlamentarische Beratungen zu der Rechtsverordnung stattgefunden haben.“…“ Beitrag von Harald Neuber vom 14. April 2021 bei Telepolis externer Link
  • Gesundheitsschutz versus Freiheit
    „… Gesundheitsschutz musste (und muss auch heute) immer gegen den Wirtschaftsliberalismus erkämpft werden, d.h. auch: gegen dessen inhärenten Sozialdarwinismus und Sozialrassismus. (…) Güterabwägungen zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten werfen die Frage nach der  zugrundeliegenden Gesellschaftsstruktur auf. Güterabwägungen erfordern Modelle einer radikalen Demokratie. Der Markt wird es nicht richten. Die Sorgearbeit muss umfassend neu und gemeinwirtschaftlich organisiert werden. Die Bedrohung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten erfordert eine ökosozialistische Alternative…“ Folien von und bei Dr. Wolfgang Hien externer Link (PowerPoint) (Verein für kritische Arbeits-, Gesundheits- und Lebenswissenschaft e.V.) als Einleitungs-Input zu den Zoom-Diskussionen am 26. März und 7. April 2021
  • Ausgangssperre: „Irreführende Kommunikation“. Die Gefahren lauern in den Innenräumen, warnen führende Aerosolforscherinnen und -forscher
    „Gehen die Pläne für eine Ausgangssperre in die Irre? Die Gesellschaft für Aeorosolforschung hat sich zu Wochenbeginn in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, an die Gesundheitsminister von Bund und Ländern sowie an die Regierungschefs in den Ländern gewandt. Darin heißt es unter Berufung auf „vielfältige Erkenntnisse zur Übertragung der SARS-CoV-2 Viren über den Luftweg“: „Die Übertragung der Sars-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist. Zu diesen Gruppeninfektionen gehören bevorzugt Altenheime, Wohnheime, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten.“ (…) Die Bürgerinnen und Bürger bekämen durch die Diskussion in den Medien und die beschlossenen Maßnahmen den Eindruck, draußen sei es gefährlich. Öffentliche Treffen im Freien werden verboten und Ausflugsziel für den Publikumsverkehr abgesperrt, so der offene Brief. „Auch die aktuell diskutierten Ausgangssperren müssen in diese Aufzählung irreführender Kommunikation aufgenommen werden.“ Man teile das Ziel, problematische Kontakte zu reduzieren. Die Ausgangssperren würden jedoch mehr versprechen, als sie halten können, und zudem bei den Bürgerinnen und Bürgern eher den Wunsch verstärken, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Statt alle Kontakte mit anderen Personen als gefährlich darzustellen, komme es darauf an, die Menschen für die tatsächlichen Übertragungswege zu sensibilisieren. Je kleiner der Raum und desto länger die Menschen sich dort aufhalten, desto größer werde die Infektionsgefahr. Insbesondere, wenn nicht ausreichend gelüftet wird (…) Die Leitautorinnen und -autoren des Positionspapieres sind in der Schweiz, Österreich und Deutschland führend in der Forschung tätig. Daneben haben mehrere Dutzend Autorinnen aus dem In- und hauptsächlich europäischen Ausland mitgeschrieben. Eine noch größere Zahl von Aerosolforschern und -forscherinnen vom russischen Kasan über das polnische Warschau bis zu spanischen Leon unterstützt die Stellungnahme, die auch auf Englisch veröffentlicht wurde. In der Stellungnahme werden diverse wissenschaftliche Studien zitiert, auf denen die getroffenen Aussagen basieren. (…) Der Bundestag debattiert diese Woche eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes, mit der ab einem bestimmten Inzidenzwert eine Ausgangssperre von 21 bis fünf Uhr vorgeschrieben würde. Bleibt abzuwarten, ob das auch im Bundesrat Zustimmung findet.“ Beitrag von Wolfgang Pomrehn vom 13. April 2021 bei Telepolis externer Link zum offenen Brief der GAeF vom 11. April 2021 externer Link , siehe auch bei lto: So sieht die Bundes-Corona-Notbremse aus externer Link
  • Ausgangssperren: Alle Raus Hier!
    Wir haben absolut keinen Zweifel daran, dass der Corona-Virus gefährlich ist. Bei fast 80.000 Todesfällen in der BRD ist es niederschmetternd, dass wir das überhaupt erwähnen müssen. Aber wenn wir die staatlichen Maßnahmen von Corona kritisieren, machen wir die Erfahrung, dass Teile der so genannten Linken nichts Besseres zu tun haben, als Menschen in die Leugner-Ecke zu stellen.Das ist oft das Niveau des Diskurses, den wir jetzt mehr als ein Jahr erleben. Dabei vergessen diese Leute leider, das unsere Herrschenden und die ihnen dienende kapitalistische Witschaftsweise, Zoonosen wie Covid-19 überhaupt erst Tür und Tor öffnen. Offensichtilich haben diese Leute unsere emanzipatorischen Grundwerte vergessen. Und vielleicht liegt dies auch nicht zuletzt daran, dass sie den Verlust ihrer Privilegien befürchten. Eine ernsthafte Debatte, fernab des Staatsnarrativs, scheint für viele unerwünscht zu sein. Aber angesichts der wachsenden autoritären Bedrohung ist diese Debatte bitter notwendig…“Stellungnahme einiger Anarchist:innen aus Wuppertal, dokumentiert am 13.4.21 bei enough14 externer Link in Bezug zu Ausgangssperren bei der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie und welche Konsequenzen daraus gezogen werden können. Siehe auch #AlleRausHier
  • Corona-Krise: Alle Macht der Bundesregierung
    „Schon das Bund-Länder-Entscheidungsgremium stand in der Kritik, da es im Grundgesetz nicht vorgesehen war. Jetzt soll es ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 praktisch obsolet werden (…)Statt weiterer Beratungen über Gegenmaßnahmen in der Bund-Länder-Runde soll es nun bundesweit einheitliche Regelungen für eine „Notbremse“ bei Inzidenzwerten ab 100 geben. Der Bund soll dann entscheiden – und zwar verbindlich. (…) Wer in Bund und Ländern was entscheiden darf, dazu haben die Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags innerhalb eines knappen Jahres zwei Gutachten erstellt. In einem Gutachten vom 22. April 2020, das der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki in Auftrag gegeben hatte, hieß es noch, die Bundeskanzlerin sei gemäß Artikel 65 des Grundgesetzes nur befugt, Bundesministern Rahmenvorgaben zu machen: Gegenüber den Ländern entfalte diese Vorschrift – die sogenannte Richtlinienkompetenz – „keine Wirkung“. (…) Mittlerweile existiert ein neues Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste mit der Überschrift „Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht“. Fertiggestellt wurde es am 29. März dieses Jahres. Darin heißt es: „Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für das Infektionsschutzrecht. Sie umfasst auch Maßnahmen zum Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen. Es ist zulässig, dass der Bundesgesetzgeber detailreiche und strikte Regelungen trifft, die weitgehend auf unbestimmte Rechtsbegriffe verzichten und so wenig wie möglich Ermessen einräumen. Beim Gesetzesvollzug durch die Länder bestünde in einem solchen Fall wenig Spielraum.“ Demnach wird auf Bundesebene entschieden… „ Beitrag von Claudia Wangerin vom 9. April 2021 bei Telepolis externer Link, siehe dazu:

    • Wörtlich heißt es im WD-Gutachten „Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht“ vom 29. März 2021 externer Link zur Rechtsproblematik „Verordnungsermächtigung“ auf S.5 (pdf): “ Der Gesetzgeber muss alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen; er darf sie nicht an die Exekutive delegieren. „Wesentlich“ sind dabei insbesondere alle Regelungen, die in Grundrechte eingreifen. Da die Abwehrmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie mit teils weitreichenden Grundrechtseingriffen verbunden sind, müsste das Wesentliche des Maßnahmenregimes somit im Gesetz selbst geregelt werden. In Bezug auf Detailfragen ist es dem Gesetzgeber unbenommen, nach Art. 80 Abs. 1 GG die Exekutive zum Erlass von Verordnungen zu ermächtigen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen dabei nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG im Gesetz bestimmt werden. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können die Bundesregierung oder ein Bundesminister ermächtigt werden. Zusätzlich kann der Bundestag bestimmen, dass die Rechtsverordnung seiner Zustimmung bedarf. Eine Verordnungsermächtigung an die Länder muss ebenso präzise gefasst sein wie eine Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung oder einen Bundesminister.“
  • Der Kern des Problems. Nicht der Föderalismus ist schuld am Corona-Debakel der Politik, sondern ökonomische Machtstrukturen
    „… Die Ursachen für dieses und ähnliche Debakel bei der Pandemie-Bekämpfung werden meist an der falschen Stelle gesucht. Der Föderalismus sei schuld, heißt es, und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten dächten nur an sich selbst. Schon wird eine Reform gefordert, die den Bund zu Lasten der Länder zum Durchregieren ermächtige. Damit wird nun allerdings die Axt an eine Wurzel der bundesdeutschen Demokratie gelegt. (…) Föderalismus ist hierzulande ein Element der Demokratie. Das mag im internationalen Vergleich eine deutsche Spezialität sein, aber aufgrund historischer Erfahrungen ist es eine plausible. Das werden hoffentlich auch diejenigen bedenken, die verlangen, der Bundestag dürfe im Corona-Regime nicht weiterhin das fünfte Rad am Wagen bleiben, sondern er müsse mitsteuern dürfen. Soweit sie das Verhältnis des Parlaments zur Regierung betrifft, ist diese Forderung richtig. Sollte sie aber zentralstaatlich auf eine Schwächung der Länder hinauslaufen, geht sie in die falsche, in die antiföderale Richtung. Sie trifft gewissermaßen die Falschen. (…) Der Kern des Problems befindet sich woanders, nämlich in der ökonomischen Machtstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Noch weniger als im ersten Lockdown 2020 haben jetzt die großen Produktionsunternehmen und die Plattformökonomie sich an Auflagen halten müssen. Ihre Beschäftigten sind großen Risiken ausgesetzt. Infektionsherde dort werden kaum aufgespürt. Die Interessenvertreter dieser Industrien wehrten sich bislang erfolgreich gegen Pflichttests in ihrem Bereich. Das war keine Verschwörung. Man muss sich nicht einbilden, der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie habe bei der Kanzlerin angerufen. Er konnte sich stattdessen auf den Volkszorn verlassen. (…) Eine Politik, die – besorgt über ihren Absturz in der Volksgunst – einen unpopulären, aber wirksamen Lockdown vermeidet, bedient damit zugleich die Interessen des großen Kapitals. Dieses konnte sich die Krisenfolgen bislang erfolgreich vom Leibe halten. Stephan Weil (SPD) ist Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, das eine Sperrminorität an der Volkswagen AG hat, und vertritt es im Aufsichtsrat. Er ist gegen Verschärfung (sagen wir lieber: Vertiefung in die Arbeitswelt hinein) des Lockdowns in seinem Zuständigkeitsbereich. In diesem Sinn versagt Politik nicht, sondern sie funktioniert.“ Artikel von Georg Fülberth vom 11.04.2021 im ND online externer Link
  • Warum wir NEIN zur „Bundesnotbremse“ sagen sollten!
    „Bund und Länder machen ernst: ihre pro-kapitalistische Corona-Politik wird erneut verschärft. Mit einem „Notbremsen-Gesetz“ soll in Zukunft ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 bundesweit einheitliche Maßnahmen greifen – darunter Ausgangssperren. Die Profitwirtschaft bleibt weiter verschont. (…) Erst Ende März hatte die Universität Stanford diese Maßnahme untersucht als sie zehn Länder miteinander verglich. Das Ergebnis: Ausgangssperren leisten kaum bis keinen Beitrag zur Verringerung der Ansteckungen. Doch nicht nur epidemiologisch ist die Ausgangssperre unbrauchbar. Sie ist vor allem politisch ein gefährlicher Präzendenzfall. Tatsächlich war die Maßnahme der Ausgangssperre für den Bund in keinem Gesetzestext in Deutschland zu finden (Das dürfen nur die Länder nach dem 2020 gänderten §28a IfSG). Aus gutem Grund: Ausgangssperren sind üblicherweise Methoden zur Niederschlagung von Aufständen. Nach 1945 waren aus der Erfahrung des Hitler-Faschismus fehlten solche Maßnahmen in deutschen Gesetzen. Erst nach und nach wurden Elemente mit den Notstandsgesetzen 1968 und dem Bundeswehreinsatz im Inneren hinzugefügt. Damit soll in Deutschland jetzt durchgesetzt werden, was als Lehre aus dem Hitler-Faschismus eigentlich nicht geschehen sollte. Natürlich findet dies nun unter dem Banner des „Gesundheitsschutz“ statt – aber wieso sollte dies nicht in Zukunft auch gegen Proteste eingesetzt werden, wenn sich Wirtschaftskrise und Klimakrise in Zukunft zuspitzen sollte? Es wird bereits davon ausgegangen dass dies auch mit Pandemien einhergehen wird. (…) Ebenso traurig wie beschämend sind die zusätzlichen Maßnahmen für die Profitwirtschaft, die deutsche Industrie, in der die wirklichen Profite sprudeln. Sie sind nämlich – keine! Wie immer die alte Leier, Unternehmen sollen, so immer möglich, „Homeoffice ermöglichen“. Ob der Bund auch die Möglichkeit bekommt, ebenso wie die Länder, Betriebe zu schließen ist bisher nicht bekannt. Doch selbst wenn: ein Herunterfahren der großen Industriebetriebe ist unwahrscheinlich. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat sich bereits positioniert. (…) Auch das letzte Mal hat Merkel brav auf die Ansagen aus der Wirtschaft gehört. Nach massiven Protesten der Automobilindustrie und anderer Wirtschaftsverbände kippte sie den „Oster-Lockdown“ – und da ging es nur um zwei Tage bezahlten Urlaub! (…) Alle demokratisch und kapitalismuskrischen Menschen dürfen diesen Rechten nicht das Feld überlassen. Das Bündnis „NichtaufunseremRücken“ hat einen guten Katalog an Forderungen aufgestellt, die jetzt umgesetzt gehören und für die wir streiten können…“ Kommentar von Tim Losowski vom 10. April 2021 bei Perspektive online externer Link
  • [OVG Niedersachsen] Nächtliche Ausgangssperre: Doch kein Stubenarrest
    „.. Es waren überraschend deutliche Worte, die das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg da an die Region Hannover richtete: Die habe „nicht ansatzweise nachvollziehbar“ machen können, dass sie vor der Ausgangssperre schon alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft habe, die geltenden Kontaktbeschränkungen effektiv zu kontrollieren und durchzusetzen. Den Ausführungen der Region ließe sich nicht einmal „annäherungsweise entnehmen, in welchem Umfang die von ihr angeführten regelwidrigen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfänden“. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichten zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus, heißt es in der Mitteilung des Gerichts weiter. Insbesondere sei es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären. Nach mehr als einem Jahr Pandemiegeschehen bestehe die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege. Die Region Hannover reagierte sofort und kassierte die Verfügung wieder ein. (…) Ausnahmsweise hatte sich aus diesem Anlass in Hannover auch Protest formiert, der nicht dem Coronaleugner-Lager oder einzelnen Interessengruppen zu zuordnen ist. Im Univiertel Nordstadt versammelten sich rund 70 linke Aktivist*innen und Anwohner*innen, um gegen die Ausgangssperre, aber für einen „solidarischen Lockdown“ und ein klügeres Pandemie-Management zu demonstrieren. Auch an den folgenden Abenden riefen sie zu Demonstrationen auf, die zum Teil allerdings deutlich kleiner ausfielen…“ Artikel von Nadine Conti, Michael Trammer und Marco Carini vom 7. April 2021 in der taz online externer Link zur Presseinformation zum Eilbeschluss des 13. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. April 2021 externer Link – Endlich mal ein Urteil, was das Verhältnis von Grundrecht und Infektionsschutz in ein annehmbares Verhältnis setzt, was für ähnliche Aktionen gute Argumente liefert.
  • [Amnesty International Report 2020/21] Weltweiter Krisenverstärker Corona – Eine menschenrechtliche Analyse 
    Im Jahr 2020 wurde die Welt vom Coronavirus erschüttert. Die Pandemie selbst und einige der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung wirkten sich verheerend auf das Leben von Millionen Menschen aus. Sie machten zudem systematische Missstände und Ungleichheiten deutlich sichtbar, die teilweise auf rassistischer, geschlechtsspezifischer oder anderweitiger Diskriminierung beruhten, und verschärften diese teilweise sogar noch. Am härtesten wurden Bevölkerungsgruppen getroffen, die unter mehrfacher Diskriminierung litten. Die „Black Lives Matter“-Bewegung, Frauenbewegungen und andere Initiativen engagierter Menschen rückten diese Missstände und Ungleichheiten in den Mittelpunkt, prangerten sie lautstark an und erreichten dank ihrer Beharrlichkeit einige mühsam erkämpfte Siege. Die Pandemie machte auch schlagartig klar, wie massiv sich jahrelange politische wie wirtschaftliche Krisen und Versäumnisse, was das politische Handeln und die Zusammenarbeit auf globaler Ebene betraf, auf die Menschenrechte auswirkten. Einige Staaten verschlimmerten dies noch, indem sie sich ihrer Verantwortung entzogen oder multilaterale Institutionen attackierten. In drei Bereichen zeigte sich besonders deutlich, wohin diese Entwicklungen führen: zu Verletzungen der Rechte auf Leben, Gesundheit und sozialen Schutz, zu geschlechtsspezifischer Gewalt und eingeschränkten sexuellen und reproduktiven Rechten sowie zur vermehrten Unterdrückung Andersdenkender. (…) Weltweit gab es im Jahr 2020 mindestens 1,8 Mio. Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus. Die Gesundheitssysteme und Sozialprogramme waren durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen geschwächt, völlig unvorbereitet und nicht gut genug ausgerüstet, um die Pandemie zu bekämpfen. Aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit sanken die Einkommen, während sich die Zahl der Menschen, die von Nahrungsmittelknappheit betroffen waren, auf 270 Mio. verdoppelte. Die Regierungen schützten Beschäftigte im Gesundheitswesen und andere exponierte Arbeitnehmer_innen nicht ausreichend vor einer Infektion mit dem Coronavirus. Tausende starben, und viele weitere erkrankten schwer, weil es nicht genug persönliche Schutzausrüstung gab. Manche wurden festgenommen, entlassen oder sahen sich mit anderen Vergeltungsmaßnahmen konfrontiert, weil sie die Arbeitsbedingungen oder die mangelhafte Sicherheit am Arbeitsplatz kritisiert hatten. Amnesty International stellte fest, dass in 42 von 149 untersuchten Ländern staatliche Stellen das Gesundheitspersonal und andere exponierte Arbeitnehmer_innen in Zusammenhang mit der Pandemie drangsalierten oder einschüchterten. Häufig traf es weibliche Pflegekräfte, die weltweit 70 % aller Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialsektor stellten und bereits zuvor aus geschlechtsspezifischen Gründen sehr schlecht bezahlt waren. Einige der Maßnahmen, die von Regierungen ergriffen wurden, um die Pandemie zu bekämpfen, trafen benachteiligte Bevölkerungsgruppen besonders hart. Lockdowns und Ausgangssperren sorgten dafür, dass Arbeiter_innen im informellen Sektor ihre Einkünfte verloren, ohne auf angemessene soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zu können. Weil in diesem Sektor mehrheitlich Frauen und Mädchen arbeiten, waren sie davon unverhältnismäßig stark betroffen. Die Umstellung des Bildungswesens auf Online-Unterricht ohne Bereitstellung der dafür notwendigen Geräte benachteiligte Schüler_innen und Studierende, die sich diese nicht leisten konnten. Frauen trugen die Hauptlast, was die Unterstützung der Kinder beim Homeschooling, die Versorgung kranker Angehöriger und andere unbezahlte Fürsorgeleistungen betraf, die sich daraus ergaben, dass öffentliche Einrichtungen geschlossen waren…“ Auswertung vom 07. April 2021 externer Link aus dem Amnesty International Report 2020/21 externer Link, dort Links zu allen Kapiteln
  • Gesundheit versus Freiheit? Medizingeschichtliche und philosophische Anmerkungen anlässlich der SARS-CoV-2-Pandemie 
    „… Der Konflikt zwischen Gesundheit und Freiheit wurde bereits von Virchow explizit hervorgehoben. Erinnern wir uns seines Satzes: „Aber die geistige Freiheit kann ohne die körperliche nicht bestehen.“ Ein Satz, der in dieser Allgemeinheit heute von vielen – wie damals auch – nicht akzeptiert werden würde. Dass sich wirtschafts-liberale Propagandisten wie Vertreter der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft, unterstützt u.a. von der Ludwig-Erhard-Stiftung, wortreich gegen umfassende Gesundheitsschutz-Maßnahmen stellen würden, dürfte kaum überraschen. Dass aber dort mit Falschinformationen hantiert wird und dass diese eine so hehre Wissenschaftsvereinigung nötig hat, erstaunt schon. So beispielweise wurde behauptet, Schulschließungen hätten währen der spanischen Grippe keinerlei positive Wirkungen gezeigt. Genau das Gegenteil war der Fall: Eine sehr genaue historisch-epidemiologische Studie konnte zeigen, dass Schulschließungen eines der wirksamsten Mittel der Pandemiebekämpfung waren. (…) Die gegenwärtige Pandemie hat nicht nur Wirtschaftsliberale, sondern auch einen relevanten Teil der fachphilosophischen Community motiviert, den Konflikt Freiheit versus Gesundheit zu re-thematisieren, dies jedoch in einer eher gegen die Virchowsche Sicht gerichteten Weise. Paradigmatisch hierfür steht Markus Gabriel, Ordinarius für Philosophie an der Universität Bonn. Gabriel leugnet nicht die Pandemie, schätzt sie aber im Vergleich zum Robert-Koch-Institut als weniger gefährlich ein. Er ist erstaunt und beunruhigt darüber, dass die Einschränkungen unserer Bewegungs- und Versammlungsrechte von der Mehrheit der Bevölkerung so fraglos hingenommen werden. Sorge macht ihm die obrigkeitsstaatliche Mentalität, der er ein Plädoyer für die Freiheit entgegenhält: „Wir müssen lernen anzuerkennen, dass wir frei sind. Dass einige Menschen sterben werden (…), ist der Preis unserer Freiheit.“ (…) Ein erneuter Blick in die Philosophiegeschichte zeigt allein schon die Schwierigkeit des Freiheitsbegriffs. Die Aufklärer unterschieden zwischen negativer und positiver Freiheit, d.h. zwischen der Freiheit vom Zwang staatlicher oder sonstiger Einflüsse, und der Freiheit, etwas zu tun im Kontext des gesellschaftlichen Miteinanders. Die negative Freiheit ist die Vorrausetzung dafür, aus den Fesseln der gegebenen Verhältnisse herauszukommen und handelnd in den geschichtlichen Prozess einzugreifen. Dieses Handelns kann als Übergang zur positiven Freiheit verstanden werden. Kant, Hegel, Marx, aber auch Kierkegaard schränken freilich die positive Freiheit –unter dem verkürzten Schlagwort „Einsicht in die Notwendigkeit“ –auf das dem Stand der naturhaften und gesellschaftlichen Entwicklung gemäß Mögliche ein. (…) Die Corona-Pandemie fordert zu grundlegenden Fragen heraus. Heinrich Niemann, ehemals Facharzt für Sozialmedizin in der DDR, schrieb unlängst einen bemerkenswerten Artikel in der Berliner Zeitung, der von der Bundeszentrale für politische Bildung auf ihre Homepage gestellt wurde. Niemann hält der momentanen Bundes- und Länderpolitik ihren chaotischen und teilweise völlig kontraproduktiven Maßnahme-Schlingerkurs vor, der das Großkapital subventioniert und die unteren sozialen und prekär existierenden Schichten massiv benachteiligt. Er fordert, endlich den Gesundheitsschutz als Grundrecht in die Verfassung aufzunehmen. Dieses Grundrecht sollte durch die staatliche Pflicht zur planmäßigen Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse untermauert werden. Weiter heißt es: „Eine der wichtigsten politischen Forderungen ist, das Gesundheitswesen (endlich) zu verändern, ja, zu verstaatlichen. Das hieße, es aus den Fesseln einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft zu befreien. Denn dann könnten wir schneller und effektiver auf außergewöhnliche Aufgaben wie eine Epidemie reagieren. (…) Das Problem freilich ist die Begrenzung unseres Denkens, unserer Phantasie und unserer Visionen – eine Begrenzung, die uns die materielle, symbolische und imaginäre Ordnung der Gesellschaft auferlegt und die nur durch ungemein anstrengende politische Initiativen durchbrochen werden können…“ Aus dem Beitrag von Wolfgang Hien vom 12. März 2021 externer Link bei AGL e.V. 
  • Eisenhüttenstadt: Quarantäne-Verweigerer im ehemaligen Abschiebeknast, 17 von 18 keine deutschen Staatsbürger – Innenausschuss des Landtags debattiert über etwaigen Rassismus in Gesundheitsämtern 
    „Wenn sich jemand in Brandenburg hartnäckig nicht an die häusliche Quarantäne hält, nachdem er sich mit dem Coronavirus infiziert hat oder als Kontaktperson eines Infizierten festgestellt ist, dann landet er in der einstigen Abschiebehaftanstalt von Eisenhüttenstadt. Sie wird für ihren ursprünglichen Zweck wegen diverser Mängel nicht mehr benutzt. Doch sie ist extra renoviert worden, um störrische Quarantäne-Verweigerer aufnehmen zu können. Die »gröbsten Mängel« seien beseitigt worden, erklärte Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Mittwoch im Innenausschuss des Landtags. Seit Juni vergangenen Jahres sind 18 Unverbesserliche für die restliche Laufzeit ihrer Absonderung in das alte Abschiebegefängnis gesteckt worden. 17 von ihnen waren keine deutschen Staatsbürger, einer schon, aber der hatte Migrationshintergrund. Die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) schließt aus der Tatsache, wer da in diesem gesicherten Gebäude auf dem Gelände der zentralen Ernstaufnahme für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt festgehalten worden ist, dass bei der Einweisung Vorurteile eine Rolle spielen müssen. »Es kann mir niemand erzählen, dass es keine hartnäckigen Quarantäne-Verweigerer mit deutschem Pass gibt«, sagte sie. Die Wahl des Ortes sei verkehrt. Hier wollen die Gesundheitsämter »gute deutsche Querdenker« offensichtlich nicht unterbringen, meinte die Abgeordnete. »Scheinbar hat die Landesregierung null Sensibilität in Fragen rassistischer Diskriminierung.«…“ Artikel von Wilfried Neiße vom 10. Januar 2021 in neues Deutschland online externer Link – siehe dazu:

    • Für Quarantäne-Brecher Im Norden geht der erste Corona-Knast in Betrieb
      Im Norden müssen Quarantäne-Brecher bald hinter Schloss und Riegel: Der erste „Corona-Knast“ geht in diesen Tagen in Neumünster (Schleswig-Holstein) in Betrieb. Auch in Hamburg sollen die schlimmsten Regelbrecher bald eingebunkert werden. In der Einrichtung, die in einem separaten Gebäude untergebracht wird, können laut „SHZ“-Informationen insgesamt sechs Personen untergebracht werden. Diese werden demnach von 30 Beamten im Ruhestand im Drei-Schichten-System betreut. Landkreis-Chef Sönke Schulz erklärte der „SHZ“, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung leide, „wenn die Nichteinhaltung von Vorgaben ohne Konsequenzen bleibt.“ Ob ein Quarantäne-Brecher in eine solche Einrichtung muss, ist aber in Schleswig-Holstein wie bundesweit von einem Richterbeschluss abhängig. Zudem muss es einen triftigen Grund wie einen wiederholten Verstoß gegen die Auflagen oder eine strikte Weigerung geben. Bereits am Sonntag hatte die „Welt“ berichtet, dass mehrere Bundesländer die Einrichtung solcher zentralen Unterbringungsstellen für Corona-Regelbrecher planen…“ Artikel von Pauline Reibe vom 18.01.21 in der Hamburger Morgenpost online externer Link
    • Siehe auch Nelli Tügel am 18.1.2021 auf Twitter externer Link: „Das darf nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Wir müssen was dagegen unternehmen. Das ist der komplett falsche Weg“ und die die darauf folgenden Kommentare
  • Wegen unklaren räumlichen Geltungsbereichs: BayVGH kippt 15-km-Regelung für Corona-Hotspots [Tragepflicht für FFP2-Masken gilt in Bayern weiterhin] 
    „… Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat die umstrittene 15 Kilometer-Regel für Bewohner von sogenannten Corona-Hotspots vorläufig außer Vollzug gesetzt. Das Gericht gab damit am Dienstag einem Eilantrag aus Passau statt (Beschl. v. 26.1.2021, Az. 20 NE 21.162). Zugleich bestätigten die Richter die bayernweite FFP2-Maskenpflicht vorläufig (Beschl. v. 26.1.2021, Az. 20 NE 21.171). Die Menschen in Bayern müssen damit in Bussen und Bahnen sowie in Geschäften weiter FFP2-Masken tragen. (…) Das höchste bayerische Verwaltungsgericht argumentierte nun, dass das Ausflugsverbot aller Voraussicht nach gegen den Grundsatz der Normenklarheit verstoße. Für die Betroffenen sei der räumliche Geltungsbereich des Verbots touristischer Tagesausflüge über einen Umkreis von 15 Kilometern um die Wohnortgemeinde hinaus nicht hinreichend erkennbar. Die textliche Festlegung eines 15-Kilometer-Umkreises sei nicht deutlich und anschaulich genug. Auf die Frage der Verhältnismäßigkeit kam es somit in dem Eilverfahren nicht mehr an. Die Befugnis der von hohen Infektionszahlen betroffenen Kommunen, eine Einreisesperre für touristische Tagesausflüge anzuordnen, bleibt aber der Pressemitteilung zufolge bestehen. Die Entscheidung des Senats gilt bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache. Ähnlich wie die bayerischen Richter sahen es letzte Woche bereits die Kollegen des VG Wiesbaden. Sie bemängelten ebenfalls die fehlende Klarheit und Bestimmtheit der dortigen 15 km-Regelung und setzten sie vorläufig außer Vollzug. (…) Einen Eilantrag einer Privatperson aus dem Regierungsbezirk Schwaben gegen die FFP2-Masken-Pflicht wies der BayVGH jedoch zurück. Diese Masken böten voraussichtlich gegenüber medizinischen oder sogenannten Community-Masken einen erhöhten Selbst- und Fremdschutz, argumentierten die Richter. Deshalb bestünden gegen ihre Eignung und Erforderlichkeit zur Bekämpfung der Corona-Pandemie keine Bedenken. Gesundheitsgefährdungen seien vor allem wegen der begrenzten Tragedauer nicht zu erwarten. Grundsätzlich seien die Aufwendungen für die Anschaffung der Masken zumutbar.“ Meldung vom 26. Januar 2021 bei Legal Tribune Online externer Link
  • Verschärfung der Corona-Maßnahmen: Die Inkonsistenz ist unverschämt
    „Der Lockdown wird strenger, aber nicht für alle: Ein Kinderspaziergang wird inzwischen härter reguliert als die Arbeitsplätze. Die Leute haben die Schnauze voll von solcher Unlogik. Doch ihr Zorn wird unterschätzt. (…) Nicht wenige Gastronomen, Geschäfte, Kulturbetriebe haben im Sommer unglaublich viel Geld investiert, Belüftungsanlagen, Hygienekonzepte, Mitarbeiterschulungen, und jetzt müssen sie schließen, selbst Außenflächen, Karl Lauterbach fordert »unbefristet«, bis die Zahlen sinken. Dagegen kann jeder neuntklassige Chef ganz legal seine Mitarbeitenden im Büro antreten und acht Stunden anderthalb Meter voneinander entfernt maskenlos arbeiten lassen. Diese Inkonsistenz ist unverschämt. Auch in der jüngsten Beschlussfassung steht wieder: »Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dringend gebeten, großzügige Homeoffice-Möglichkeiten zu schaffen«. Dringend gebeten, das ist bei tausend Toten am Tag labberiger als die Pizzapappe nach einer großen Hawaii mit extra Ananas. Und es gibt ja, für alle erkennbar, auch außerhalb der Arbeitsstätten Folgen dieser Aussparung bei allen bisherigen Lockdown-Maßnahmen: In Berlin etwa sind die S-Bahnen oft rappelvoll und die Zahl der Personen ohne Maske bedenklich. (…) Wenn dann auch noch regelmäßig Bilder von Corona-Leugner-Demos durch die Medien fliegen, wo die Polizei nicht auch nur das Allergeringste gegen mangelnden Abstand und fehlende Masken unternimmt – dann handelt es sich um ein fatales Symbol: Die Regeln und ihre Durchsetzung richten sich nur dann nach einer wissenschaftlichen Logik, wenn es reinpasst und geringen Widerstand verspricht. Dort aber extra hart, vor einiger Zeit sah ich, wie in einer Berliner Straße mit Maskenpflicht nicht bemaskte Radfahrende Strafen zahlen mussten. (…) Es gibt gute Gründe dafür, Schulen so lange wie möglich offen zu lassen, und man muss sich solche Entscheidungen nicht zu einfach machen – aber dann bitte nicht mit der pathetischen Begründung, dass der Ausfall des Präsenzunterrichts zu irreparablen Bildungsschäden in den Kinderköpfen führe. Fünfzehn Jahre absichtsvolles Ignorieren der Digitalisierung – das hat Schäden hinterlassen. Und die haben sich in der Pandemie noch verstärkt. (…) Gerade dort, wo Vertrauen die wichtigste Währung ist, weil man sich im Auftrag der Regierung brandneues Gen-Zeugs in die Adern jagen lassen muss, um die Welt zu retten. Sollte das Unternehmen Corona-Impfung zum Berliner Flughafen der Pandemie werden –dann ahnen wir immerhin, warum.“ Kolumne von Sascha Lobo vom 6. Januar 2021 beim Spiegel online externer Link
  • Scheiß auf Selfcare – warum die Medien in der Corona-Pandemie die Marketingkampagne der deutschen Wirtschaft mittragen
    „Auf den Kapitalismus ist Verlass: Gib ihm egal was – eine tödliche Pandemie, zum Beispiel – und er verwurstet es zu seinem Vorteil. Und verkauft dir das obendrein als Superchance für dein Leben. Nehmen wir dieses grassierende Gerede von Entschleunigung: Nichts anderes als eine clevere Marketingkampagne, um den sozialen Druck, der auf vielen Menschen lastet, zu kaschieren. Und die ihnen obendrein die Verantwortung für ihr pandemiebedingtes Leistungstief in die Schuhe schiebt. Momentan haben wir hohe Infektionszahlen und sitzen in einem Lockdown, der mit Ansage kam. Man hätte vernünftigerweise schon im November alles dichtmachen müssen. Aber nein, die Wirtschaft! Der Einzelhandel! Das Weihnachtsgeschäft! Wir durften also malochen und shoppen; alle andere Tätigkeiten, die keinen Umsatz generierten, waren verboten. Und jetzt dürfen wir nur noch malochen. Im Politikersprech klingt das so: »Wir müssen die Wirtschaft am Laufen halten.« Beim Arbeiten darf man sich ruhig mit Covid infizieren; das ist völlig in Ordnung. Man hat sich sozusagen rechtschaffen infiziert, nicht bei so überflüssigen Dingen wie Geburtstagsfeiern oder Sport. Das muss man den Leuten aber erstmal vermitteln. Es gibt einen gewissen logischen Bruch, wenn man zwar keine Freund*innen treffen soll, wohl aber am Fließband oder in der Schlange beim Supermarkt stehen darf. Obwohl unser Sozialleben wegbricht und die Kinderbetreuung auf Null geht, soll gewährleistet sein, dass unsere Arbeitsleistung konstant bleibt. Deswegen wird uns das gähnende Loch in unserem Privatleben und die notwendige Beschränkung des Radius auf unsere Wohnung als »Wellness« verkauft: Diese Entschleunigung tut doch so gut, endlich keine Hetze, schön zur Ruhe kommen – hier, trink noch einen Superfood-Smoothie. Um danach mit maximaler Arbeitskraft das Bruttosozialprodukt zu steigern. Entschleunigung im Lockdown ist super – unter ein paar Voraussetzungen: Erstens braucht man einen Job, in dem man überhaupt Home Office machen kann. Zweitens eine große Wohnung, so dass man nicht am Küchentisch arbeiten muss, den man sich mit noch weiteren Heimarbeitenden teilen muss. Dritte Voraussetzung: Man muss nicht gleichzeitig schulpflichtige Kinder betreuen. Und viertens: Man muss psychisch stabil genug sein, um die soziale Isolation zu ertragen. »Wir müssen die Wirtschaft am Laufen halten« ist ebenso wie »der Markt regelt das« ein Mantra, eine magische Beschwörungsformel, die von Regierenden und Vorstandsvorsitzenden vorgebetet wird, und die Medien beten sie nach. Eine Religion mit Friedrich Merz als Hohepriester…“ Kommentar von Sheila Mysorekar vom 6.1.2021 in neues Deutschland online externer Link
  • Die Seuche und das Ungeheuer – Thesen zum Staat in der Pandemie
    „Die Covid-19-Pandemie hat den Staat ins Rampenlicht gerückt. Kontaktbeschränkungen, Grenzkontrollen, Einschnitte in die Gewerbefreiheit und riesige Konjunkturpakete sind nur einige der aufsehenerregenden Maßnahmen, mit denen Staaten weltweit versuchen, der Seuche und ihrer Auswirkungen Herr zu werden. Doch die erhöhte Prominenz des Staats in der Krise führt nicht automatisch zu einem klareren Blick auf diesen. Im Gegenteil hat die Krise zur Verbreitung verschiedener Illusionen über den Staat beigetragen. Diese zirkulieren quer durch die politischen Lager, in der Linken und der Rechten, unter Befürwortern und Kritikern des derzeitigen Staatshandelns. Sie befeuern nicht nur die Proteste der Coronaleugner, sondern haben auch zur weitgehenden Paralyse der Linken in den vergangenen Monaten beigetragen. (…) Die Regierungen stehen vor der Schwierigkeit, die Gesundheitskrise eindämmen zu müssen, ohne es mit den wirtschaftlichen Einschränkungen zu weit zu treiben. (…) Im Kern ist der bürgerliche Staat weder eine bloße Repressionsmaschine noch ein Wohltätigkeitsverein. Der moderne Staat ist zuallererst ideeller Gesamtkapitalist, das heißt er ist »nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten« (Friedrich Engels). Sowohl der Zweck des bürgerlichen Staats, die »allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten«, als auch seine dafür ausgebildeten Organe gliedern sich jeweils vielfach auf. Damit etwa die in gesellschaftlicher Arbeitsteilung, aber privat produzierten Waren ausgetauscht werden können, bedarf es eines allgemein anerkannten Tauschmittels. Für die materielle Zirkulation von Waren von A nach B bedarf es einer Infrastruktur wie Straßen, Schienennetz, schiffbare Gewässer. Die wichtigste Zutat ist jedoch die menschliche Arbeitskraft. Auf deren Ausbeutung beruht die Akkumulation von Kapital. Die Aufrechterhaltung des Kapitalismus setzt somit die permanente Verfügbarkeit von eigentumslosen, einsatzfähigen, geeigneten Arbeitskräften voraus. Früher oder später werden Menschen so krank und gebrechlich, dass sie aus der workforce ausscheiden. Aus der Perspektive des Kapitals müssen diese Arbeitskräfte ersetzt werden. Es verlangt nach der »Verewigung des Arbeiters« (Karl Marx). Dafür sind Pflege und Fortpflanzung notwendig. Denn mag das Kapital auch als selbstbezügliches »automatisches Subjekt« (Marx) erscheinen, so ist sein Fortbestand doch abhängig von der Einsaugung frischer lebendiger Arbeit. Entscheidend ist daher die »Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. (…) Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals.« (Marx) (…) Da Muskeln, Nerven, Knochen und Hirn der Arbeiterinnen und Arbeiter die unentbehrlichsten Produktionsmittel des Kapitals sind, handelt es sich bei »Wirtschaft« und »Gesundheit« nicht um gegensätzliche Werte, zwischen denen der Staat als ideeller Gesamtkapitalist einfach wählen könnte. Vielmehr ist ein gewisser Grad an »Gesundheit« unentbehrliche Bedingung für »die Wirtschaft«…“ Beitrag von Johannes Hauer und Marco Hamann vom 7. Januar 2021 aus Jungle World 2021/01 externer Link
  • Unser Zitat zum Thema: …und hier noch einmal die wichtigste Corona-Regel: Wenn sich drei Menschen aus unterschiedlichen Haushalten in einem Raum treffen, ist das streng verboten und wird mit einer hohen Geldbuße bestraft. Wenn sich dagegen jeden Tag dreitausend Beschäftigte in einer Fabrikhalle treffen, ist das erlaubt. – Weil den Unternehmern die Fabrikhalle gehört – …und die Beschäftigten.“ Quelle: Deutsche Einheit(z)-Textdienst 1/21
  • Ein Diskussionsbeitrag: Corona und die (radikale) Linke 
    „Momentan lassen die Herrschenden uns die Folgen einer durch den Kapitalismus mit hervorgerufenen Pandemie ausbaden. Dies zeigt sich ganz besonders brutal in diesem zweiten „Social Lockdown“ in Deutschland (dieser Text wurde vor dem „harten“ Lockdown geschrieben). Den Menschen ist es faktisch nur noch erlaubt zu konsumieren und zu arbeiten. Soziale Kontakte sind zwar nicht gänzlich verboten, aber nur stark eingeschränkt erlaubt, obwohl von jeglichem Kontakt abgeraten wird. In Ländern, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, ist es noch brutaler, denn da dürfen die Menschen nicht einmal ohne Erlaubnis nach draussen. Das Leben ist banalisiert auf seine kapitalistische Verwertbarkeit. „Gesundheitsmanagement“, „Public Health“ und „Gesundheitspolitik“ sind dabei die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Kapitalismus der Pandemie diese Verwertbarkeit aufrechterhalten. Seitdem Covid-19 im März zu einer offiziellen Notlage wurde, scheint sich der Diskurs auf zwei Positionen verengt zu haben. Entweder man „nimmt Corona ernst“, das heisst man folgt weitestgehend allen staatlichen Massnahmen, oder schränkt sogar noch weitergehend sein Leben ein, um damit nicht selbst verantwortlich zu sein die Pandemie voranzutreiben. Oder man „nimmt Corona nicht ernst“ und ist damit Corona-Leugnerin, unverantwortlich und Verschwörungsideologin. Doch weder heissen wir es gut, wenn Menschen nach (autoritären) Führerinnen rufen noch sollten wir es stillschweigend hinnehmen, wenn der Staat unser Leben bis in die letzten Ecken versucht zu kontrollieren, während die Menschen weiter fürs Kapital schuften dürfen. Als (radikale) Linke ist es unsere ureigenste Aufgabe eine dritte Position zu entwickeln, die sich jenseits der vorherrschenden Rationalitäten befindet: Jenseits von staatlicher „Moral“; neoliberaler Selbstverantwortung und dem Recht des Stärkeren und autoritären Antworten. Auch in der Linken wird häufig nur ein für oder wider der Massnahmen diskutiert. Streitet man jedoch für die Massnahmen macht man sich mit dem Staat gemein. Dabei wissen wir, dass es dem Staat niemals um das individuelle Wohl der Menschen geht. Es geht ihm lediglich darum, das System am Laufen zu halten, dafür braucht es einen gesunden Bevölkerungskörper. Natürlich gibt es auch hier widerstreitende Interessen. So fokussieren einige eher auf die Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser, wieder andere auf die Aufrechterhaltung der Wirtschaft. Gemeinsam ist diesen Interessen jedoch, dass sie einen Status Quo (der einigermassen unter Kontrolle stehenden Pandemie) aufrechterhalten oder wiederherstellen wollen (Kapitalismus ohne Corona). Wir lehnen jedoch jeden Status Quo ab! Eine (radikale) Linke, die sich aktiv für die staatlichen Massnahmen ausspricht, kämpft für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus, lediglich ohne Covid-19.(…) Unsere Logik ist die von Überleben & Leben. Das heisst nicht, dass man sich dem Maske tragen grundsätzlich verweigert oder Partys mit vielen Menschen feiert. Es heisst, dass man immer wieder anhand der eigenen linken und kollektiv entwickelten Massstäbe abwägt. Im Alltag heisst das: Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen. Im herrschenden Diskurs erscheint die Corona-Pandemie wie ein höheres Übel, das über uns gekommen ist und das es nun zu beherrschen gilt. Hierfür ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass das Corona-Virus eben genau dies nicht ist. So haben zahlreiche Studien und Forschungen der letzten Jahrzehnte bereits gezeigt, dass die kapitalistische Landwirtschaft und die Urbanisierung der Gesellschaften das Entstehen und die schnelle Verbreitung von Viren hervorruft und rasant befördert. (…) Als radikale Linke müssen wir hiergegen aufbegehren und wie sollen wir dies tun, wenn wir uns aus dem öffentlichen Raum verabschieden und ihn den Rechten überlassen? Wenn wir für die Menschen nicht greifbar, nicht ansprechbar im materiellen Sinne sind? Also lasst uns nicht über das Für und Wider „der Massnahmen“ im medizinischen oder virologischen Sinne streiten. Lasst uns stattdessen analysieren, welchen Effekt sie auf die Gesellschaft haben, ob sie Errungenschaften linker Kämpfe einschränken und ob sie linken Prinzipien entgegenstehen und sie entsprechend kritisieren. Denn mit uns ist kein Staat zu machen!“ Diskussionsbeitrag von Maria von M. vom 30. Dezember 2020 beim untergrundblättle.ch externer Link
  • Corona-Lockdown: Wie man Kritik an den Regeln üben kann und trotzdem kein „Querdenkender“ wird
    „… Kürzlich, bei einer Livediskussion im Internet, fragte einer der Zuhörenden: Was sollen eigentlich Leute machen, die an der Corona-Politik der Regierung zweifeln, aber keine Lust haben, an der Seite von Nazis zu demonstrieren? Wo ist der Ort, an dem man ohne Verschwörungsgerede diskutieren und sich öffentlich äußern kann? (…) Der Rechtsanwalt und Bürgerrechtler Rolf Gössner hat sich schon im April an der notwendigen Differenzierung versucht. In einem Aufsatz, der ein halbes Jahr später in aktualisierter Form als Broschüre erschien, sah er sich gleich zu Beginn zu folgender Klarstellung genötigt: „Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, ist angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll.“ Solche Selbstverständlichkeiten muss heute offenbar klarstellen, wer sich an eine fundierte Kritik des politischen Handelns wagt. Zu groß erscheint sonst die Gefahr, in die Ecke der „Querdenkenden gerückt zu werden. Was bei Rolf Gössner folgt, ist eine differenzierte Kritik nicht an allen, aber eben an übermäßigen oder zumindest fragwürdigen Eingriffen in die Freiheitsrechte. Er erinnert daran, dass erst das Bundesverfassungsgericht dem allzu raschen Verbieten von Demonstrationen (etwa gegen Rassismus oder die Flüchtlingspolitik) ein Ende machte. Er vergisst dabei nicht zu erwähnen, dass das Demonstrationsrecht auch bei skurrilen Forderungen gilt, wie sie die „Querdenken“-Gruppen vertreten – ungeachtet der Selbstverständlichkeit, dass Gesetzesverstöße bei solchen Aufmärschen geahndet werden müssen. Gössner, ein ausgewiesener Linker, verteidigt also das Demonstrationsrecht – und damit die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit – auch für diejenigen, die ununterbrochen behaupten, das links-grüne Establishment wolle ihnen eben diese Meinungsfreiheit streitig machen. In einem hervorragenden, gut lesbaren Aufsatz für die Fachzeitschrift „Aptum“ hat der Germanist Nils Dorenbeck diesen Vorwurf der mehr oder weniger rechten Szene, den er mit Recht „läppisch und larmoyant“ nennt, in einem einzigen Satz entlarvt: „Solchen Auffassungen liegt offenkundig ein Begriff zugrunde, der Meinungsfreiheit als eine Garantie des Freibleibens der eigenen Meinungsäußerung vom Widerspruch durch andere definiert.“ Der Aufsatz ist im Internet kostenlos nachzulesen. (…) Aber zurück zu Rolf Gössner: Auch Einschränkungen wie das Verbot, die Wohnung ohne „triftigen Grund“ zu verlassen, „sind weder aus epidemiologischer Sicht erforderlich, noch sind sie verhältnismäßig“, schreibt der Rechtsanwalt und stellt fest: „Der Lockdown hätte also tatsächlich nicht so drastisch ausfallen müssen.“ Ob das stimmt, darüber kann und muss gestritten werden. Aber genau das ist es, worum es dem Juristen vor allem geht: Auch wenn Vergleiche mit Diktaturen oder gar dem Naziregime unsinnig sind und historische Verbrechen verharmlosen, droht sich in die Pandemiepolitik ein Hauch von autoritärem Gebaren einzuschleichen. Gössner: „Das Krisenmanagement und die Bekämpfungsstrategie gehören überprüft, Verhältnismäßigkeit, Transparenz und Diskurs sind in jeder Krisenphase gefordert.“ Das ist nicht leichter geworden im Angesicht der aktuellen Infektionszahlen. Aber gerade jetzt erscheint der kritische Diskurs jenseits von Verschwörungsmythen dringender denn je…“ Artikel von Stephan Hebel vom 15. Dezember 2020 in der Frankfurter Rundschau online externer Link
  • Das linke Unbehagen in der Krise
    „… Wie lässt sich also die Kritik an überbordender Kontrolle in Pandemiezeiten führen, ohne im Gefolge des Obskurantismus der Hobby-Virolog*innen, der Gates-Verschwörungen und Impfgegner*innen zu landen? (…) Ein Blick zurück hilft manchmal mehr als eine detaillierte Gegenwartsanalyse mit Interessenskonflikten bei der Weltgesundheitsorganisation, dem Streit der Virologen um das richtige Maß des Lockdowns und die Eitelkeiten der Ministerpräsident*innen, mit möglichst radikalen (oder großzügigen) Lösungen als bester Landesvater oder Landesmutter dazustehen. Überraschende Ähnlichkeiten zu den heutigen Debatten lassen sich bei der neu auftauchenden AIDS-Epidemie der 80er Jahre finden. Auch hier wurde besonders in den Anfangsjahren die Frage um das HI-Virus und seine Folgen nicht weniger heftig ausgetragen als heute die Coronavirus-Debatten. Die Fragen nach dem Ursprung des Virus, nach seiner Übertragbarkeit und auch nach seiner tatsächlichen Gefährlichkeit waren längst nicht unumstritten, sondern führten ganz genau wie bei Covid19 zu heftigen Kontroversen. Neben dem schließlich geklärten Ursprung des Virus im tropischen Afrika (eine klassische „Zoonose“ mit Ursprung in Menschenaffen, die sich über die zunehmende globale Mobilität der Menschen ab Ende der 70er Jahre verbreitete) waren lange auch Vermutungen im Umlauf, HIV sei in einem geheimen Forschungslabor der US-Armee entstanden und von dort wissentlich oder versehentlich in Umlauf gekommen. Eine klassische Verschwörungsthese, die, wie man heute weiß, auch vom russischen Geheimdienst mit in Umlauf gebracht wurde. Und die jetzt für das SARS-CO19 Virus eine chinesische Parallele in Wuhan bekommen hat. Auch die ursächliche Wirkung des Virus bei der Immunschwäche der AIDS-Kranken wurde noch viele Jahre nach den ersten registrierten Fällen in den USA in Frage gestellt. Wahlweise waren es die vielen Drogen, der viele Sex, die anfänglichen, unzureichenden Therapieversuche mit antiviralen Medikamenten, die Unterernährung der Armen in Afrika oder die Furcht vor der Infektion, die das Immunsystem zusammenbrechen ließen. Auch damals gab es „mundtot gemachte Wissenschaftler“, die die Forschungsergebnisse der Mainstream Wissenschaft anzweifelten. AIDS-Rebellen folgten unbeirrt dem Verdacht, dass in erster Linie (Pharma-) Profitinteressen hinter den Tests und den Medikamenten stünden, obwohl gleichzeitig die moralische Verurteilung von Homosexualität und Drogengebrauch gerade die Forschung an Therapien und Impfungen gegen HIV behinderte. Der Zugang zu den Behandlungen musste gegen den Widerstand vor allem der US-Regierung von AIDS-Aktivist*innen durchgesetzt werden. Das extremste Beispiel der fatalen Wirkungen solcher obskuren, und selbst von Interessen geleiteten „Aids-Mythen“ spielte sich dann Anfang der 2000er Jahre in Südafrika ab: Der deutsche Arzt und Vitaminverkäufer Dr. Rath wurde zum faktischen Chefberater des Präsidenten Thabo Mbeki und seiner Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang. Die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Medikamente verhindterte für mehrere Jahre der Start eines wirksamen Behandlungsprogramms – was nach Schätzungen der lokalen Aids-Aktivist*innen der Treatment Action Campaign mehreren 10.000 Südafrikaner*innen das Leben kostete. (…) Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Aspekten der AIDS-Pandemie war aus emanzipatorischer Perspektive, den subjektiven Blick nicht aufzugeben. Eine Haltung einzunehmen, die die Menschen nicht als Objekt einer (sei es autoritär-strafenden oder verantwortlich-fürsorglichen) top-down Belehrung und Kontrolle sieht, sondern sie in ihren oft auch widersprüchlichen Bedürfnissen und Haltungen ernst nimmt und sie partizipativ einbezieht in die Bewältigung der Krise…“ Artikel von Andreas Wulf vom 14. Dezember 2020 in Der Freitag online externer Link
  • Menschenrechte, Demokratie und Diskussionskultur im Ausnahmezustand
    „… Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, ist angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Insoweit scheinen Bundesregierung, Landesregierungen und eine recht disziplinierte Bevölkerung, gemessen an Verlauf, Ausmaß und Folgen der Epidemie, prima facie vieles richtig gemacht zu haben – jedenfalls ist die Bundesrepublik Deutschland im internationalen, auch europäischen Vergleich relativ glimpflich davon gekommen. Wie viel Glück dabei eine Rolle spielte und welchen Anteil welche staatlichen Maßnahmen daran hatten, lässt sich bislang jedoch nicht mit Sicherheit sagen und wird womöglich auch künftig unerfindlich bleiben. Trotz dieser Unwägbarkeit sollten wir die alptraumhafte Situation im Gefolge des neuartigen Corona-Virus und der rigorosen Abwehrmaßnahmen kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen – gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Maßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Unsicherheit, Angst und Anpassung, wie sie immer noch zu verzeichnen sind. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Corona-Abwehrmaßnahmen im Lockdown-Modus (März/April 2020) und auch manche spätere Maßregel unstreitig auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage und widersprüchlicher Begründungen verhängt worden sind. (…)Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollten im Kern schon frühzeitig – es war Mitte April 2020 – dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und in einer Zeit großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte. Eine solche Debatte, wie sie mittlerweile durchaus in allen möglichen Facetten stattfindet, litt und leidet leider noch immer und immer wieder unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung: „Wer dieser Tage von Freiheitsrechten spricht“, so Charlotte Wiedemann bereits Ende März 2020 in der „taz“, „wird leicht der Verantwortungslosigkeit bezichtigt (…). Und überhaupt: Kritik ist nicht an der Zeit! (…) Auch die Medien stehen unter Konformitätsdruck.“ Und ein Ende ist immer noch nicht abzusehen – auch wenn Skepsis und Gegenstimmen längst lauter geworden sind und sich mitunter skurril bis gefährlich verirren. Bei so viel immunschwächender, auch leicht manipulierbarer Angst und selten erlebter Eintracht waren und sind weiterhin Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und autoritärer Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich kennzeichnet das eine lebendige Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch die Zukunft schwer belasten…“ Auszug / Prolog bei Telepolis am 27. Dezember 2020 aus Rolf Gössners Broschüre externer Link „Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu „neuer Normalität“ und den Folgen“ (52 Seiten), erschienen bei Ossietsky Anfang November 2020 zum Preis von 3 Euro
  • Wen soll das schützen? Die landesweiten Ausgangsverbote sind verfassungswidrig 
    „Trotz unabweisbarer verfassungsrechtlicher Bedenken erleben landesweite Ausgangsverbote seit der Ministerpräsident*innenkonferenz vergangenen Sonntag ein Comeback. In ganz Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen darf die Wohnung bereits nur noch mit triftigem Grund verlassen werden und es ist anzunehmen, dass weitere Verordnungsgeber bald nachziehen. Angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens ist nachvollziehbar, dass die Entscheidungsträger*innen Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die untertägigen Ausgangsverbote können hierzu allerdings keinen Beitrag leisten, da verfassungskonform praktisch jeder sachliche Grund den Ausgang erlauben muss. Nächtliche Ausgangsverbote sind offensichtlich übermäßig, weil einem massiven Eingriff ein höchstens rudimentärer infektionsschutzrechtlicher Nutzen entgegensteht. Dieser Grenznutzen wird dabei mittels einer solch hypothetischen Kausalitätserwägung erkauft, dass ein derart enges Ausgangsverbot selbst in den ersten Wochen der Pandemie nicht erforderlich gewesen wäre. Im zehnten Monat der Corona-Verordnungen ist es jedenfalls nicht mehr von der Einschätzungsprärogative der Exekutive erfasst. (…) Anhaltende Eingriffe in die Grundrechte haben mit dem Zeitablauf eine irreversible Komponente, weshalb regelmäßig gefordert wird, dass mit anhaltender Dauer umso genauer zwischen den betroffenen Rechten abgewogen werden muss. Bei langfristigen, zusammenhängenden Eingriffen ist daher eine Gesamtbetrachtung der miteinander im Zusammenhang stehenden Maßnahmen erforderlich. Im nunmehr zehnten Monat, in dem die Exekutive zur Pandemiebekämpfung praktisch jeden Lebensbereich detailliert reguliert, folgt aus der langen Dauer nicht nur ein formeller Begründungsaufwand für den Staat, sondern die betroffenen Rechte sind auch materiell umso stärker belastet. Eine immer genauere Differenzierung zwischen Art des Eingriffs und Adressat der Maßnahme, wie sie nach klassischer verfassungsrechtlicher Kategorisierung gefordert wird, ist nicht zu erkennen, wenn die nächtlichen Ausgangsverbote noch strenger als im Frühjahr pauschal auf Millionen von Normadressaten Anwendung finden. (…) Dem massiven kollektiven Grundrechtseingriff steht ein nur theoretisch konstruierter Schutz entgegen…“ Kommentar von Felix Schmitt vom 18. Dezember 2020 beim Verfassungsblog externer Link – ist vor allem für jene hilfreich, die u.U. hier Probleme mit Ordnungsämtern bekommen
  • Das Virus, der Kapitalismus und wir 
    „… Bei aller Unwissenheit, wie das Virus „tickt“, weiß man ganz Grundsätzliches über die Verbreitung von Viren und die Möglichkeit, sich davor so gut es geht zu schützen. Unbestritten gehören dazu Abstandhalten und gegebenenfalls das Tragen eines Mundschutzes. Man weiß noch etwas ziemlich sicher: Das Virus überträgt sich in geschlossenen Räumen besonders gut, bei einer langen Verweildauer in diesen und wenn sich dort viele aufhalten. Wenn man also Kontakte reduzieren muss, dann macht man das vernünftigerweise dort, wo diese Kriterien erfüllt werden. Ahnen Sie, was dabei herauskommt? Es ist nicht der Freizeit- und Privatbereich. Es ist der Arbeitsbereich. Dort ist man oft mehr als acht Stunden zusammen. Dort arbeitet man für gewöhnlich in geschlossenen Räumen, dort ist man im Stress und wenig aufmerksam. Wenn man die Kontaktparty im „Wirtschaftsleben“ mit dem vergleicht, was die Menschen nach der Lohnarbeit noch anstellen, dann ist das verdammt gering. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man das Fazit zieht, dass 80 Prozent der Kontakte im Arbeitsleben stattfinden. Der Lockdown, die Einschränkungen finden aber nicht dort statt! Was man also an Kontakten im Freizeit- und Privatbereich verbietet, sanktioniert oder einschränkt, hat nichts mit einer wissenschaftlichen Begründung zu tun. Es ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass man die „Wirtschaft“ – koste was es wolle – am Laufen halten will. Aufgrund der Maßnahmen und der Orte, die zur Bekämpfung der Pandemie (aus-)gewählt werden, bringt man „die Wirtschaft“ zum Verschwinden, für die man eine Gesundheitsgefährdung Tag für Tag in Kauf nimmt, an die keine Querdenker*innen-Demonstration heranreicht. (…) Wir haben die Parks und Corona-Partys im Auge, die Après-Ski-Gelage und machen sie für die Verschärfungen verantwortlich. Gleichzeitig sorgen wir mit dafür, dass man „aus dem Arbeitsplatz einen privaten Raum macht, der nicht von den Weisen des Sehens und des Sagens regiert wird, die dem eigen sind, was man öffentlichen Raum nennt.“ (Rancière). Wem das zu philosophisch ist, dem empfehle ich das geniale Fazit dieses Beitrags: „Drei Menschen in einem Park sind ein öffentliches Ärgernis, 3.000 Menschen in einer Fabrik sind Privatsache.“ (…) Wenn Herr Söder sagt, dass jetzt keine „halben Sachen“ mehr gemacht werden, dann ist das nur dann keine Lüge, keine Täuschung, wenn man die Arbeitswelt nicht dazuzählt, wenn man die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Der Privatbereich ist heute (mehr denn je) öffentlicher, zu überwachender Raum und der gesamte Produktivsektor ist (mehr denn je) Privatsache. Dort gilt das, was man sich vom Privatleben verspricht: Keine staatliche Einmischung, keine staatliche Überwachung, keine (Corona-)Vorschriften. Es verwundert also überhaupt nicht, dass man nun laut mit autoritären Maßnahmen droht. Wie will man auch einem halbwegs erwachsenen Menschen erklären, dass Kontakte in der Arbeitswelt kein Gesundheits- und Infektionsrisiko sind, in einem Café, in dem die Tische zwei Meter auseinanderstehen, aber schon. Keine halben Sachen? Gerade wenn es uns um die Gesundheit aller geht, wenn wir es tatsächlich mit der Solidarität ernst meinen, dann sollten wir endlich zusammen die Forderung aufstellen, dass der Lockdown dort stattfinden muss, wo die meisten Kontakte, die größte Ansteckungsgefahr besteht, also im Wirtschaftssektor. Und da wir als Privatmenschen schon reichlich in Vorleistung getreten sind, ist es mehr als gerecht, wenn wir einen Lockdown im Wirtschaftssektor fordern und zum Ausgleich den Freizeit- und Privatbereich wieder zugänglich machen, mit alle den Hygienekonzepten, die schon längst da sind und nun vor verschlossenen Türen die Tyrannei des Unsinns verkörpern. Diese Forderung würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen würden wir denen, die uns in Namen unsere Gesundheit das Leben schwermachen, nicht länger hinterherschleichen. Zum anderen würden wir genau jene, die sich hinter unserer Gesundheit verstecken, aus der Deckung holen, wenn sie begründen müssen, warum die Verbreitung des Virus der Preis für den Kapitalismus ist, der „alternativlos“ ist…“ Artikel von Wolf Wetzel vom 16. Dezember 2020 externer Link
  • Corona-Pandemie – Die Stunde des Leviathan 
    „… Sind das Individuen, die nach Freiheit dürsten, und ist das ein Staat, der sie unterdrückt? (…) In dieser Situation scheint die politische Philosophie von Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert wieder populär zu werden. Der englische Staatstheoretiker war der Auffassung, die auf sich selbst gestellten Menschen produzierten nur selbstsüchtig Chaos und Verderben. Doch zum Glück gibt es einen Souverän, der zwischen ihnen Ordnung schafft. Mag der Verstand einiger auch zu trübe sein, um es selbst einzusehen, so entspricht die Einschränkung ihrer Freiheit letztlich auch ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse nach Selbsterhaltung. Für Hobbes war der Staat der Leviathan, ein Symbol für eine höhere, gerechte Ordnung. Und auch jetzt spielt der Staat wieder seine Paraderolle: Er verkörpert eine höhere Vernunft, überblickt die Lage nüchtern und schützt das Leben aller. Oder etwa nicht? (…) Interessant ist es daher, die Grenzen der staatlichen Kontrolle in den Blick zu nehmen. Im Lockdown dürfen sich nur Menschen aus zwei Haushalten treffen, »dritte Orte« wie Cafés oder Bibliotheken müssen schließen. Wo Ausgangsbeschränkungen gelten, darf nur noch in »Ausnahmen« das Haus verlassen werden, etwa für Spaziergänge, zum Einkaufen oder für die Arbeit. Dieses kurze Wörtchen »Arbeit« steht ganz unschuldig in den Aufzählungen, irgendwo zwischen Gassigehen und dem Wocheneinkauf. Dabei bringen der Arbeitsplatz sowie An- und Abfahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln ungezählte Kontakte zu Menschen fremder Haushalte mit sich, und das zumeist in geschlossenen Räumen. Der neuerliche Lockdown ändert hier nichts. Das Desinteresse der bürgerlichen Öffentlichkeit an dieser Lebenswirklichkeit hat System. Marx kontrastiert im »Kapital« die Zirkulationssphäre als »geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre« mit der Fabrik als »verborgne Stätte der Produktion« – Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten. Das Privateigentum strukturiert die Arbeitswelt als ein Archipel nicht öffentlicher Domänen, die von der Allgemeinheit abgeschirmt werden. Zäune, fensterlose Fassaden, Werkschutz und Kameraverbote sichern einen Zustand, in dem der Betrieb »Arkanbereich« ist, wie Oskar Negt und Alexander Kluge 1978 in ihrer Studie »Öffentlichkeit und Erfahrung« gezeigt haben. Die bei der Arbeit gemachten Erfahrungen werden in der bürgerlichen Öffentlichkeit generell kaum repräsentiert. In der Pandemie geht die »geräuschvolle« Skandalisierung von Dreiergruppen im Park mit permanenten Großveranstaltungen in der »verborgenen Stätte der Produktion« einher. (…) Die Schikanen der »niederen Polizei« im Park werden bei der Eindämmung der Pandemie kaum Erfolge zeitigen. Überaus erfolgreich ist dagegen die Polizei im übergeordneten Sinne. Indem sie »aus dem Arbeitsplatz einen privaten Raum macht, der nicht von den Weisen des Sehens und des Sagens regiert wird, die dem eigen sind, was man öffentlichen Raum nennt« (Rancière), entzieht sie die Sphäre der Produktion den Eingriffen der Gesellschaft auch inmitten einer verheerenden Pandemie. Drei Menschen in einem Park sind ein öffentliches Ärgernis, 3000 Menschen in einer Fabrik sind Privatsache.“ Beitrag von Johannes Hauer bei neues Deutschland vom 12. Dezember 2020 externer Link
  • Und wenn es ein Killervirus wäre? 
    „… Das Hantieren mit Zahlen erscheint im politischen Alltag zunehmend sinnlos, es bringt die Debatte nicht voran. Jedes Mal wird doch nur deutlich, dass entweder zu viele Zahlen herumschwirren – von denen man sich die aussucht, die am besten zur eigenen These passen –, oder, dass ein- und dasselbe Zahlenszenario unterschiedlich gewertet oder interpretiert wird. So richtig scheinen in Statistiken und Modellen geronnene Fakten nicht entscheidend für den Verlauf einer politischen Diskussion der Coronamaßnahmen zu sein. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die wirklich relevanten politischen Fragen nicht so eng an die verfügbaren Daten gebunden sind, wie man glauben könnte. Möglicherweise gibt es jenseits der medizinischen eine politische Dimension, die von infection fatality rate, case fatality rate, Pathogenität, ICU-Kapazitäten usw. unabhängig ist? Ich halte das für die richtige Fährte und würde sogar noch weiter gehen: Selbst wenn das Corona ein Killervirus wäre und mit beliebigen früheren Plagen der Menschheit mithalten könnte – selbst dann wäre die Pandemiepolitik falsch und müsste von Kommunistinnen und Kommunisten oder anders etikettierten Freundinnen und Freunden der Emanzipation grundsätzlich kritisiert, abgelehnt und aktiv durchkreuzt werden. (…) Um zu verdeutlichen, warum Freundinnen und Freunde der Emanzipation der Identifikation mit der Präventionspolitik widerstehen und ihr laut widersprechen sollten, ja sie einer radikalen und vernichtenden Kritik unterziehen müssen, sei zunächst einmal mit dem eigenartigen Glauben aufgeräumt, dass es sich bei dem Zugriff auf die Lebensführung der Einzelnen um die einzig mögliche – oder einzig sinnvolle – Pandemiebekämpfung handelt. So selbstevident der Zusammenhang zwischen Kontaktreduktion und Infektionsverhinderung erscheint, so irrsinnig ist es, eine stark urbanisierte, hoch spezialisierte und komplex zusammenhängende (Welt-)Gesellschaft nur noch unter diesem Gesichtspunkt zu sehen und bis ins Privateste hinein regulieren zu wollen – und sei es auch nur temporär. (…) Tatsächlich gibt es hier eine Fülle an Möglichkeiten. Es beginnt bei der Vollfinanzierung, Vergrößerung und besseren Personalausstattung der Krankenhäuser – und zwar akut und langfristig. Denn wie an der Krise zu sehen ist, sind die Krankenhäuser schon dann an der Belastungsgrenze, wenn die Zahl eingelieferter Patient/innen auch nur geringfügig steigt. Dasselbe gilt für die Alten- und Pflegeheime und die vielgescholtenen Schulen, die jetzt nach dem Willen mancher am besten wieder geschlossen werden sollen. (…)– Geht alles nicht schnell genug? Kann sein; aber es werden doch nicht einmal Schritte in diese Richtung unternommen. Das ist an vielen Beispielen zu sehen, hier nur eines davon: In einem großen Universitätsklinikum werden aktuell Pflegekräfte aus der Chirurgie auf den Covid-Intensivstationen eingesetzt. Sie sind dafür nicht ausgebildet; aus irgendeinem Grund hat man aber die sechs Monate zwischen ›erster‹ und ›zweiter Welle‹ verstreichen lassen, ohne dass Umschulungen vorgenommen wurden. (Die Information stammt aus einer Insiderquelle.) Und wenn es möglich ist, in wenigen Wochen ein Krankenhaus mit ICU-Betten hinzustellen – ist es tatsächlich undenkbar, in Raumfragen weniger im Sinne der Beschränkung als vielmehr im Sinne der Erweiterung zu denken? Wenn es nun aufs Abstandhalten ankommt – warum setzt man nicht dort an, wo Menschen unfreiwillig eng aufeinander sitzen, weil sie auf viel zu kleinem Raum miserabel leben? Es gibt auch kleinteiligere Vorschläge in diese Richtung – bisweilen werden sie sogar geäußert. Umfunktionierung der Hotels als Unterkünfte für Menschen ohne (adäquate) Wohnung wäre ein Beispiel; Taxifahrten zum ÖPNV-Tarif für betagte Personen ein anderes. Generell ist es eigenartig, wie wenig Menschen, die eigentlich eine bessere – zum Wohle aller eingerichtete – Gesellschaft anstreben, einfällt, wenn es um Verbesserungen der Lebensbedingungen geht, durch die die Lebenden geschützt werden könnten (wovor auch immer), und zwar mit möglichst geringen Nebenwirkungen wie Isolation, sozialer Vereinsamung und emotionaler Verarmung. Denn letztere sind mehr als ›Kollateralschäden‹. (…) Wer nun aber Radikalität in der Forderung erblickt, möglichst vielen Menschen die Selbstisolation zu ermöglichen, hat entweder die Sache mit der Emanzipation aufgegeben oder ein recht mystisches Verständnis davon. Denn eins dürfte feststehen: Die Revolution wird nicht über Zoom angezettelt…“ Kommentar der Magazin-Redaktion vom 8. Dezember 2020 externer Link
  • Wenn Freiheit sich selbst zerstört
    „Liberalismus verkommt zu einem Machterhaltungsmittel für die Mächtigen. Wenn sich daran nichts ändert, wird Freiheit bald nicht mehr begeistern, dann wird sie vor allem gefürchtet. Sehnsucht? Sehnsucht danach, in die Masse einzutauchen und von Freiheit zu singen? Inmitten der zweiten Pandemie-Welle, eines Winters der Vereinzelung und der erzwungenen Einschränkungen erscheinen die Bilder des Konzerts unwirklich. Je freier, desto besser: Das ist die Formel, die in westlichen Gesellschaften überwältigende Zustimmung findet. Oder, mit dem Mitte-der-Gesellschaft-Barden Westernhagen gesprochen: „Freiheit ist das Einzige, was zählt.“ Einerseits. Andererseits beweist die Pandemie, dass größtmögliche Freiheit und Liberalismus nicht immer die Lösung sind. Dass es für den Einzelnen Einschränkungen braucht, um die Vielen zu schützen. Dabei hätte es gar keine Pandemie gebraucht, um zu erkennen, dass der Liberalismus nicht zu Ende gedacht ist. Das wird er nie sein. Freiheit ist kein Zustand, der sich feststellen und dann sichern lässt. Sondern „ein Fundament, das nicht fundiert ist“, wie die Philosophin Ágnes Heller schrieb. Die Bedingungen für Freiheit müssen ständig neu verhandelt werden. Es tut not, sich um den Liberalismus zu kümmern, ihn nicht als selbstverständlich zu nehmen, ihn besser zu machen, wehrhafter. (…) Der Liberalismus in seiner aktuellen und seit Ende des Kalten Krieges dominanten Form, der Marktliberalismus, will vor allem das selbstbestimmte, kreative, atomisierte Individuum. Narzissten, Egomanen und Selbstausbeuter. Und wer es nicht schafft, ist selbst schuld, weil er seine Freiheit nicht nutzt. Vom Freiheitsversprechen bleibt die Selbstsucht. Das für freiheitliche Gesellschaften so wichtige Vertrauen in Institutionen und Menschen zerfällt. Das zeigt sich gerade in der Pandemie deutlich, wenn Freiheit nur noch als das Recht auf Rücksichtslosigkeit verstanden wird. Und am Ende verkommt die Freiheit zu einer Befürwortung des freien Unternehmertums, wie der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi schon 1944 vorhergesehen hat. Dem Staat bleiben immer weniger Handlungsspielräume, er wird als zweitrangig angesehen, zurückgedrängt. Und weil sich dieser entleerte und übersteigerte, egomane Individualismus vor allem durch Abgrenzung, Ablehnung und Konflikt definiert, führt er gleichzeitig zum Hass auf „die da oben“. (…) Liberale wollen oft nichts davon wissen, dass die Freiheit zur persönlichen Entfaltung meist nur die genießen können, die schon frei sind. Der Liberalismus ist heute auch ein Machterhaltungsmittel für die Mächtigen. Privileg schlägt in Herrschaft um. Und statt größerer Chancengleichheit entsteht eine neue Plutokratie. (…) Ein stärkerer Staat ist notwendig, um die Freiheit zu retten. In einem solchen Staat wäre Umverteilung kein Schimpfwort, und Artikel 14 des Grundgesetzes keine Floskel: „Eigentum verpflichtet“ (…) „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Denn klar ist: Ein Liberalismus, der das im Grunde konservative Verlangen nach Sicherheit und Solidarität stillt, muss ein anderer sein, als der Ego-Liberalismus von heute. (…) Sozialpolitik ist nicht das Gegenteil von Freiheit, sie wird gebraucht, um ihre Folgen in den Griff zu bekommen. Frei von existenzieller Angst zu sein, das ist die Grundvoraussetzung für Freiheit. (…) Und tatsächlich bilden sich gerade viele Gemeinschaften als Reaktion auf aktuelle liberale Gesellschaftsordnungen. Aber welche setzen sich durch? Welche werden mächtig? Die, die die Freiheit im Kern bewahren? Oder die aggressiven, gewalttätigen, autoritären Bewegungen? Nationalistische beispielsweise? Die Gefahr besteht. (…) Das heißt aber nur, dass es schwierig wird, nicht, dass es unmöglich ist, Gemeinschaften zu schaffen, die dabei helfen, Vertrauen aufzubauen, ohne Grenzen zum Unvertrauten zu errichten. Die Identität schaffen, ohne sich vom Fremden abzugrenzen. Die Verankerung ohne Volksgemeinschaft bieten. Die den Gegensatz zwischen innen = wertvoll, und außen = wertlos auflösen…“ Essay von Sebastian Gierke vom 30. November 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link
  • Antiautoritäre Resignation: Die eigene Unfähigkeit ist die neue Stärke der Rechten 
    „… Dass Linke zum Abnickdackel staatlicher Maßnahmen mutieren ist für mich keine überraschende Angelegenheit. Doch wenn Anarchist:innen und Antiautoritäre (merke: antiautoritär und links sind keine Synonyme!) den selben Weg einschlagen, stellt sich nur noch eine Frage: Wie konnte das passieren? Resignation? Ein besonderes Maß an Naivität, dass es dem Staat tatsächlich in erster Linie um Rettung von Menschenleben geht? Falsch verstandene Solidarität? Oder die „Erkenntnis“, dass in einer tödlichen Pandemie andere Regeln gelten und wir auf Big Daddy angewiesen ist? (…) Nur wenige antiautoritäre Personen haben bereits vor den ersten Maßnahmen gewarnt. Dass der Staat die Pandemie ausnutzt um die Überwachung auszubauen. Oder wie es Edward Snowden so treffend ausdrückte: um eine Architektur der Unterdrückung aufzubauen, welche das Virus überstehen wird. Diejenigen, die es trotzdem getan haben, wurden nicht selten von vermeintlichen Genoss:innen hart angegriffen, ihre Worte als Schwurbelei abgetan, ihre Anti-Haltung als unsolidarisches Verhalten aufgefasst. So verstummten kritische Stimmen. Was ist aus der kritischen Haltung geworden auf den Staat und seine Maßnahmen, Gesetze und Regeln zu reagieren? Es folgte ein tiefes Schweigen bis hin zu einem Abwinken aller Corona-Maßnahmen. Nun befinden wir uns in einem zweiten „Lockdown“ und spätestens jetzt sollte so langsam auch die letzte Person verstanden haben, dass es dem Staat nie um Rettung von Menschenleben ging, sondern um Rettung der Wirtschaft um jeden Preis. (…) Die Unfähigkeit der antiautoritären (und linken) Bewegung ist die Stärke der Rechten. Die wachsende Kraft von Coronazis, einschließlich dem „Einfangen“ normaler Bürger:innen, ist eine Sache, die auch „wir“ uns zuschreiben müssen. Ich habe in meinem Ort in den ersten Monaten die Corona-Demos verfolgt und konnte dabei zusehen, wie sich die Proteste zunehmend nach rechts radikalisiert haben. Und ich stelle einfach mal folgende Behauptung in den Raum: Viele der Personen auf diesen Protesten hätten wir „für uns“ gewinnen können, hätten wir uns mit eigenen Positionen eingebracht (wenn auch nicht auf diesen Demos – man marschiert nicht mit Nazis!). Mit reinen Gegenprotesten wurde viel zu viel verloren…“ Antiautoritäre Kolumne von Anarchist Fox vom 27. November 2020 bei schwarzerpfeil.de externer Link – Allerdings gibt es einige Unbestimmtheiten. So machen wir das, was da als Alternative gefordert wird, ja von Anfang an. Seltsam sind auch manche Vorschläge (was hat z.B. die Verweigerung von GEZ-Gebühren mit Corona zu tun?) Auch ist die Kritik von anderen Linken etwas unsachlich: Die unterstellte Zustimmung gibt es selbst bei der Linkspartei nicht. Schwierigkeiten haben wir außerdem mit der alternativen Position im Beitrag, die nicht so recht ersichtlich ist. Gibt es nun eine Pandemie oder nicht? Und worin unterscheidet sich inhaltlich die linke von der rechten überhaupt? Hier bleibt es sehr dünn. Neben dem Wunsch danach erscheint es daher nicht einmal sicher, ob faktisch eine eindeutige Abgrenzung nach rechts wirklich vorhanden ist. Man kann allerdings sagen, dass der Aufruf, überhaupt etwas den rechten Coronaleugnern entgegenzusetzen, sehr angebracht ist…
  • [ver.di] Gesundheitspolitik: Neue Pandemieregelungen im Eiltempo
    „Mit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz werden in kurzer Frist neue Regelungen zur Pandemiebekämpfung durch das parlamentarische Verfahren getrieben. Besonders kritisch sieht ver.di die Neuregelung im Infektionsschutzgesetz, an die weitreichende Grundrechtseingriffe geknüpft werden können. Bisher haben die Pandemiebewältigungsstrategien in Deutschland weltweit Anerkennung erhalten. Gerade während der ersten Infektionswelle im Frühjahr zeigte sich, dass weniger die technische Infrastruktur, die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte entscheidend ist, sondern die Verhinderung einer schnellen und exponentiellen Zunahme der Infektionen. Die nunmehr fortschreitende Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 belegt, dass es auf frühzeitige und wirksame regulierende Maßnahmen ankommt, damit eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindert wird. Auf der anderen Seite dürfen die Bekämpfungsmaßnahmen nicht so weit gehen, dass einzelne Betriebe und ganze Branchen in wirtschaftliche Existenznot geraten. Die deutliche Zunahme von Kurzarbeit seit Beginn der Pandemie hat bereits zu empfindlichen Einkommenseinbußen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in mehreren Dienstleistungsbereichen geführt. Aufgrund der zeitlich befristeten Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung bis zum 31.12.2020 nach dem COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz konnte bisher eine ungebremste Insolvenzwelle in einzelnen Branchen verhindert werden. Gleichwohl nehmen unter den Beschäftigten wirtschaftliche Existenzängste, psychische Belastungen und soziale Konflikte als mittelbare Folge der Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens zu. Die Herausforderung besteht darin, einerseits schweren Krankheitsverläufen in der Bevölkerung entgegenzuwirken und andererseits zu verhindern, dass die Eindämmungsmaßnahmen zu gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden führen. (…)Zwar hat Deutschland im europäischen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Intensivbettenkapazität. Für die bedarfsgerechte Versorgung der intensivpflichtigen Covid-19-Patientinnen und –Patienten muss jedoch ausreichend Personal vorhanden sein. Während die Krankenhäuser in technischer Hinsicht gut auf die zweite Welle vorbereitet sind, drohen Engpässe vor allem beim Pflegepersonal. Auch im öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) kommt es entscheidend auf eine personelle Verstärkung an, um die notwendigen Aufgaben im Rahmen der Pandemiebewältigung erfüllen zu können. ver.di setzt sich für die bedarfsgerechte Personalausstattung in den Einrichtungen des Gesundheitswesens ein, um eine sichere Versorgung während der Pandemie und darüber hinaus zu gewährleisten. Ebenso muss die Personalausstattung des ÖGD so verbessert werden, dass dieser die wichtigen Aufgaben der Pandemiebekämpfung und des Infektionsschutzes nachhaltig im erforderlichen Umfang erfüllen kann…“ ver.di-Stellungnahme vom November 2020 externer Link mit Link zur detaillierten ver.di-Position zum Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD
  • Nicht nur die Pflegeheime stecken im Niemandsland fest, zwischen den Fronten in Zeiten von Corona. Und immer wieder die Frage: Wer hat die Verantwortung für ein Leben zwischen Leben und Sterben?
    „Es ist im November 2020 zweifelsohne nicht mehr so, dass man sagen kann, wir sind alle völlig überraschend erwischt worden von dem, was als Corona-Krise über uns gekommen ist. Denn zum Jahresende 2020 sind wir bereits in der zweiten Welle und die erste hat uns einiges gelehrt – oder sagen wir besser, man hätte eine Menge lernen und ableiten können aus dem, was da passiert ist. Beispielsweise in den Pflegeheimen. Dort hatte das Virus bereits im Frühjahr seine Schneisen des Sterbens geschlagen und die vielen Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten, haben unter oftmals völlig desaströsen Rahmenbedingungen versucht, den Laden irgendwie am Laufen zu halten und sich um die ihnen anvertrauten Menschen so gut es ging zu kümmern. (…) Aber nun sind wir mittendrin in der zweiten Welle und erneut trifft es die Heime schwer: »Die Meldungen über Ausbrüche von SARS-CoV-2 in Pflegeheimen in Deutschland nehmen wieder zu. (…) Und auf der Bundesebene muss man ebenfalls zugeben: man hat keinen Überblick, was in diesen besonders gefährdeten Einrichtungen passiert (…) Die für die erste Welle beschriebenen und danach heftig kritisierten Einschränkungen des Besuchs bis hin zu den besonders umstrittenen Besuchsverboten tauchen jetzt wieder auf (…) Das aber ist zum einen vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir in der ersten Welle gemacht haben, wie auch vor dem Hintergrund der mittlerweile vorliegenden Stellungnahmen auch aus juristischer Sicht ein echtes Problem: »Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Pflegeheimen im Rahmen der Corona-Pandemie verstoßen in weiten Teilen gegen das Grundgesetz.« So beginnt eine Mitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), in der auf die Ergebnisse eines Gutachtens hingewiesen wird, das man beim Mainzer Verfassungsrechtler Friedhelm Hufen in Auftrag gegeben habe. (…) Und Verantwortungsgemeinschaft heißt in diesem nicht nur „grundrechtssensiblen“, sondern im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Bereichs zwischen Leben und Sterben eine Verbindlichkeit des Staates, in der Ausnahmesituation, in der wir uns mit Corona befinden, eindeutig Mitverantwortung für die Menschen in den Einrichtungen zu übernehmen und diese auch transparent zu machen. Gerade die Angehörigen brauchen in dieser Zeit eine verbindliche Struktur, an die sie andocken können, mit der sie überhaupt kommunizieren können. Allerdings muss man derzeit, nach den weitgehend verlorenen Monaten des Sommers, zur Kenntnis nehmen, dass das bekannte Muster des „Durchwurschtelns“ dominiert, was natürlich dazu führen muss, dass wir sehr weit streuende Resultate haben, je nach der Verfasstheit der Situation vor Ort und den (nicht-)handelnden Akteuren dort. Das lässt sich natürlich niemals einebnen und auf ein einheitliches Niveau heben, aber dennoch muss man verbindlichere Strukturen und Prozesse anmahnen, immerhin geht es hier nicht um die Frage, ob man irgendein Produkt reklamiert oder umtauschen möchte. Aber Hoffnung ist unterwegs, könnte man jetzt zum Abschluss anmerken: Angeblich soll der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung an einem Konzept arbeiten, wie man das Schutzbedürfnis der Einrichtungen mit den Besuchsbedarfen und -rechten der Bewohner und ihrer Angehörigen gestalten kann. Es wird für den Dezember erwartet.“ Beitrag von Stefan Sell vom 23. November 2020 auf seiner Homepage externer Link – siehe zum Hintergrund auch unser Dossier: Pflegeverbandschef über die aktuelle Situation in Altenheimen in der Coronakris: “Das könnte einen Flächenbrand geben”
  • Neues Corona-Infektionsschutzgesetz: Die Gefahr der „autoritären Demokratie“
    „… Die neuen Regeln sind zwar durch die Intervention der SPD und durch öffentlichen Druck besser geworden: So müssen Verordnungen zur Einschränkung von Freiheitsrechten besser begründet werden, auch eine Befristung ist vorgesehen, und die Maßnahmen sind klarer definiert. Aber ein zentraler Punkt fehlt: Einen echten Parlamentsvorbehalt für einzelne Verordnungen wird es nicht geben. Wenn der Bundestag die Regierung ausbremsen will, müsste er im Zweifel die Feststellung der epidemischen Notlage ganz zurücknehmen. (…) Nein, es geht heute nicht um „Ermächtigungsgesetz“ und „Diktatur“. Sehr wohl geht es um die Gefahr, dass die Regierung im Krisenfall mit einem ungesunden Übergewicht ausgestattet wird. Ihre Aufgabe als Exekutive, also ausführende Gewalt, besteht eigentlich darin, das zu tun, was die Legislative, also das gesetzgebende Parlament, ihr aufträgt. Oder sich zumindest parlamentarisch genehmigen zu lassen, was sie selbst initiiert.  Schon im Alltag sind aber Tendenzen zu dem erkennbar, was sich – nur scheinbar widersprüchlich – als „autoritäre Demokratie“ bezeichnen ließe. Demokratische Kontrollinstanzen sind nicht entmachtet, aber ihre Rolle verschiebt sich allzu oft in Richtung auf das formale Beglaubigen dessen, was in Koalitionsrunden oder anderen Zusammenhängen jenseits öffentlicher Debatte beschlossen wurde. (…) Nun, in der Pandemie-Krise, verschärft sich diese Tendenz. Es scheint ja auf der Hand zu liegen, dass im Zweifel Eile geboten ist. Aber das droht zum Vorwand zu werden für eigenmächtiges exekutives Handeln. Um nur das aktuellste Beispiel zu nennen: Gerade haben sich Bund und Länder um gut eine Woche vertagt, weil sie sich auf die nächsten Schritte in Sachen Lockdown nicht einigen konnten. Niemand kann behaupten, dass die Regierungen in dieser Zeit nicht auch ihre Parlamente hätten fragen können, wo es langgehen soll. Dass es auch in Parlamenten schnell gehen kann, beweisen Bundestag und Bundesrat gerade mit der im Schweinsgalopp durchgezogenen Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Nur leider an der falschen Stelle.“ Kommentar von Stephan Hebel vom 18. November 2020 in der Frankfurter Rundschau online externer Link
  • Durchregieren per Dekret: Die parlamentarische Demokratie befindet sich im Ausnahmezustand. Das muss sich endlich ändern
    „Längst hat die „Corona-Krise“ zu einer Demokratie-, Rechtsstaats- und Verfassungskrise geführt – der „Lockdown light“ in diesem Monat ist das aktuellste Beispiel. Er trifft Kultureinrichtungen und Veranstalter, Gastronomie und Hotelbranche mit voller Härte – trotz weitgehend funktionierender Hygienekonzepte. Manche dieser tief ins private und öffentliche Leben eingreifenden Maßnahmen erscheinen hilflos, aktionistisch und wenig begründet. Jedenfalls sind sie, isoliert betrachtet, weder wirklich nachvollziehbar, noch dürften sie verhältnismäßig sein. Ganz abgesehen davon, dass die Rechtsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz, auf denen sie beruhen, mangels hinreichend konkreter Regelungen alles andere als rechtssicher sind. Das bundesweite Verbot von Hotel-Übernachtungen ist letztlich die Neuauflage eines Desasters, das Gerichte schon mehrfach gerichtlich gestoppt haben: das „Beherbergungsverbot“. Das heißt, die Exekutive fühlt sich angesichts der Dringlichkeit von Abwehrmaßnahmen offensichtlich nicht mehr durchgängig an Recht und Rechtsprechung gebunden. In weniger angstbesetzten Zeiten wäre das ein handfester Skandal. (…) So sind nun also wieder die Gerichte gefordert, die neuen Verordnungen auf Recht- und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu kippen – auch wenn dies nicht gleich im Eilverfahren klappt. (…) Jetzt rächt sich auch, dass sich der Bundestag mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes Ende März 2020 und der Ausrufung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ – einer Art „Gesundheitsnotstand“ – seiner Rechte selbst begeben und weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse auf die Regierungen übertragen hat. Das bedeutet eine weitere Verschiebung des politischen Machtgefüges zugunsten der Exekutive und eine Missachtung des Gewaltenteilungsprinzips. Die durch Wahlen demokratisch legitimierte Volksvertretung stellte sich so selbst ins Abseits, beförderte die gerade in Krisenzeiten ohnehin wachsende Dominanz der Exekutive – und befördert damit auch die Schwächung der Demokratie. (…) Entsprechend fiel das Urteil der juristischen Sachverständigen überwiegend negativ aus. Diese Novelle genüge weder dem Bestimmtheitsgrundsatz bezüglich eingriffsintensiver Bekämpfungsmaßnahmen noch dem Parlamentsvorbehalt. Zu erkennen sei keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen – offenbar gehe es lediglich darum, das bisherige Vorgehen zu legitimieren. So jedenfalls halte die Gesetzesänderung einer verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Um den Ausnahmezustand der parlamentarischen Demokratie zu beenden, müssen Bundestag und Länderparlamente zwingend federführend an Beratungen wie Entscheidungen über Abwehrmaßnahmen beteiligt werden. So viel Zeit muss in einem demokratischen Rechtsstaat auch in Zeiten schwerer Krisen sein…“ Beitrag von Rolf Gössner vom 18.11.2020 aus ‚Der Freitag‘ Ausgabe 47/2020 externer Link
  • Sind alle Corona-Schutzmaßnahmen in Hamburg rechtswidrig? – Das VG Hamburg zu § 28 IfSG 
    „… In Hamburg wandte sich im Eilverfahren eine bekannte Fitnessstudiokette an das Verwaltungsgericht, um die einstweilige sanktionsfreie Duldung des Betriebs seiner Fitnessstudios zu erwirken. Der Betrieb von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr war zuvor durch § 4b Abs. 1 Nr. 28 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungs-VO untersagt worden. (…) Dies nahm das VG Hamburg zum Anlass, die Vorschrift samt ihrer Verordnungsermächtigung (§ 32 IfSG mit Verweis auf die Maßnahmen gem. §§ 28-31 IfSG) verfassungsrechtlich zu beleuchten. (…) Das VG Hamburg bezieht nun eindeutig Stellung in einer Diskussion, die in den letzten Wochen wieder hochgekocht war (…) Die Generalklausel des § 28 I 1 IfSG ist zu unbestimmt für derart schwerwiegende Grundrechtseingriffe, wie das VG Hamburg meint. Wäre eine gleichlautende Regelung noch vor wenigen Monaten rechtmäßig gewesen, so sei laut VG Hamburg die Frist, pandemiebekämpfende Maßnahmen (noch im 7. Monat!) auf eine solch unbestimmte Rechtsgrundlage zu stützen, nun eindeutig abgelaufen. (…) Nach 7 Monaten Leben in einer Pandemie und in den Medien auch durch Wissenschaftler*innen angekündigter „Zweiter Welle“ war der aktuelle „Lockdown Light“ laut VG Hamburg für den Bundesgesetzgeber erwartbar. (…). Auch das Inaussichtstehen einer sog. „Coronahilfe“ vermag die pauschalen, auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel gestützten, Schließungen nicht zu rechtfertigen. Eine ausnahmsweise Fortgeltung des § 4b Abs. 1 Nr. 28 HmbSARS-CoV-2-Eindämmungs-VO ist laut VG Hamburg auch deswegen zu verneinen, da diese „Coronahilfen“ nur politische Versprechungen ohne rechtliche Verankerung darstellen. Die Betroffenen können also nicht mit letzter Sicherheit auf eine Entschädigung vertrauen, diese müsste gesetzlich geregelt werden. (…) Ob in Hamburg durch dieses historische Urteil eine Klagewelle eintritt, bleibt, so wie auch der künftige Umgang der Verwaltungsgerichte mit den Corona-Schutzverordnungen der Länder, abzuwarten. Fest steht: Der unstreitig schützenswerte Zweck – hier der Gesundheitsschutz der Bevölkerung – gibt keine Blankettermächtigung zu abwägungslosen Grundrechtseinschränkungen und heilt dazu keineswegs alle Mittel.“ Kommentar von Lamia Amhaouach in JuWissBlog Nr. 129/2020 vom 14. November 2020 externer Link zum Urteil des VG Hamburg, Az. 13 E 4550/20, vom 10. November 2020 externer Link
  • Stellungnahme des Allgemeinen Syndikat Düsseldorf zum pandemischen Ausnahmezustand [mit interessanten Vorschlägen zum gewerkschaftlichen Widerstand]
    „… In der Pandemie kommen nun neue Angriffe auf uns zu, die uns alle betreffen. Aber: Es gibt auch Hoffnung. Wir haben darum einige Forderungen aufgestellt, die wir zusammen durchsetzen können! (…) Die Arbeiter:innen in allen Systemrelevanten Branchen, das betrifft neben der Pflege, dem (Einzel-)Handel, den Erzieher:innen und Lehrer:innen auch insbesondere die Logistik, den Transport, die Energiewirtschaft und die Arbeiter:innen in der Lebensmittelindustrie, angefangen bei den Erntehelfer:innen sind aufgefordert sich jetzt(!) zu organisieren und gemeinschaftliche Ziele zu verfolgen welche sein könnten: der 4 Stunden Tag – eine Forderung die auch schon auf dem Gewerkschaftstag des DGB thematisiert wurde / die 4 Tage Woche – eine Kampagne die weltweit in der Diskussion ist und in zahlreichen Betrieben weltweit ausprobiert wird / 14. Gehalt – denn Sommerurlaub und Jahresendfeste stellen immer besondere finanzielle Herausforderungen dar / 40 Tage Urlaub – für eine echte Erholung / 4000 € netto(!) für alle, unabhängig von Industrie/Branche, Beruf und Qualifikation – Eine Forderung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz ist zum Beispiel 4000 € brutto plus Zuschläge für „unattraktive“ Arbeitszeiten. / Das Versammlungsrecht muss weiterhin/wieder gewährleistet sein. – Notfalls müssen dies insbesondere die Arbeiter:innen der Systemrelevanten Berufe aktiv durchsetzen. / Alle Arbeitslosen und mit Berufsausübungsverboten belegten Soloselbständigen müssen während der Pandemie ein bedingungsloses Grundgehalt von 2000€ pro Monat bekommen. (…) Klar ist, dass weder allabendliches klatschen, noch weitere Petitionen uns dabei helfen werden diese Ziele zu erreichen. So schwer und unrealistisch es im ersten Moment klingen mag, aber nur wir selbst können das durchsetzen. Das bedeutet, dass wir jetzt sofort – auch unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie, der Einschränkungen unserer Versammlungsfreiheit und der Überlastung durch die Arbeit (zum Teil von 12h/Tag) – anfangen müssen uns selbst zu organisieren. Wir müssen uns ein Beispiel an den Arbeiter:innen in anderen Ländern nehmen, die in den Streik treten. Wir müssen die Arbeiter:innen aller Branchen auffordern Solidaritätsstreiks zu organisieren. Die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung hält für uns einige Werkzeuge bereit, die heute so aktuell sind wie schon lange nicht mehr. Ein Mittel ist die direkte Aktion. So können wir auch jenseits des Streiks versuchen bestimmte Ziele nicht als Forderung zu stellen, sondern selbst daran gehen sie praktisch in die Tat umzusetzen. Um dafür nur mal ein Beispiel von vielen zu nennen: Wo immer es möglich ist, könnten Belegschaften selbstständig Schichtpläne erstellen, die deutlich unterhalb von 12 Stunden/Tag liegen! Wir brauchen einen langen Atem, Zutrauen zu uns selbst und Mut gegenüber den Politiker*Innen, Bossen und sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften…“ Am 13. November 2020 beschlossene Stellungnahme des Allgemeinen Syndikats Düsseldorf externer Link
  • CORONA – a never ending story: Alles nur Angsthasen?
    Es giert nämlich – wie schon im Frühjahr – niemand nach einem Lockdown, sondern er wurde am Mittwoch [28.11.] wieder aufgeschoben. Hinsichtlich der meisten Arbeitserwerbsarbeitsplätze blieb es bei folgendem: ‚Auch in der Pandemie wollen wir in Industrie, Handwerk und Mittelstand siche­res Arbeiten möglichst umfassend ermöglichen. […].‘ Und die Nicht-Erwerbsarbeit in den privaten Haushalten geht eh weiter; und es werden keine Hotels beschlagnahmt, um beengt Wohnenden mehr Abstand zu ermöglichen und in Quarantäne Befindliche getrennt von ihren ständigen Mitbe­wohnerInnen unterzubringen. – Eine ‚linke‘ Kritik an der herrschenden Pandemiepolitik, die Peter Nowak an anderer Stelle für sich und seine Ko-Autoren im Buch ‚Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik‘ beansprucht, müßte an diesen Punkten ansetzen, statt die Gefahr kleinzureden und für weniger Infektionsschutz zu plädieren.“ Teaser von Detlef Georgia Schulze zum Beitrag in trend 11/2020 externer Link – einer Antwort von Detlef Georgia Schulze auf den „Dauerwelleexterner Link -Artikel von Peter Nowak in trend 10/2020. Siehe auch:

  • Pflicht zur Installation der Corona-App? In CDU und RTL werden Stimmen laut, die Deutschen zur Nutzung des bislang 70 Millionen Euro teuren Instruments zu zwingen 
    „Offiziell noch nicht bestätigten „vertraulichen Projektplänen der Firmen Telekom und SAP“ zufolge sind für die seit dem Sommer verfügbare deutsche Corona-Warn-App in den nächsten Monaten mehrere neue Funktionen vorgesehen, die über Updates umgesetzt werden. So soll die Software ab Ende November daran erinnern, einen positiv ausgefallenen Test auf das Sars-CoV-2-Virus weiterzugeben. Aktuell machen das lediglich 60 Prozent der entsprechend getesteten App-Nutzer. (…) Im Dezember sollen den Nutzern dann Statistiken zur App-Nutzung, zu Inzidenzwerten und zu Fallzahlen übermittelt werden. Und ab dem Februar will man die Namenserfassung in den (dann möglicherweise wieder geöffneten) Gaststätten durch QR-Codes automatisieren. Außerdem soll mit dem im Faschingsmonat geplanten Update ein „Kontakttagebuch“ kommen, wie es der inzwischen nicht mehr ganz unumstrittene Virologe Christian Drosten „dringend empfiehlt“. Bislang wurde die etwa 70 Millionen Euro teure deutsche Corona-App für Android und iOS 21,1 Millionen Mal heruntergeladen. Thomas Röwekamp, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion in der Bremer Bürgerschaft, reicht das nicht. Er fordert ein Bundesgesetz, dass die Deutschen unter Androhung eines Bußgelds zur Nutzung dieser Software verpflichtet. Unterstützt wird er dabei von den zum Bertelsmann-Konzern gehörigen Fernsehsendern n-tv und RTL. Dort rechtfertigt Andreas Laukat den Zwang mit dem paradoxen Satz, wer „mit einem tödlichen Virus frei leben“ wolle, der müsse „Unfreiheit hinnehmen“. (…) Weniger hohe Erwartungen in Corona-Apps als der Bremer CDU-Fraktionschef hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Er sagte dem Klassik- und Kultursender Ö1, der Nutzen so einer Software habe seine Grenzen, wenn sich das Virus so weit ausgebreitet hat, dass das Nachvollziehen einzelner Infektionsketten zu umfangreich wird. (…) Ob die deutsche Bundeskanzlerin stärker auf diese Stimmen aus ihrer CDU hört als Kurz auf die Verpflichtungsforderer aus der ÖVP ist noch unklar. Dass sich Merkel von verfassungsrechtlichen Bedenken von einem App-Zwang abhalten lässt, ist aber unwahrscheinlich: Ihre Kenntnisse einer juristischen Verhältnismäßigkeitsprüfung sind begrenzt, was unter anderem Begriffe zeigen, die sie in diesem Zusammenhang an falschen Stellen einsetzt.“ (gemeint ist Merkels falsche Einschätzung der jetzigen Lockdownmaßnahmen als „Geeignet, erforderlich, verhältnismäßig“) Beitrag von Peter Mühlbauer vom 5. November 2020 bei Telepolis externer Link – siehe zur App ansonsten unser Dossier: Datenschutz vs. Corona-Virus – Was [nicht nur] Unternehmen beachten müssen
  • [Eilantrag erfolglos. Aber…] Verwaltungsgerichtshof München hat Zweifel an Vereinbarkeit mit Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung 
    „… Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat es mit einem Eilbeschluss abgelehnt, die für Hotspots geltenden Sperrstundenregelungen für Gastronomiebetriebe sowie die Teilnehmerbeschränkungen für private Feiern der 7. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (7. BayIfSMV) vorläufig außer Vollzug zu setzen. (…) Der VGH hat jedoch Zweifel geäußert, dass die Sperrstundenregelung sowie die Teilnehmerbeschränkung bei privaten Feiern mit dem Parlamentsvorbehalt bzw. dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 80  Abs. 1 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) vereinbar sind. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichteten den Bundesgesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen. Da es sich bei den angegriffenen Maßnahmen um intensive und mittlerweile lange andauernde Grundrechtseingriffe handele, reiche für diese die Verordnungsermächtigung der §§ 28, 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) möglicherweise nicht mehr aus…“ BayVGH-Pressemeldung zum Beschluss 20 NE 20.2360 vom 29. Oktober 2020 bei kostenlose-urteile.de externer Link
  • [Video] Corona-Maßnahmen: Die Grenzen des Erträglichen
    Die Corona-Bekämpfung ist zu einem Überbietungswettbewerb geworden. Statt ruhig und entschlossen gegen die Pandemie vorzugehen, verlassen die neuen Einschränkungen das gebotene Maß.“ Videokommentar von Heribert Prantl vom 2. November 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link (3:30)
  • Rolf Gössner zu den neuen Bund-Länder-Beschlüssen vom 28.10.2020: „Undemokratisches Prozedere und weitgehend unverhältnismäßig“ 
    Bundeskanzlerin und Ministerpräsident*innen haben es sich in dieser schwierigen Situation ganz sicher nicht leicht gemacht mit ihrem Maßnahmen-Paket vom 28.10.2020 zur Eindämmung des Corona-Infektionsgeschehens. Dennoch fällt die Kritik daran aus verfassungs- und bürgerrechtlicher sowie aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht überwiegend negativ aus. Die meisten der beschlossenen, tief in das private Leben der Bevölkerung eingreifenden Maßnahmen scheinen hilflos, aktionistisch und wenig begründet, sie sind weder transparent noch wirklich nachvollziehbar. Sie sollen, wie schon seit Monaten, weitgehend ohne parlamentarische Debatte und ohne parlamentarische Beschlussfassung per Exekutiv-Verordnungen in Bund und Ländern durchgesetzt werden. Angesichts der massiven Eingriffe in elementare Grundrechte und Lebensbereiche ist dies meines Erachtens verfassungswidrig, zumal diese Eingriffe mit schwerwiegenden sozialen, psychisch-gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen und Langzeitschäden verbunden sind. Jetzt rächt sich, dass der Bundestag mit der Novellierung des Infektionsschutz-gesetzes im März 2020 sich seiner Rechte selbst begeben und weitgehend auf die Regierungen übertragen hat. (…) Einzelne der gravierenden Maßnahmen dürften im Übrigen unverhältnismäßig sein – genauer: gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Das gilt für die bundesweite Zwangsschließung von Gastronomie-Betrieben, von Kulturbetrieben wie Theatern, Konzerthäuser und Kinos sowie für das einmonatige Verbot sämtlicher Unterhaltungsveranstaltungen. (…) Bezüglich des sich verschärfenden Infektionsgeschehens sollte man sich tatsächlich weit mehr Sorgen machen um Gemeinschaftsunterkünfte etwa für Geflüchtete und ausländische Arbeiter*innen, um Alten- und Pflegeheime, Behinderteneinrichtungen sowie um Krankenhäuser. (…) Im Übrigen plädiere ich für die Einrichtung unabhängiger interdisziplinärer Kommissionen in Bund und Ländern…“ Pressemitteilung von RA Dr. Rolf Gössner vom 29.10.2020 (nur bei uns online) – wir danken!
  •  Merkel: „Gruppen feiernder Menschen sind inakzeptabel“ [„Die Ökonomie definiert, wer Opfer bringen muss“]
    „Die verhängten Anti-Corona-Maßnahmen zielen auf puritanische Einschränkungen und die Vereinzelung im Privaten und werden auch wegen der Widersprüche und Einseitigkeiten die bereits schwelenden Konflikte in der Gesellschaft verstärken (…) Es geht darum, das gesellschaftliche Treiben lahmzulegen, einen Monat lang. Virologen würden sagen, so Angela Merkel, die Kontakte müssten um 75 Prozent reduziert werden, auf ein „absolut nötiges Minimum“. Und weil man aufgrund „politischer Prioritäten“ das Wirtschaftsleben nicht unterbrechen und auch Schulen und Kitas nicht wieder schließen will, Gottesdienste auch nicht, müssen nun die Menschen die Opfer im Privat- und Freizeitbereich bringen, also da, wo es am wenigsten Lobbymacht gibt. Auf Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, muss verzichtet werden. Das soll auch den Verkehr reduzieren, meint Merkel. Obgleich man aber in Restaurants, Kinos, Konzertsälen oder Theatern gut Hygiene- und Abstandsmaßnahmen umgesetzt hat und bislang auch nichts bekannt wurde, dass sich hier Infektionen ausbreiten, sagte die Bundeskanzlerin, dass mittlerweile 75 Prozent der Infektionsquellen unbekannt seien. Man könne also nicht wissen, ob von Restaurants oder Theatern eine Gefahr ausgehe, was allerdings keine Begründung ist. Während man die Besuche solcher Orte von offenbar systemirrelevanter Kultur und Freizeit unterbindet, bleiben Geschäfte aller Art bis hin zu systemrelevanten Baumärkten, Modegeschäften oder Möbelhäusern geöffnet, deren Besuch keinen überflüssigen Verkehr verursacht. Aber es ist ja kurz vor Weihnachten. Verzichtet werden soll auf „unnötige“ private Reisen, auf Geschäftsreisen und andere irgendwie notwendige nicht. Amateursportbetrieb wird ausgesetzt, die Profis dürfen weiterhin, wenn auch ohne Publikum. Die Ökonomie definiert, wer Opfer bringen muss, dazu gehört auch, die Branchen zu schließen, deren Umsätze überschaubar sind. Alle Ikea-Häuser, Media-Märkte etc. zu schließen – und das auch noch vor Weihnachten -, würde bedeuten, dass man mit den vorgesehenen 10 Milliarden Euro kaum auskäme. Nur nebenbei geht Merkel auf den ersten Lockdown ein, der bekanntlich das schon zuvor durch Verhaltensveränderungen der Menschen reduzierte Infektionsgeschehen nicht weiter abgesenkt hatte. Ob er überhaupt eine Wirkung auf das Infektionsgeschehen hatte, ist zweifelhaft, bestenfalls sorgte er mit dafür, dass die Infektionszahlen unten blieben, aber das blieben sie bis vor kurzem auch nach dem Lockdown…“ Beitrag von Florian Rötzer vom 29. Oktober 2020 bei Telepolis externer Link
  • Autoritarismus galoppiert
    „Das Ungleichgewicht zwischen den »Maßnahmen« zur Pandemieeindämmung, die den privaten Bereich und jenen, die die Arbeitswelt betreffen, ist geradezu grotesk. Die neuen Pläne von Kanzlerin und Ministerpräsidenten, die die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen sollen, sind noch widersprüchlicher als alles, was im ersten Corona-Lockdown verfügt worden war. Es kommt hinzu, dass der vorgebliche »Lockdown light« trotz aller Mahnungen von Verfassungsrechtlern und Politikern aus allen Parteien erneut ohne parlamentarische Debatte beschlossen wird. Geradezu skandalös ist es jedoch, wenn etwa jede »touristische« Beherbergung untersagt wird, während »notwendige« Auswärtsübernachtungen erlaubt bleiben. Wenn Restaurants, Kinos, Theater schließen sollen, während man am Arbeitsplatz, zu dem man in vollen Bahnen und Bussen fährt, weiter acht Stunden täglich mit den Kollegen verbringen darf. Während Geflüchtete nach wie vor in beengten Sammelunterkünften leben müssen. Und während durch das Offenhalten der Kitas und Schulen die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Eltern im Job garantiert wird und Lohnersatzleistungen für sie gespart werden. All das könnte Hunderttausenden Selbstständigen, Künstlern und Kleinunternehmern finanziell den Rest geben. Gastronomen, Veranstalter, Kino- und Reisebürobetreiber werden so doppelt bestraft, denn sie haben mehrheitlich teure – und wirksame – Hygienekonzepte umgesetzt. Die abstruse Mischung von Maßnahmen zerstört das bislang noch relativ starke Vertrauen einer Mehrheit in die politisch Verantwortlichen und ist ganz nebenbei Wasser auf die Mühlen jener, die in Lockdown und Co ein großes Experiment zur Unterjochung ganzer Völker für eine kleine globale Oligarchie sehen.“ Kommentar von Jana Frielinghaus vom 28. Oktober 2020 bei neues Deutschland online externer Link
  • Das Corona-Dilemma: Gastronomie, Kultur und andere will die Kanzlerin jetzt ausbaden lassen, was die Politik im Sommer versäumt hat
    „Mit einem scharlachroten Buchstaben wird in Nathaniel Hawthornes gleichnamigem Roman die Ehebrecherin Hester Prynne gebrandmarkt. Scharlachrot treten auf manchen Corona-Karten die Städte und Landkreise als Spitzenreiter der Neuinfektionen hervor. Dunkelrot ist auch das kreative Update, das Ministerpräsident Markus Söder der Corona-Ampel verpasst hat. Noch stehen die betroffenen Landstriche nicht am Pranger, auch wenn die aggressive Stimmung gegen Partygänger in Berlin spürbarer wird und noch abzuwarten bleibt, wie der Ausbruch der Infektion in einem Asylbewerberheim in Simbach instrumentalisiert wird. Simbach liegt im Landkreis Rottach-Inn, für den am vergangenen Montag zum zweiten Mal in Bayern ein Lockdown verhängt worden ist. (…) Der als Corona-Dilemma beschriebene Konflikt kennt nur negative Lösungen, die in jedem Fall Opfer fordern: Entweder geht der vom Lockdown begleitete Bevölkerungsschutz mit ökonomischen und sozialen Kollateralschäden einher, die vom Staat nur noch bedingt aufzufangen sind. Oder es werden die Freiheitsrechte oder gar das Leben von Menschen insbesondere verletzlicher Gruppen zur Disposition gestellt. Dabei wäre auch eine ungebremste Infektionswelle für die Wirtschaft fatal: Schon heute beklagt sie den Ausfall von 350.000 Arbeitskräften wegen Covid-19 oder Quarantäne. Und Transferleistungen wie das Kurzarbeitergeld schützen viele kleinere und mittlere Unternehmen nicht mehr lange vor dem Ruin. „Der Schutz der Gesundheit und der Schutz der Wirtschaft“, ist der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, überzeugt, „sind zwei Seiten derselben Medaille.“ Man könnte auch sagen, die beiden Seiten des Corona-Dilemmas sind Folge einer verfehlten Pandemievorbereitung. So jedenfalls lautet das Fazit einer von der Regierung 2013 in Auftrag gegebenen Studie des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, in dem das heutige Szenario bereits durchgespielt wurde. Und das ist nur eine freundliche Umschreibung für die Ökonomie des Schrumpfens und Privatisierens, die seit Jahrzehnten in allen systemrelevanten Bereichen vorherrscht. Die Opfer, die die klandestine Tafelrunde um Merkel unter Ausschaltung des Parlaments den Bürger*innen abfordern wird, sind versüßt mit der Aussicht auf ein beschränkungsfreies Weihnachten. Unterm Baum werden ein paar Nothilfegaben liegen. Spätestens dann sollten wir entscheiden, ob wir den permanenten Ausnahmezustand weiter dulden.“ Beitrag von Ulrike Baureithel vom 28. Oktober 2020 bei ‚der Freitag‘ Ausgabe 44/2020 externer Link
  • Gesichtslose und distanzierte Menschen 
    „Soziale Distanzierung, Reduzierung der Kontakte und das Tragen der Mund-Nasen-Masken haben Auswirkungen, die nur dann realistisch einschätzbar sind, wenn einige zentrale Eigenschaften der Natur des Menschen ausreichend berücksichtigt werden (…) „Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht – eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft auch kaum erforschten Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffenen wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden.“ Angesichts der aktuellen Situation sollte jeder Leser der Antwort seine ganze Aufmerksamkeit schenken, die der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer gibt: „Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit.“ (…) Die Studienlage zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen von Einsamkeit sprechen eine eindeutige Sprache: Auch wenn es dem Menschenbild einiger Zeitgenossen nicht entsprechen mag: Der Mensch ist zweifelsohne ein soziales Wesen. Ein Leben in Einsamkeit, das der Natur des Menschen widerspricht, hat entsprechend gravierende gesundheitsgefährdende Auswirkungen und verkürzt das Leben. (…) Das Phänomen Einsamkeit hat besorgniserregende Ausmaße. Auch wenn die Studien über Einsamkeit zumeist auf subjektiven Aussagen basieren und somit mit etwas Vorsicht zu genießen sind, sind die Hinweise auf eine Ausbreitung der Einsamkeit zahlreich. Soziale Isolation ist paradoxerweise gerade in unserer vernetzten modernen Welt zu einem Massenphänomen geworden. (…) Einsamkeit ist also nachweisbar stark gesundheitsgefährdend, vergleichbar mit 15 Zigaretten täglich, sie betrifft einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft, ist ansteckend und last but not least eine der häufigsten Todesursachen. (…) Angesichts der aktuellen Krise sollte es auf der Hand liegen, das Phänomen Einsamkeit sehr ernst zu nehmen und möglichst schnell eine wissenschaftliche Einschätzung zu erhalten, die das Ausmaß der gegenwärtigen Einsamkeit und sozialen Isolation erfasst. Dass eine derartige Studie von Seiten der Bundesregierung immer noch nicht in Auftrag gegeben wurde, spricht leider nicht für eine verantwortungsbewusste Politik. (…) So sehr in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft oftmals auf das Individuum, die Ich-AG, den Einzelkämpfer gesetzt wird und der Homo oeconomicus als Modell dient, so sehr verspüren die meisten Menschen wohl dennoch trotz täglichen Konkurrenzkampfes und Optimierungsdrucks, dass ein glückliches Leben ein Leben in einem lebenswerten sozialen Umfeld ist…“ Beitrag von Andreas von Westphalen vom 25. Oktober 2020 bei Telepolis externer Link
  • Die Freiheit der Kapitalinteressen 
    Die Regulierung der Freizeit ist Ausdruck einer bestimmten Regierungsmoral. Derweil darf der Betrieb nicht unterbrochen werden, Hotspots hin oder her. Würde der französische Philosoph Michel Foucault heute noch leben, er hätte viel zu tun, schließlich befasste sich der 1984 verstorbene Franzose immer wieder mit der gesellschaftlichen Regulierung von Krankheiten und Seuchen (…) Die Regierenden präsentieren sich als handlungsfähig, indem sie etwa Sperrstunden anordnen. Gleichzeitig appellieren sie an das Innere und die Moral, sprechen, wie Gesundheitsminister Jens Spahn neulich, von einem „Charaktertest für die Gesellschaft“. Die jungen Leute sollen nicht mehr vor Kiosken und Bars herumlungern. Ob von diesem bescheidenen Freizeitvergnügen eine Gefahr ausgeht, ist umstritten. Das ficht viele in Zeiten der Gouvernementalität nicht an. So stand am vergangenen Wochenende eine junge Frau im Twitter-Shitstorm, die bei einer ZDF-Straßenumfrage geäußert hatte, dass sie regelmäßiges Feiern vermisse. Die gouvernementale Moralisierung der Freizeit ist „gesprächswertig“, verhältnismäßig ist sie nicht. Was ist eigentlich mit den kaum noch zählbaren Hotspots in Logistikzentren und Fleischfabriken?…“ Kommentar von Sebastian Friedrich vom 22.10.2020 beim Freitag online externer Link
  • Erosion der Demokratie: Bundesgesundheitsministerium will weiter mit Anordnungen regieren 
    „… Das Bundesgesundheitsministerium hat die Vorlage eines Entwurfs für ein drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, die einigen Medien vorliegt, den anderen Ministerien zugeleitet. Das Bundesgesundheitsministerium will sich damit die Möglichkeit einräumen, selbst weitere Verordnungen ohne zeitliche Beschränkungen erlassen zu können, sofern das „zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist“. Das senkt die Schwelle erheblich, denn eine Feststellung einer Pandemie von nationaler Reichweite ist gar nicht mehr erforderlich, was „schwerwiegend“ sein soll, wird nicht weiter festgelegt. Dem Bundestag wird immerhin noch das Recht eingeräumt, die Verordnungen, die alle übertragbaren Krankheiten betreffen, nicht nur Corona, nachträglich aufheben und abändern zu können. Die dauerhaften Sonderrechte seien aufgrund neuer Erkenntnisse über Covid-19 und angesichts von kommenden Impfprogrammen notwendig. Das Bundesgesundheitsministerium will weiterhin eigenmächtig Regeln für den nationalen und internationalen Reiseverkehr anordnen können, beispielsweise den Unternehmen verbieten, Menschen aus Risikogebieten mitzunehmen, oder sie verpflichten, möglicherweise infizierte Personen zu melden. Auch die Weitergabe von Passagierlisten und Und wer aus einem Risikogebiet einreist, müsste dem RKI umfangreiche Auskunft über seine Person zu machen und zudem erklären, wo er sich während der 10 Tage vor der Einreise aufgehalten hat sowie wo er sich bis 10 Tage danach aufhält. Das RKI würde die Angaben dann an die Behörden an den Zielorten weiterleiten, so das Ärzteblatt.  Nach Willkür klingt auch die Befugnis, keine Lohnfortzahlungen im Quarantänefall zu leisten, wenn dieser „eine vermeidbare Reise in ein 48 Stunden vor Reiseantritt ausgewiesenes Risikogebiet zugrunde liegt“. Legt das Bundesgesundheitsministerium dann fest, was vermeidbar ist? Damit nicht zu Ende, das Bundesgesundheitsministerium will auch mehr Daten sammeln. So sollen der Impfstand überwacht werden, indem entsprechende Patientendaten von den Kassenärztlichen Vereinigungen an das RKI und das Paul-Ehrlich-Institut übermittelt werden sollen. Damit soll vor allem bei neuen Impfstoffen „Häufigkeit, Schwere und der Langzeitverlauf von Impfkomplikationen beurteilt sowie untersucht werden, ob gesundheitliche Schädigungen beziehungsweise Erkrankungen im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen bei geimpften Personen häufiger vorkommen als bei ungeimpften Personen“. Das ist ganz vernünftig, aber ob die Übermittlung der Daten erst nach Zustimmung der geimpften Personen erfolgen soll, scheint nicht zu interessieren. (…) Allmählich wachen Teile der Opposition auf und kritisieren die Anordnungspolitik der Bundes- und Landesregierungen, die die Parlamente aushebelt. Besonders die Entscheidungen, die die Bundeskanzlerin mit den Länderchefs trifft und die tief ins persönliche Leben der Menschen einschneiden – Maskenpflicht, Sperrstunden, Ausgeheinschränkungen oder Beherbergungsverbote -, können nicht am Parlament und an einer politischen Debatte vorbei abgesegnet werden. (…) Es geht nicht an, dass Landesregierungen Grundrechte einfach durch Anordnungen einschränken können.(…) Bundesregierung und die Landesregierungen sind bereits auf den Geschmack gekommen, im Namen der Pandemiebekämpfung mit Anordnungen zu regieren, die auch dazu dienen, öffentliche Kritik in Form von Demonstrationen und Versammlungen zu verhindern. Noch sind hier oft Gerichte eingeschritten und haben Verhältnismäßigkeit angemahnt. Das kann auch umkippen.“ Beitrag von Florian Rötzer vom 20. Oktober 2020 bei Telepolis externer Link
  • Wenn das mal nichts mit dem System zu tun hat: Auch ökonomische und strukturelle Zwänge bestimmen das Pandemiegeschehen 
    Die Politik schiebt die Schuld für das Ansteigen der Fallzahlen ihren BürgerInnen zu. Aber haben sie nicht viel mehr damit zu tun, wie wir leben und leben müssen? (…) Widersprüchliche, teilweise widersinnige Maßnahmen, deren Einhaltung nur selten konsequent durchgesetzt und die häufig schon an den Bundesländergrenzen ad absurdum geführt werden, werfen die EmpfängerInnen der von oben verordneten Pandemieregeln immer wieder vor allem auf eins zurück: die eigene Vernunft. Dass sich aus dem Mangel an dieser politisches Kapital schlagen lässt, hat wiederum auch die Politik begriffen – und schiebt die Schuld für das Wiederaufbranden der Pandemie nur zu gern den vermeintlich Unvernünftigen zu. Ob es nun andere Bundesländer oder die BürgerInnen selbst sind, die nicht wissen, wie mit ihrer Freizeit umzugehen: Schuld sind immer die anderen. (…) Eine gut vernetzte, mobile Gesellschaft wie die unsere ist zunächst strukturell anfällig für ein Virus wie Corona, speziell in urbanen Regionen. Das spricht einzelne selbstverständlich nicht frei davon, sich verantwortlich zu verhalten und jene zu schützen, die in der Krise Solidarität bitter nötig haben. Trotzdem sind weder Schuld noch Gründe für das Steigen der Fallzahlen ausschließlich auf individueller Ebene zu finden. Dem eigenen Einfluss sind Grenzen gesetzt, die nicht nur durch das Handeln der Mitmenschen, deren Hedonismus und Leichtsinnigkeit, sondern auch durch strukturelle und ökonomische Zwänge bestimmt werden. Der private Raum ist jedoch der mit der geringsten Lobby. Und er ist flexibel. Den Job an der Werkbank kann man ebenso wenig ins Home Office verlegen wie man einen Ballungsraum mal eben entzerren kann. Bei schlechtem Wetter wird auch das Individualverkehrsmittel Rad wieder unattraktiver, die Bahnen in Richtung Arbeitsplatz hingegen voller. Wer es sich leisten kann, fährt nicht umsonst mit dem Auto. (…) Priorität hat für den Gesundheitsminister augenscheinlich nicht etwa primär der Gesundheitsschutz, sondern das reibungslose Wirtschaften. Um das zu gewährleisten, wird das Private beschnitten – eben weil es geht und keine unmittelbaren ökonomischen Folgen hat. Auch Kitas und Schulen – die immer wieder in Verdacht stehen, sich zu Corona-Hotspots entwickeln zu können – dürften in erster Linie offen bleiben, damit Eltern sich emsig verdingen können. Um Bildung und Kindeswohl – von Gesundheit ganz zu schweigen – scheint es maximal nachranging zu gehen…“ Beitrag von Jan Jasper Kosok vom 16.10.2020 beim Freitag online externer Link
  • „Denunziationsportal“: Stadt Essen wegen Corona-Formular scharf in der Kritik 
    In einem Online-Portal der Stadt Essen können Bürger Corona-Verstöße melden und auch Fotos zum Beweis hochladen. Das Portal steht jetzt massiv in der Kritik. Gegner ziehen harte Vergleiche. (…) Auf der Internetseite der Stadt gibt es ein Online-Meldeportal für Corona-Verstöße. Es hat den Titel: „Melden eines Verstoßes gegen die Coronaschutz-Verordnung (Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2)“. Angegeben werden sollen Ort, Datum, Uhrzeit und Art des Verstoßes, zum Beispiel das Nichttragen einer Maske oder unzulässige Veranstaltungen. Es können auch Fotos zum Verstoß hochgeladen werden. Die Angaben zur eigenen Person sind freiwillig. (…) Die Stadt Essen verteidigte das Formular: Es diene der „Kanalisierung von Informationen, die das Ordnungsamt sonst telefonisch oder per E-Mail erhält. Zu keiner Zeit haben wir das Formular beworben oder aktiv dazu aufgefordert, Verstöße zu melden“, twitterte die Stadt. Der Ordnungsdezernent der Stadt Essen, Christian Kromberg, sagte laut RTL, die Stadt Essen habe in keinster Form vor, das Denunziantentum zu fördern. „Aber wenn der Bürger das Bedürfnis hat, ein entsprechendes Ordnungswidrigkeitsverfahren bei der Stadt Essen anzuzeigen, dann soll er dies strukturiert und rechtssicher tun.“.“ dpa-Meldung vom 14.10.2020 in den Ruhr Nachrichten online externer Link
  • »Neue Normalität«. Über permanente Beobachtung durch den »Verfassungsschutz« und zum Zustand der Grundrechte in Zeiten von Corona 
    „… Denn das Coronavirus gefährdet ja nicht allein Gesundheit und gar Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – »dank« jener gravierenden Coronaabwehrmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen. Abwehrmaßnahmen, die jedoch gleichzeitig – wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik – tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen, die dabei schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen, deren Ausmaß der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der davor warnte, auf diese Weise die »offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten«. Es ist hierzulande mit sinnvollen Schutzregeln zwar vieles richtig gemacht worden, aber leider auch manches falsch, zu wenig differenziert und nicht verhältnismäßig. Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartig und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datengrundlage. Mit regionalem, lokalem und zielgruppenorientiertem, dennoch verantwortbarem Vorgehen hätten wohl viele Schäden, hätte viel persönliches Elend verhindert werden können. Auch die Justiz, die anfänglich die exekutiven Freiheitsbeschränkungen kaum in Frage stellte, hat mittlerweile in fünfzig und mehr Fällen staatliche Coronamaßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Allein das müsste doch zu denken geben. Die Gerichte mahnen mit Blick auf die jeweils aktuelle Coronainfektionslage – die im übrigen ebenfalls differenzierter als bislang beurteilt werden müsste – immer häufiger eine differenziertere Betrachtung und Behandlung des Einzelfalls an. Das gilt auch für Zeiten erhöhter Infektionszahlen, wie wir sie gegenwärtig erleben. Ich denke dabei nur an die fragwürdigen neueren Beherbergungsverbote und Quarantäneauflagen für Reisende aus inländischen Risikogebieten. Bei all dem sollte doch Berücksichtigung finden, was zeitweise in Vergessenheit geraten ist: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch die Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein »Supergrundrecht Gesundheit«, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genausowenig wie ein »Supergrundrecht Sicherheit«. Auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei Rechtsgüterabwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte…“ Redaktionell leicht gekürzte Dankesrede von Rolf Gössner in der jungen Welt vom 13.10.2020 externer Link anlässlich der Verleihung des Hans-Litten-Preises durch die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) am 10.10.20 in Frankfurt am Main
  • Die Mentalitäten von „Corona-Skeptikern“
    In Bezug auf die Demonstrationen von Corona-Skeptikern steht in der letzten Zeit oft im Vordergrund, dass in Berlin am 29.8.2020 ein paar tausend Rechtsradikale mitliefen und dies von den anderen Teilnehmern sowie den Veranstaltern toleriert wurde. (Fernsehreporter sprachen Teilnehmer darauf an. Die Antwort lautete häufig: „Dies ist eine b u n t e Demo“. Verbunden war dieses Statement mit einem Bekenntnis zur Inklusion: „Ausschließen tun w i r niemand“.) Auf der letzten großen Berliner Demonstration trugen zudem Teilnehmer T-Shirts, auf denen ein Davidstern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ zu sehen ist. Ein Schild hatte die Aufschrift „Verbrecher Hitler ließ Deutschland untergehen. Merkel lässt Deutschland untergehen.“ Das Thema dieses Artikels sind die Mentalitäten der überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer, die weder Nazis sind noch die staatliche Politik gegenüber Corona mit Hitlers Politik vergleichen. (…) Der Artikel beschreibt Meinungen der Corona-Skeptiker und -leugner sowie ihr Engagement. Er entwickelt Argumente für eine Antwort auf die Frage, welche problematischen Mentalitäten erklären können, warum Corona-Skeptiker und -leugner ihren angesichts einer Pandemie brandgefährlichen Auffassungen und Verhaltensweisen anhängen.“ Artikel von Meinhard Creydt vom 5.10.2020  – wir danken!
  • Die Methoden von „Corona-Skeptikern“
    Viele „Corona-Skeptiker“ fordern von Experten, sie müssten 100%ige Treffergenauigkeit garantieren können. Diese Erwartung ist bei epidemiologischen Voraussagen zu einem neuen Phänomen wie Corona sachfremd. Es gibt beim gegenwärtigen Stand Unterschiede zwischen Experten. Viele „Corona-Skeptiker“ machen nun aus diesen Differenzen in den Expertisen Gegensätze, aus Gegensätzen Widersprüche und aus Widersprüchen Skandale. Schließlich stilisieren sie dies als Beleg für die von vornherein unterstellte Inkompetenz, böse/geheime Absichten, diktatorische Tendenzen etc. pp. „Corona-Skeptiker“ leiden unter dem Gefühl, nicht durchzublicken angesichts der Komplexität von Virologie und Epidemiologie. Dieses Gefühl ist verständlich. Kindisch, nicht kindlich, ist aber die Bewältigungsform, sich und anderen einzureden: Eigentlich gibt es kein Problem und die Corona-Gefahren werden nur herbeigeredet, aufgebauscht oder erfunden. Die Maxime lautet dann: Corona nervt mich, also will ich davon nichts mehr wissen…“ Artikel von Kai Paulsen vom 29.08.2020  – wir danken! Und wir entschuldigen uns bei Kai Paulsen für die späte Veröffentlichung – ursprünglich war sie zusammen mit unserer eigenen Stellungnahme zum Thema geplant, diese wird aber noch etwas länger dauern…
  • Nicht auf die Neu-Infektionen starren: Kritik an Corona-Maßnahmen aus einer solidarischen Perspektive
    „Gleich vorweg: Nein – dies wird keine Kritik an der Maske, denn die Maske ist ein Symbol für Solidarität. Wer eine Maske trägt, verhält sich solidarisch gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft, die an einer Corona-Infektion leiden (und ggf. sterben) könnten. Aber wenn wir Solidarität in den Mittelpunkt setzen, wenn wir eine solidarische Gesellschaft anstreben, dann müssen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie (allg. Corona-Maßnahmen genannt) grundsätzlich anders ausgerichtet und die Kriterien für die Verschärfung der Maßnahmen anders gewählt werden. Doch zunächst ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, warum die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingeführt wurden. (…) Alle Corona-Maßnahmen waren darauf ausgerichtet, einen ausreichenden Abstand zwischen Menschen und eine höhere Hygiene zu erreichen. Da der Abstand nicht immer eingehalten werden kann, kam die Alltagsmaske dazu. Menschenansammlungen wurden unterbunden. Dies führte zu einer Reduktion der Reproduktionszahl auf 1 (phasenweise unter 1), so dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu kommen schien. Gleichzeitig konnten Ärztinnen und Ärzte ihrer Erfahrungen mit der COVID19-Erkrankung erweitern und damit die Behandlung optimieren – als Beispiel sei die international anerkannte Arbeit um den Intensivmediziner Kluge aus Hamburg zu nennen, der herausfand, dass eine Blutverdünnung bei COVID-19 lebensrettend sein kann. Diese positive Entwicklung führte dann logischerweise zur Rücknahme einiger Corona-Maßnahmen und der Hoffnung auf eine weitere Normalisierung. Und es wurde – recht willkürlich – eine Zahl von 50/100.000 Neuinfektionen/Woche für die Wiedereinführung strengerer Maßnahmen festgelegt. (…)Deutlich weniger evident sind die Effekte der Schulschließung bei der Eindämmung der Infektionszahlen. Angesichts der niedrigen Infektionszahlen bei Kindern und der wissenschaftlich erarbeiteten, sehr niedrigen Effekte der Reduktion der Infektionszahlen durch Schulschließungen müssen die unabsehbaren, negativen Effekte in den Vordergrund gestellt werden – hier scheint der Kollateralschaden (erhebliche psychische Belastungen und Bildungsverluste von Kindern) weit höher als der Effekt der Maßnahmen zu sein. Bei der Schließung von Arbeitsplätzen wäre es notwendig, wissenschaftliche Untersuchungen über die Infektionsgefahr in verschiedenen Arbeitssettings durchzuführen, um angemessene Hygienevorschriften zum Schutz der Werktätigen einführen zu können. Stattdessen fokussiert die Politik auf aufwändige Konzepte, wie Fußballstadien wieder mit Zuschauern gefüllt werden und andere Großveranstaltungen wieder stattfinden können. Gerade in den Bereichen Schule und Arbeit muss der Gedanke der Solidarität in den Mittelpunkt gerückt werden – und dazu gehört eben nicht nur die Eindämmung der Pandemie, sondern auch die Berücksichtigung der Kollateralschäden. Um sich da deutlich von den Coronaleugnenden zu distanzieren, müssen wir eine andere mediale Betrachtung der Pandemie (Krankheitszahlen statt absoluten Zahlen) und eine wissenschaftliche Untersuchung der Eindämmungsmaßnahmen einfordern.“ Beitrag von Christian Haasen aus Soz Nr. 09/2020 externer Link – Der Autor ist Mitglied im Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää)
  • Corona-Tests nur bei Rumänen: Abstrich mit fadem Geschmack
    „Die Stadt Wesselburen in Dithmarschen will ihre Einwohner auf den Corona-Virus testen – aber nur die aus Rumänien. (…) Entsprechende Postwurfsendungen mit der Bitte, einen Test zu machen, sollen am Donnerstag ausschließlich an rumänische Haushalte verteilt werden. Grund dafür ist eine große Zahl an Infektionen, besonders unter den rumänischen Einwohnern. Der rumänische Honorargeneralkonsul Klaus Rainer Kirchhof hält das Vorgehen für unglücklich. „Ich finde es fragwürdig, eine Bevölkerungsgruppe herauszugreifen“, sagt er. Die eigentlich anzuwendende Strategie müsste darin bestehen, das Umfeld der positiv Getesteten abzuklopfen, anstatt pauschal gegen eine Bevölkerungsgruppe vorzugehen. Er fühlt sich an einen Vorfall im Juni in Göttingen erinnert, wo ein ganzer Wohnblock aufgrund von Corona-Infektionen abgeriegelt worden war. Wesselburen, etwa 25 Kilometer südlich von St. Peter-Ording gelegen, hat 3.400 gemeldete Einwohner. Mehr als 500 von ihnen sind rumänische Staatsbürger. „28 von ihnen sind aktuell mit dem Coronavirus infiziert“, teilte der Kreis Dithmarschen am Dienstag in Heide mit. Sie stellten damit einen Großteil der – Stand Mittwoch – 39 Infizierten im Landkreis. (…) Die Coronatestungen auf freiwilliger Basis sollen auf dem Gelände einer Arztpraxis stattfinden. Die mobile Abstrichpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung habe aus Kapazitätsgründen nicht kurzfristig für eine solche Testreihe zur Verfügung gestanden, hieß es…“ Artikel von Gernot Knödler vom 1. Oktober 2020 in der taz online externer Link – hier ist der Diskriminierungseffekt interessant, auch weil er – wie in Madrid – zu einer nach der Herkunft orientierten Quarantäne führen kann, die Freiwilligkeit nicht automatisch verhindert, sondern sogar unausgesprochen fördern kann…
  • Falschangaben auf Corona-Gästelisten: Lokale wollen nicht selbst kontrollieren 
    „… Die Einigung von Bund und Ländern, bei Falschangaben auf Gästelisten in Lokalen ein Mindestbußgeld von 50 Euro zu verhängen, hat eine Debatte über die Kontrolle der Angaben angestoßen. Bund und Länder hatten die die Gastronomiebetreiber in ihrem Beschluss aufgefordert, „durch Plausibilitätskontrollen dazu beizutragen, dass angeordnete Gästelisten richtig und vollständig geführt werden“. Merkel sagte dazu, dass sich Gastronomen „im Zweifelsfall“ den Ausweis oder Führerschein von Besuchern zeigen lassen sollten. (…) Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) kritisiert diese Aufforderung an die Wirte. „Es ist ein Streit unter Rechtsexperten, ob Gastwirte das Recht haben, sich den Personalausweis vorzeigen zu lassen“, entgegnete Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges im SWR. „Ich befürchte, dass sie keinen Anspruch darauf haben.“ Kontaktangaben der Gäste seien wichtig, um Corona-Infektionsketten nachverfolgen zu können, sagte Hartges. Doch „natürlich ist das Thema nicht konfliktfrei“ – und Gastwirte hätten hier keine hoheitliche Aufgabe. Es sei Aufgabe der lokalen Behörden, die Umsetzung zu kontrollieren. Darüber müssten sich die Landesregierungen jetzt Gedanken machen. Der Branchenverband sei „gefordert, in die Branche hinein zu kommunizieren, was gilt. Und die Politik ist gefordert, die Gäste zu sensibilisieren“, so Hartges. Und nicht in allen Bundesländern gibt es Bußgelder: Nur dort, wo Lokalbetreiber verpflichtet sind, Gästelisten zu führen, werden Bußgelder erhoben. Das trifft etwa für Sachsen-Anhalt nicht zu. In anderen Ländern gilt die Registrierungspflicht nicht im Außenbereich. Die Höhe der Bußgelder bestimmt zudem jedes Land selbst. (…) Besonders weit will Schleswig-Holstein gehen: Bis zu 1000 Euro Bußgeld drohen Gästen, die falsche Namen oder Adressen hinterlassen. Auch NRW plant die vereinbarte Mindesthöhe für Bußgelder zu überschreiten: Falschangaben sollen dort 250 Euro kosten. Ein falscher Namenseintrag sei „kein Kavaliersdelikt“, sagte Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU)…“ Meldung vom 30. September 2020 bei tagesschau.de externer Link, siehe dazu auch:

    • »Das hat mit Infektionsschutz nichts mehr zu tun« Thüringens Ministerpräsident Ramelow fordert besseren Datenschutz für Restaurant-Besucher
      „Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) dringt darauf, dass Daten von Restaurantbesuchern ausschließlich für den Infektionsschutz verwendet werden können. Er könne nicht akzeptieren, wenn Gerichte anordnen können, dass die Daten beschlagnahmt werden, sagte Ramelow am Dienstag in Erfurt nach einer Schalte der Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). »Das hat mit Infektionsschutz nichts mehr zu tun und ist, wie ich finde, keine gute Entwicklung«, betonte er. (…) »Es geht um den Schutz der Menschen und nicht um das Erheben von Daten in irgendwelchen Gaststätten«, sagte Ramelow. Seiner Meinung nach müsste eine entsprechende Datenschutzregelung auf Bundesebene verankert werden…“ Meldung vom 30. September 2020 in neues Deutschland online externer Link
    • Anm.: Wichtig ist die rechtliche Seite im Falle eines Bußgelds. Die korrekte Angabe sollte ggf. mit dem Argument verweigert, was Ramelow vermisst: Keine Absicherung gegen Zweckmissbrauch durch Zweckbindung. Von oben wird da aber erst im Streitfall was kommen. Was die ausschließliche Zweckbindung betrifft, sind Chancen sind aber nicht schlecht.
  • Alles unter Kontrolle. Auffallend oft haben Gerichte in der letzten Zeit einzelne Corona-Erlasse kassiert
    „… Es gibt Dutzende von Urteilen, in denen Verwaltungsgerichte über die Corona-Maßnahmen entschieden haben. Eine Tendenz in der Rechtsprechung sei nicht erkennbar, sagt Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Weder heben die Gerichte behördliche Anordnungen grundsätzlich auf, noch werden diese grundsätzlich bestätigt. Vielmehr komme es immer auf den Einzelfall an und darüber hinaus »auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens und den Fortschritt der medizinischen Erkenntnisse«. Für die Gerichte gilt es also auszuloten, ob die Gefahr einer Ansteckung mit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme übereinstimmt oder ob es nicht andere Mittel gibt, die weniger tief in die Grundrechte eingreifen. »Hier haben die Gerichte im letzten halben Jahr an vielen Stellen Bedenken angemeldet und Anordnungen wieder aufgehoben«, sagt Fisahn. Sie korrigierten damit die Entscheidungen der Exekutive. So soll es sein, sagt der Rechtsprofessor, der auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac ist. Insofern funktioniere der Rechtsstaat. (…) Der Rechtsexperte Fisahn hält die Coronakrise für besorgniserregend. Er befürchtet, dass der Rechtsstaat durch das Regieren mit Verordnungen längst Schaden genommen hat. Das zentrale Problem sieht er nämlich in den Generalklauseln des Infektionsgesetzes, »die zu vergleichsweise intensiven Grundrechtseingriffen ermächtigen« und damit längst an der Substanz der Demokratie kratzten. Ohnehin stellt er eine besorgniserregende Tendenz fest, dass nämlich im Zuge der Krisen des letzten Jahrzehnts sich das Machtgefüge längst zugunsten von Experten und Verwaltungsspitzen verschoben habe. Es gelte, wachsam zu sein, lautet sein Aufruf, allerdings »ohne gleich in den allgemeinen Abgesang auf Demokratie und Rechtsstaat einzustimmen«.“ Artikel von Stefan Otto vom 19.09.2020 beim ND online externer Link
  • Das Virus provoziert eine Klärung des Verhältnisses von Glaube, Wissen und Macht in der Demokratie
    „… Bild lässt sich gar nicht erst darauf ein, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Wissen über das neue Virus unfertig ist und sich noch ändert, die Eigenschaften von SARS-CoV-2 bezüglich Krankheitsbild und Übertragungsweg – mitten im Infektionsgeschehen – eben erst noch ermittelt werden; dass zweitens nicht nur Virologen mit ihren vorläufigen Erkenntnissen, sondern vor allem Epidemiologen die Politik beraten, die mit sogenannten ‚Modellierungen‘ möglicher Ausbreitungen und Ausbreitungsgeschwindigkeiten der Krankheit aus dem verfügbaren Wissen über das Virus, Bevölkerungsdichte, Familienverhältnisse, Kontakthäufigkeiten und anderes hochrechnen, also unterrichtete Schätzungen dazu abgeben, wie schlimm es vermutlich werden wird; dass schließlich die Politiker es sind, die diese notwendigerweise spekulativen Prognosen mit anderen staatlichen Interessen, hauptsächlich denen am Funktionieren der Wirtschaft, ins Verhältnis setzen – und den Experten mal mehr, mal weniger folgen. Weil Bild die von den Trägern der Staatsmacht verfügten Beschränkungen nicht passen, hetzt sie gegen die Wissenschaftler, denen sie die Verantwortung dafür zuschiebt (…) Die Gebildeten unter uns wissen nämlich, dass genau das, was Bild den Wissenschaftlern als Versagen vorwirft und als Grund anführt, warum das Land nicht auf sie hören sollte, kein Mangel, sondern Ausweis unserer modernen Wissenschaftskultur ist. Sogar wo die Verteidiger der Rationalität die Verständnislosen daran erinnern, dass die wechselnden Auskünfte der Forscher dem unfertigen Stand des Wissens über das neue Virus geschuldet sind, bestehen sie im selben Atemzug darauf, dass sich da nicht ein vorläufiger Mangel zeigt, an dessen Überwindung gearbeitet wird, sondern die endgültige Eigenart wissenschaftlicher Resultate selbst (…) Vertrauen verdient sich die Wissenschaft nicht durch ihre Ergebnisse und die Beweise, die sie dafür anführt, sondern durch die geregelten Verfahren der innerwissenschaftlichen Meinungsbildung (…) Der Ausnahmefall der Pandemie, in dem die Politik von medizinischen Fachleuten über die Gefahr für die Volksgesundheit und die verfügbaren Abwehrmittel in Kenntnis gesetzt wird und – unter Abwägung dieser Gesundheit mit ihren sonstigen nationalen Prioritäten – dem medizinischen Rat tatsächlich folgt, provoziert die ganze demokratische Intelligenz zur nur einerseits hochtrivialen Klarstellung, dass Wissenschaft, die Ermittlung von Wissen, und Politik, Unterwerfung der Gesellschaft unter Entscheidungen eines hoheitlichen Willens, nicht verwechselt und nicht als kollaborierende Teile einer das Volk beherrschenden Elite zusammengemischt werden dürfen. Das eben nicht, weil aus Einsichten in die Gesetze der Natur – so abstrakt wie das Feuilleton am Beispiel der Virologen davon spricht – sowieso nie und nimmer Herrschaft und Unterwerfung erwachsen, sondern weil in der Demokratie gottlob dafür gesorgt ist, dass die Wissenschaft in der Politik nichts zu sagen hat. (…) Die Träger der Macht, die über das Leben der Regierten Entscheidungen treffen und Gehorsam verlangen, müssen ihre Ratschlüsse nicht unbedingt informiert fällen und schon gar nicht wissenschaftlich begründen; sie müssen sie stattdessen ‚verantworten‘, d.h. vor dem Volk zu ihnen stehen. Fehler dürfen sie nicht zugeben; das wäre ein Zeichen von Schwäche, mit dem sie das Vertrauen in ihre Entscheidungskompetenz und letztlich ihre Macht verspielen. Ausgerechnet in der gesellschaftlichen Sphäre aber, in der es um Wissen geht, dürfen die Akteure ruhig irren und das auch zugeben…“ Artikel in der Reihe „Was Deutschland bewegt“ als Pandemie XI der Zeitschrift GegenStandpunkt 3-20 externer Link
  • Experten rügen Beschneidung von Kinderrechten während Corona scharf 
    „Die Corona-Krise ging einher mit einer massiven Beeinträchtigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, so der Tenor einer öffentlichen Sitzung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (Kiko) am Mittwoch, 9. September 2020. „Einen ganzen Zyklus von Gesprächen“ zu dem Thema leite man nun ein, sagte der Vorsitzende Norbert Müller (Die Linke). „Wie man es besser machen kann“, dazu wolle die Kinderkommission am Ende seiner Zeit als Vorsitzender im Februar 2021 Empfehlungen abgeben. Die aktuelle Sitzung diene einem ersten Überblick für die Debatten der kommenden Wochen. (…) Einschränkungen von Kinderrechten, wie sie zur Bekämpfung der Covid-Pandemie weltweit vorgenommen würden, „müssen verhältnismäßig sein“, betonte Claudia Kittel, Leiterin der Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Verfüge die Politik noch über keine ausreichende Wissensgrundlage, sei sie gehalten die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen ständig zu überprüfen. (…) 1,5 Milliarden Kinder seien weltweit von Bildungsexklusion betroffen, 500 Millionen bekämen keinen Ersatzunterricht, für 350 Millionen falle die Schulspeisung weg. Handlungsleitend für die Politik müsse hingegen die Kinderrechtskonvention sein, wonach „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist“. „Die Covid 19-Pandemie hat die soziale Polarisierung verstärkt“, stellte Klundt fest. Familien seien unter Druck geraten. Das Kontaktverbot treffe besonders Arme, Obdachlose und Flüchtlinge, Partizipationsmöglichkeiten schwänden. „Die Privilegierten konnten ihren Vorsprung ausbauen, die bereits Benachteiligten werden noch stärker benachteiligt.“ Er beobachte zudem einen „gesellschaftlichen Rückschritt“, eine „Retraditionalisierung“, da die Einschränkung der Kinderrechte zum großen Teil auch eine Einschränkung der Mütterrechte bedeute und Frauen in überkommene Rollen dränge. (…) Klundt warb dafür, Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung der Viruskrise stärker einzubeziehen, statt über ihre Köpfe hinweg einfach Spielplätze zu sperren. „Die Kinder und Jugendlichen sind die ersten Expertinnen und Experten für ihr Leben. Sie vor allem müssen gehört werden“, wenn es darum gehe aus den Erfahrungen zu lernen und „worauf wir besonders achten“ sollten, „wenn so etwas wieder passiert“…“ Bundestag-Dokument vom 10. September 2020 externer Link
  • Pandemie: Warum Gerichte Corona-Auflagen kassieren 
    In der ersten Phase der Pandemie sahen viele in Verboten Schutz. Aber das Grundgesetz steht für das Gegenteil. Freiheit ist die Regel, ihre Einschränkung ist die Ausnahme – und daher begründungsbedürftig. Als es so richtig losging mit der Corona-Krise im März, da sprachen manche von der Stunde der Exekutive. Das war schon damals nicht ganz richtig, denn auch die Parlamente haben entschieden und schnell gehandelt. Die Stunde der Judikative war es aber jedenfalls nicht. Dass sich die Justiz als entschiedener Gegenpol zu den drastischen Freiheitsbeschränkungen profiliert hätte, war in den ersten Wochen nicht zu beobachten. (…) Nun jedoch, ein paar Corona-Monate später, hat sich das verschwommene Bild scharf gestellt. Vieles ist wieder geöffnet oder teilgeöffnet, Beschränkungen werden präziser auf die Risiken abgestimmt – falls nicht, dann greift die Justiz ein. (…) Freiheit ist die Regel, ihre Einschränkung ist die Ausnahme – und daher begründungsbedürftig, auch im Kleinen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat ebenfalls schon im Juni die Corona-Sperrstunde in Bayern außer Vollzug gesetzt. Warum man sich nach 22 Uhr im Wirtshaus eher anstecken soll als vor 22 Uhr, erschien den Richtern nicht nachvollziehbar. Mit ähnlichen Argumenten könnte man gegen die in Bayern nach wie vor andauernde Schließung von Kneipen und Bars vorgehen, meint Rechtsanwalt Alexander Lang, dessen Würzburger Kanzlei gegen die Sperrstunde geklagt hatte. Dass man sich beim Trinken eher ansteckt als beim Essen, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Der „Verein zum Erhalt der bayerischen Wirtshauskultur“ will klagen. Dass das Ende der Breitband-Verordnungen gekommen ist, illustrieren mehrere Entscheidungen zur Quarantänepflicht. (…) Die Übervorsicht der ersten Corona-Wochen, mit der die Gerichte gerade aus der Unwissenheit heraus Ge- und Verbote lieber bestätigten als beanstandeten, weicht allmählich einer gewissen, sagen wir: Risikobereitschaft. Explizit ist dies auch in den Entscheidungen zu den Reise-rückkehrern nachzulesen, wo kühl durchkalkuliert wird, wie hoch oder wie niedrig die Gefahr ist, wenn man in Ländern mit bestimmten Fallzahlen war. Risikobereitschaft? Dürfen Gerichte überhaupt ins Risiko gehen? Sollen sie es sogar? Oder müssten sie nicht, immer und überall, auf Sicherheit setzen? Die Wahrheit ist, dass das kalkulierte Risiko letztlich die zentrale Kategorie für den Umgang mit Corona ist. In der Anfangszeit wurde bei Beschränkungen oft der Schutz der Gesundheit betont. Das ist zwar richtig, aber unvollständig: Es ging nie um einen absoluten Gesundheitsschutz – sonst wäre bei mehr als 9000 Toten die Pandemiebekämpfung ein grandioser Fehlschlag gewesen. Es ging immer darum, die Gefahren der Pandemie möglichst gering, auf jeden Fall aber kontrollierbar zu halten. Insofern ist es ein Akt der Ehrlichkeit, wenn Gerichte und Behörden nun offen die Risiken für die Gesundheit gegen Einbußen an Freiheit abwägen….“ Artikel von Wolfgang Janisch vom 1. August 2020 in der Süddetschen Zeitung online externer Link
  • [COVID-19 Global Monitor] EU-Kommission startet Monitor der Grundfreiheit 
    „… Um negative Auswirkungen für Menschenrechte und Grundfreiheiten der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie identifizieren und Missstände kritisieren zu können, startet die EU-Kommission die Online-Plattform „Global Monitor“. Von diesem Dienstag an sollen auf einer interaktiven Weltkarte für 162 Länder Daten von Organisationen wie Reporter ohne Grenzen oder von Universitäten aus Oxford und Melbourne gesammelt und alle 14 Tage aktualisiert werden. Jutta Urpilainen, die Kommissarin für Internationale Partnerschaften, wird das Pilotprojekt vorstellen mit Hannah Neumann, der Vizevorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament. „Es besteht die große Gefahr, dass sich im Schatten der Corona-Gesundheitskrise die Menschenrechtslage weltweit weiter verschlechtert“, warnt Neumann im SZ-Gespräch. Sie hat bei der Kommission erfolgreich für den Monitor geworben, damit sich neben der Öffentlichkeit auch Politiker und Medien schnell informieren können, wo welche Maßnahmen im Kampf gegen Corona getroffen wurden – und ob diese verhältnismäßig und befristet sind. (…) Drei Ziele habe der Online-Monitor: Neben der Übersicht über die Maßnahmen, die beschlossen wurden, um Covid-19 einzudämmen, soll ersichtlich werden, ob und wann die Regeln zurückgenommen wurden. Denn es besteht die Gefahr, dass diese die Rechte der Opposition oder kritischer Medien beschneiden. Dies sei nicht nur schädlich für die Demokratie, sondern auch für den Kampf gegen Covid-19. Drittens soll das Projekt helfen, Trends zu erkennen, wie die Rechte von Bürgern eingeschränkt werden. Dass solche Eingriffe nötig sein können, um das Virus in den Griff zu kriegen, zweifeln Menschenrechtsexperten nicht an. (…) Es bestehe kein Zweifel, dass die zweite Corona-Welle beziehungsweise die nächste Pandemie bald kommen wird. In Brüssel hofft man, dass der „Global Monitor“ eine konstruktive Debatte über die angemessene Einschränkung individueller Freiheiten fördert.“ Beitrag von Matthias Kolb vom 7. Juli 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link, siehe den englischsprachigen COVID-19 Global Monitor externer Link
  • Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: Die Humanistische Union formuliert Forderungen zur Corona-Pandemie
    „… Die Humanistische Union fordert: – Jede Maßnahme, die wegen der Pandemie Grundrechte einschränkt oder ihre Geltung aussetzt, muss befristet sein. Bevor die Fortgeltung solcher Maßnahmen angeordnet wird, muss demokratisch überprüft werden, ob sie zur Erreichung des angestrebten Ziels noch die geeignetsten und mildesten Mittel sind, und ob sie noch angemessen sind. Dazu gehört die transparente und sorgfältige Abwägung der mit der Grundrechtseinschränkung verbundenen Risiken. Bei allen Maßnahmen müssen auch die damit verbundenen anderen Risiken (z.B. das Risiko häuslicher Gewalt) berücksichtigt werden. –  Zu einer demokratischen Überprüfung der Fortgeltung von Grundrechtseinschränkungen gehört zwingend die Mitwirkung parlamentarischer Körperschaften. Anderslautende Ermächtigungen der Exekutive sind wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben. – Einschränkungen des Versammlungsrechts, die über das durch den Infektionsschutz gebotene Maß hinausgehen, sind sofort zurückzunehmen. Die Humanistische Union begrüßt daher die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei Anmeldungen von Versammlungen die Behörden ihren Ermessensspielraum nutzen und konkrete Einzelfallprüfungen vornehmen müssen. –  Derzeit wird über eine Corona-App als Allheilmittel zur Nachverfolgung von Infektionsketten zur Eindämmung der Pandemie diskutiert. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, der Informatiker Stefan Hügel, warnt: “Eine solche Corona-App birgt erhebliche Risiken für den Datenschutz und damit für die Persönlichkeitsrechte bei gleichzeitig unklarem Nutzen für den angestrebten Zweck.” Die Erwartungen an eine “Corona-App” müssen daher klar formuliert werden, und die App muss so entwickelt werden, dass sie ihren Zweck und die notwendigen Datenschutzstandards erfüllt. – Es müssen datenschutzfreundliche und sichere Lösungen für mobiles Arbeiten entwickelt werden. Dabei müssen die Lasten gerecht und nicht einseitig auf die Arbeitnehmer abgewälzt werden. – Die staatlichen Versäumnisse bei der Digitalisierung müssen aus aktuellem Anlass benannt werden, um sie zu beseitigen. – Die Privatisierung großer Teile der öffentlichen Infrastruktur muss auf den Prüfstand. – Es muss im Hinblick auf zukünftige Krisen, insbesondere in Folge des Klimawandels, geklärt werden, was wir aus der Corona-Krise lernen können bzw. müssen. Die Wahrung der Grundrechte muss Staat und Gesellschaft bei jeder Krisenbewältigung leiten. –  Die Notversorgung und Evakuierung der Flüchtlinge in den durch die Corona-Krise besonders bedrohten Flüchtlingslagern an der Südgrenze der Europäischen Union müssen durch eine europäische, humanitäre Lösung sichergestellt werden…“ Aus der Erklärung der Humanistischen Union, veröffentlicht am 29. Mai 2020 bei der Internationalen Liga für Menschenrechte externer Link zum Positionspapier der Humanistischen Union zur Corona-Krise externer Link
  • Mit Gesundheitspflicht gegen Grundrechte: Warum wir mit Corona unsere Freiheiten verloren haben
    „… Hier soll nicht ignoriert werden, dass eine Pandemie wie Corona jedes Gesundheitssystem überfordern kann. Aber es kommt darauf an, ab welcher Fallzahl und ab welchem Zeitpunkt die Überforderung eintritt. Ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem mit Leistungsreserven kann dafür sorgen, dass dieser Zeitpunkt deutlich später eintritt als es jetzt der Fall ist. Ein Gesundheitssystem, welches bei Normalauslastung ausreichend Luft nach oben hat bis es an seine Leistungsgrenze stößt, verschafft der Gesellschaft und den politischen Entscheidern wertvolle Zeit, um z.B. vor der Aussetzung von Grundrechten die Wirksamkeit milderer Maßnahmen zu prüfen. Denn auch in Ausnahmesituationen wie dieser darf der Staat nur dann in Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig ist. (…) Wir können aus an dem hier beschriebenen mindestens folgendes ableiten: 1. Die Schließung öffentlicher Krankenhäuser und der Verkauf einer großen Zahl der verbliebenen Einrichtungen an private Eigentümer war ein kapitaler Fehler, der uns jetzt teuer zu stehen kommt. Dabei werden wir als Gesellschaft gleich mehrfach zur Kasse gebeten: Während der Krise zahlen wir mit der Aussetzung von Grundrechten, mit der Gesundheit unserer Krankenpflegekräfte und mit der wirtschaftlichen Existenz zahlreicher Betriebe und kultureller Einrichtungen. Hier muss dringend umgesteuert werden. 2. Wir beobachten, dass unter den aktuellen Corona-Bedingungen der politische Wille der Bundes- und Landesregierungen sehr schnell eine bisher ungekannte unmittelbare Wirkung im Alltag entfaltet: Neben der Einschränkung der Grundrechte werden per Verordnung Betriebe und Geschäfte geschlossen. Dies wäre so vor Corona nicht denkbar gewesen. 3. Als Gesellschaft können wir die Erkenntnis unter 1. und die Beobachtung unter 2. als Momentum nutzen, um die Politik zu einer Umkehr in der Gesundheitsvorsorge zu bewegen: Die krisenfeste Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung muss wieder Staatsaufgabe werden. Dies ist dringend geboten, damit sich das aktuelle Szenario nicht wiederholt. Argumente aus der Politik, dass ein Umbau des aktuellen Gesundheitssystems aufgrund zahlreicher politischer und finanzieller Sachzwänge nicht möglich sei, sind kraftlos: Alles, was durch die Politik auf diesem Feld entschieden wurde kann auf dem gleichen Weg wieder revidiert werden. Wenn es notwendig ist Grundrechte einzuschränken, um das Gesundheitssystem zu schützen, dann ist das ein unüberhörbarer Weckruf. Verantwortlich für die aktuelle Situation ist nicht ein heimtückisches Virus. Verantwortlich sind vielmehr die politischen Entscheidungsträger, die unser Gesundheitssystem in die Lage gebracht haben, schutzbedürftig zu sein. Es geht darum, den Willen zur Umsteuerung in der Gesundheitspolitik zu wecken und ihn gegen Widerstände wach zu halten. Dazu braucht es unser aller Engagement in einer öffentlichen Debatte nach Corona, damit wir unsere Freiheiten nicht noch einmal wegen eines geschwächten Gesundheitssystems verlieren.“ Beitrag von Marc Schlichtherle vom 30. Mai 2020 bei Telepolis externer Link
  • Corona und Grundrechte: Augenmaß statt Angst
    „Fakt ist: Über Sars-CoV-2 ist noch so wenig bekannt, dass aktuell niemand mit Sicherheit sagen kann, wie gefährlich das Virus ist. Die Wissenschaft forscht und publiziert tagesaktuell. Wöchentlich werden neue Studien (oft vor dem Peer-Review) veröffentlicht und umgehend mit ebenso guten Argumenten angezweifelt. (…) Nun fragen uns Menschen, warum wir gerade keine Demonstrationen organisieren oder uns den Straßenprotesten anschließen. Einer unserer Gründe: Weil wir diese Abwägung zwischen Freiheitseinschränkungen und Infektionsschutz nicht für die gesamte Gesellschaft treffen können. Ja, unsere individuelle Freiheit wird stark eingeschränkt, wenn wir wenig rausgehen sollen, Kontakte meiden und Mund-Nase-Schutz tragen sollen. Auch wir halten einzelne Maßnahmen für überzogen oder falsch. Aber wir gestehen Menschen, die Verantwortung tragen, zu, Fehler zu machen. Fehler können später korrigiert werden. Wer keine Verantwortung für andere trägt, hat leicht reden. Die Zahlen zu Infektionen und Sterbefällen, die nach und nach immer genauer wissenschaftlich erhoben werden, zeigen aber, dass wir in Deutschland die Krise gerade ziemlich gut meistern. Nein, wir lassen damit uns nicht auf das übliche „der Zweck heiligt die Mittel“ ein, mit dem unsere Innenpolitiker.innen üblicherweise ihr Sicherheitstheater rechtfertigen. Vielmehr bestätigen diese Statistiken die Aussage der Bundesregierung, dass die meisten Einschränkungen ein sozialer, solidarischer Akt von uns allen sind. Der funktioniert. (…) Worauf wir achten: Jede Maßnahme muss nach dem aktuellen Wissensstand legitim, geeignet, erforderlich, angemessen sein – und begründet werden. Der Ausnahmezustand darf nicht zur Regel werden. Es muss immer ein Datum geben, an dem diese Einschränkung automatisch wegfällt. Wenn sich eine Maßnahme nicht bewährt oder offensichtlicher Unsinn ist, tragen wir sie nicht mit. (…) Querfront? Ohne uns – Nicht jede Demo, die sich die Verteidigung der Freiheit auf die Fahnen schreibt, ist in unserem Sinne. Aktuell protestieren in vielen deutschen Städten Menschen gegen die Einschränkungen von Grundrechten im Zuge der Pandemie. Wir sind uns aber sicher, dass einige davon gar nicht die Freiheit meinen, die wir meinen, sondern Willkür. Selbst wenn es nicht in der Absicht der Initiator.innen liegen sollte: Rechtsextreme versuchen, jede halbwegs erfolgreiche Bewegung zu vereinnahmen. Auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ gegen die Corona-Beschränkungen argumentieren Menschen, sie seien doch nur „um die Freiheit besorgt“. Eigentlich aber hegen und schüren sie Verachtung gegenüber der Demokratie und gegenüber demokratischen Strukturen, gegenüber demokratisch gewählten Politiker.innen („Eliten“), gegenüber der freien Presse und der freien Wissenschaft. Das Narrativ der „besorgten Bürger“, denen nicht ausreichend zugehört wird und das schon für Pegida beansprucht wurde, setzt sich hier fort und spricht auch viele Menschen an, die sich selbst nie als „rechts“ bezeichnen würden. (…) Die Corona-Kurve flach zu halten, ist weiterhin ein Ziel, an dem wir von Digitalcourage mitwirken wollen: Aus Solidarität und Verantwortung gegenüber der Gesundheit aller. Die Lage ist für uns alle, weltweit, komplett neu. Wahrheit braucht Zeit. Diskussionen brauchen Zeit, sind vielschichtig und kompliziert. Deshalb wird Digitalcourage jetzt nicht reflexhaft nach Lockerungen schreien, sondern wir bleiben ruhig, sachlich, achtsam und wachsam. Genau dafür brauchen wir Ihre Unterstützung.“ Stellungnahme von digitalcourage vom 8. Mai 2020 externer Link
  • Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Thesenpapier 2.0  –  Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19
    Bestärkt durch viele positive Reaktionen auf ihr erstes Thesenpapier externer Link haben die Autoren nun das Thesenpapier 2.0 veröffentlicht. Dabei üben sie nicht nur Kritik an den Maßnahmen, die auf der Grundlage einer völlig unzureichenden Datenlage beschlossen worden sind, sondern auch unterschwellig an der bisherigen Kommunikation: Sie fordern „einen sachlichen und gelassenen Austausch von Argumenten, der nichts beschönigt, aber auch nichts unnötig dramatisiert“. Alle Beteiligten müssten darauf hinwirken, dass „es nicht zu geschlossenen Argumentationsketten kommt, die anderslautenden Nachrichten keinen Raum mehr geben können“. Gleichzeitig erinnern die Autoren in ihrem Vorwort daran, dass SARS-CoV-2/Covid-19 eine typische Infektionskrankheit ist – zwar mit enormen „Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und auf die sozialen Systeme“, aber die Erkrankung stelle keinen Anlass dafür dar, „in quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen…“ Thesenpapier 2.0 externer Link  auf der Sonderseite des Ärzte Kollektivs Reichenberger Str. externer Link – Autoren: Prof. Dr. med. Matthias Schrappe Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit; Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin; Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin; Prof. Dr. phil. Holger Pfaff Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds; Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit
  • Internationale Strategien zur Stabilisierung der Machtverhältnisse – die totale Überwachung ist erreicht 
    „Nach dem Ende der bipolaren Welt im Jahr 1989 und dem Abhandenkommen von Gegnern und Grenzen wurden unter der Regie der USA auch alle Einschränkungen im Verkehr von Gütern und Kapital aufgehoben. Dies zu einem Zeitpunkt, an dem sich fast die Hälfte der Staaten der Welt erstmalig dem ausländischen Kapital öffnete, das dann auf ein riesiges Angebot an billigen und qualifizierten Arbeitskräften, einem enormen Vorkommen an Naturschätzen und einem noch nicht da gewesenen großen Absatzmarkt traf. Das kam vor allem dem Kapital der USA, als neue unipolare Macht zugute. Gleichzeitig bekam die Verbreitung des Neoliberalismus einen Schub, bei dem das Kapital von Einschränkungen befreit und der Arbeitsschutz, die öffentliche Daseinsvorsorge und der Sozialstaat nachhaltig abgebaut wurden. Vor dem Hintergrund des globalen Kapitalismus mit seinen sozialen Desintegrationsprozessen wurden parallel dazu internationale Strategien entwickelt, um zu gewährleisten, dass die Machtverhältnisse auch stabil bleiben. Dazu wurde vor allem die Polizei militarisiert, das Militär im Inneren einsetzbar gemacht und es gibt mittlerweile kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, auf das seitens der Politik nicht mit der Verschärfung des Strafrechts reagiert wird. Gleichzeitig wurde ein Überwachungssystem errichtet, in dem die Bevölkerung total überwacht, von jeder Person massenhaft Informationen gesammelt, sie erpressbar gemacht und ein immenses Meinungs- und Unterhaltungsangebot mit dem Internet aufgebaut wurde, damit die Massen beschwichtigt und ablenkt werden. Das digitale Zeitalter hat Überwachung so billig und einfach gemacht, wie noch nie, auch deshalb, weil ein Großteil der Daten freiwillig von den E-Phons geliefert werden. (…) Konzerne wie Facebook und Google sammeln Daten in einem unfassbaren, nie dagewesenen Ausmaß – unbeschränkt, dauerhaft. Dies umfasst nicht allein freiwillig zur Verfügung gestellte Informationen, sondern die digitale Erfassung und Überwachung aller Aktivitäten, weit über die Nutzung einzelner Social-Media-Plattformen hinaus. Auch ist es nicht auf die Daten derer beschränkt, die sich bewusst dafür entschieden haben, diese Dienste zu nutzen. Während internationales Recht und Verfassungen elementare Menschenrechte garantieren, staatliche Behörden reglementieren und diese einer rechtsstaatlichen Gewaltenkontrolle unterwerfen, haben diese Konzerne ein privates Überwachungsregime geschaffen, welches sich der unabhängigen öffentlichen Kontrolle weitgehend entzieht. Parallel zum Ausbau des weltweiten Überwachungssystems, in dem die Bevölkerung total ausgehorcht, von jeder Person massenhaft Informationen gesammelt werden, sie erpressbar macht, wurde parallel dazu ein immenses Meinungs- und Unterhaltungsangebot mit dem Internet aufgebaut, mit dem man die Massen beschwichtigen und ablenken will. Dazu kommt, dass die USA und auch die europäischen Staaten über ein Heer von Einflussjournalisten in Kooperation mit der monopolisierten Medienmacht verfügt, die globale Kommunikation weitgehend steuert. Mehr noch, in der Zusammenarbeit der staatlichen Behörden und Geheimdienste, IT-Unternehmen und Medienkonzernen ist ein Überwachungssystem entstanden, das sich selbst George Orwell in seinem utopischen Roman „1984“ nicht ausmalen konnte.“ Beitrag vom 5. Mai 2020 vom und beim Gewerkschaftsforum externer Link
  • Coronakrise: Eine bedrohliche Entwicklung für die Grundrechte. Der Menschenrechtsanwalt Eberhard Schulz über die Corona-App, die Einschränkungen der Grundrechte und drohende Eingriffe ins Arbeitsrecht
    „… Es drohten Maßnahmen des Arbeitszwangs, die nach Art. 12 Abs. 2 Grundgesetz verboten sind. Sehr problematisch sei also die Heranziehung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen wie Ärztinnen und Krankenpflegerinnen sowie Grundrechtseinschränkungen im Arbeitsschutzrecht und im kollektiven Arbeitsrecht. Bereits im März 2020 seien Gesetze auf diesen Gebieten aufgrund von jeweils wenige Tage zuvor von der Bundesregierung erstellten „Formulierungshilfen für die Koalitionsfraktionen für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Gesetzes“ zu Stande gekommen; alle drei Lesungen des Bundestages fanden jeweils an einem Tage ohne Aussprache statt, geschweige denn Anhörung von Experten und Beteiligten. (…) Als jahrzehntelang als Fachanwalt für Arbeitsrecht tätigem Rechtsanwalt scheinen mir insbesondere die neuen kollektivrechtlichen Regelungen mehr als problematisch, brechen sie doch mit den eigentlich selbstverständlichen Grundsätzen der Vertretung von den Interessen der abhängig Beschäftigten durch Betriebs- und Personalräte. Sollen doch wichtige Beschlüsse dieser Gremien in Zukunft – zumindest befristet – per Video- oder Telefonkonferenz oder sogar im Umlaufverfahren, also ohne Aussprache, zu Stande kommen können. Damit wäre die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland mühsam erkämpften Beteiligungsrechte der Interessenvertretungen vollkommen ausgehöhlt, dürfen doch derartige Beschlüsse nach den bisher geltenden gesetzlichen Regelungen nur bei persönliche Anwesenheit ihrer Mitglieder in nicht öffentlicher Sitzung mit Aussprache und Abstimmung nach demokratischen Regeln wirksam zu Stande kommen…“ Interview von Marcus Klöckner vom 03. Mai 2020 bei telepolis externer Link
  • Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand
    Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Dennoch sollten wir die gegenwärtige alptraumhafte Situation im Gefolge des Corona-Virus (Covid-19) kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen – gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden sind. Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollen dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte. Diese Debatte leidet derzeit leider noch immer unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung (…) Bei so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten und autoritären Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie – nicht nur in Schön­wetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern.“ Aus dem Vorwort des Autors zum Artikel von Rolf Gössner vom 24.04.2020 bei Ossietzky externer Link – eine ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist
  • An Überwachung gewöhnen. Kontrolle und Überwachung gefährden die Bürgerrechte
    Im Rahmen der Pandemiebekämpfung werden Überwachungmöglichkeiten und Kontrollbefugnisse weiter ausgebaut. Das Virus ermöglicht es, Maßnahmen durchzusetzen, die zuvor noch sehr umstritten waren. (…) Wieso soll es für den Infektionsschutz unbedenklich sein, von Heinsberg nach Köln zu reisen, während die Fahrt von Kaiserslautern nach Metz oder von Görlitz nach Zgorzelec verboten bleibt? Die einst als größte Errungenschaft der Europäischen Union gepriesene Freizügigkeit ist vorerst Geschichte. Das Virus wird zum Vorwand einer neuen Nationalstaaterei. Vor knapp sechs Wochen begann der deutsche lockdown. Seit zwei Wochen gibt es zögerliche Lockerungen. Es ist aber unklar, ob und wann die Grundrechtseinschränkungen zur Gänze zurückgenommen werden. Die Polizei und die Ordnungsämter werden vermutlich mit gestärkter Autorität aus der Coronakrise hervorgehen, ihre Maßnahmen zur Durchsetzung der lokalen Verordnungen führen dazu, dass sich die Bürger an Überwachung und Kontrolle bei alltäglichen Verrichtungen gewöhnen. In einigen Städten und Gemeinden bot die Bekämpfung des Coronavirus den Anlass, neue Formen von Repression zu installieren. Dort kontrolliert die Polizei die Einhaltung der Allgemeinverfügungen beispielsweise mit Videoüberwachung und Drohnen. Manche Gemeinden heuern private Sicherheitsdienste an, die Menschenansammlungen feststellen und verwarnen sollen. Auch die Bundeswehr hält 5.500 Soldaten für »Absicherung/Schutz« und 600 Feldjäger bereit...“ Kommentar von Matthias Monroy in der Jungle World vom 30.04.2020 externer Link
  • Saarländischer Verfassungsgerichtshof kippt Ausgangsverbote 
    Die Entscheidung verweist darauf, dass es keine belastbaren Belege für die Wirksamkeit der angeordneten Ausgangsbeschränkungen gibt.
    Es beginnt eine Wende. Bislang konnten die Regierungen weitgehend unbehelligt von der Opposition und den Gerichten zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie weitreichende Einschränkungen der Grundrechte durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits geklärt, dass eine allgemeine Einschränkung der Versammlungsfreiheit nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Verfassungsgericht: Demonstrationsrecht gilt trotz Corona-Pandemie). Jetzt durchbricht der saarländische Verfassungsgerichtshof aufgrund eines Eilantrags eines saarländischen Bürgers eine weitere Schwelle und ordnete an, dass die Ausgangsbeschränkungen nicht erst Anfang Mai, wie von der Landesregierung vorgesehen, sondern sofort gelockert werden müssen. Das wird in ganz Deutschland Folgen haben, etwa in Bayern, wo die Regierung gerade die Maßnahmen bis zum 10. Mai verlängert hat, auch wenn Gottesdienste und Versammlungen ab 4. Mai unter strengen Beschränkungen wieder durchgeführt werden sollen. Im Saarland durften die Menschen wie in den anderen Bundesländern ihre Wohnung nur mit einem „triftigen Grund“ verlassen, wozu Einkäufe, Arztbesuche oder der Weg zur Arbeit gehörten. Man könne aus dem Vergleich der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung keinen Rückschluss auf die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkung ziehen, sagt der Verfassungsgerichtshof. Zudem müssen die Beschränkungen von Tag zu Tag auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden
    …“ Artikel von Florian Rötzer vom 29. April 2020 bei telepolis externer Link
  • Schutzhaft in Pflegeheimen (Die Institutionen schweigen — Berichte von Whistleblowern machen Angst) 
    Alle Bundesländer in Deutschland haben unterschiedlich scharfe Einschränkungen für Bewohner und deren Angehörigen von Pflegeheimen externer Link angeordnet. Wie auch die anderen Einschränkungen von Grundrechten werden ähnliche Maßnahmen in Pflegeheimen auch in anderen Staaten praktiziert, zum Beispiel in Portugal, wo ich mich derzeit aufhalte (…) Besonders die Älteren müssten als Risikogruppe in hohem Maße vor dem Virus geschützt werden. Mit diesem Anspruch aber, wörtlich genommen, werden die Alten zum passiven Objekt staatlicher Biopolitik, da ihnen die eigene Handlungskompetenz entzogen wird. Sie werden pauschal entmündigt. Die Alternative: Aufklärung der Risikogruppe und Unterstützung statt Entmündigung wird bisher kaum kommuniziert. (…) Sie denken kundenorientiert, suchen kundenorientierte Lösungen. Während Sie jedenfalls gerade so richtig in Fahrt kommen, die guten Ideen sprudeln, Sie recht zuversichtlich sind, dass Sie die Lage schon irgendwie meistern werden, erhalten Sie zwei Eil-Briefe vom Staat: Der erste Brief trägt den Titel: Verordnung zur Regelung von Neu- und Wiederaufnahmen in vollstationären Dauer- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen externer Link . Sie lesen den Brief aufmerksam durch und bekommen einen Schreck! Wie sollen Sie derartige Forderungen umsetzen? Als ob es so einfach wäre, mal eben “ unverzüglich Isolations- und Quarantänebereiche in einer für die Bewohnerzahl angemessenen Größe vorzubereiten“. Sie haben Jahre daran gearbeitet, Ihren Pflegekräften beizubringen, die Zimmer als Zuhause, als Wohnung ihrer Bewohner zu sehen. Sie haben damit geworben, dass Ihre Kunden diese „Wohnungen“ mit wenigstens ein paar vertrauten Gegenständen einzurichten können. Wie soll das gehen, plötzlich drei verschiedene getrennte Unterbringungs-Bereiche einzurichten ohne ganz massiv in das Wohnrecht ihrer Kunden einzudringen. Ist das überhaupt rechtlich möglich? Glücklicherweise finden Sie im zweiten Brief des Ministeriums externer Link auch Auslegungshinweise. Darin, so hoffen Sie, finden Sie Hilfen, wie Sie die geforderten Maßnahmen in Ihrem Haus umsetzen können. Doch weit gefehlt, hier wird nur noch schärfer formuliert, welche Ergebnisse von Ihnen erwartet werden. Dass es die Verfasser in diesen Auslegungshinweisen im Zusammenhang mit dieser lagerartigen Vorgehensweise auch noch wagen, von unterschiedlichen Wohn-Bereichen zu sprechen, erleben Sie als nur noch zynisch. „Die Wohnung ist unverletzlich“, heißt es doch im Grundgesetz. Und Sie haben jedenfalls ihren Pflegekräften immer wieder eingeschärft, dass sie auch die Bewohnerzimmer in diesem Sinn als vom Grundrecht geschützte Wohnung ihrer Kunden ansehen müssen, z.B. diese nicht einfach betreten dürfen ohne das „Herein“ nach dem Anklopfen. Genauso unmöglich erscheint es Ihnen, nun plötzlich drei verschiedene Teams, samt Nachtwachen, einzurichten. Woher sollen Sie die Mitarbeiter dazu nehmen? (…) Und nun sollen Sie Ihre schon an der Grenze des Zumutbaren arbeitenden Mitarbeiter auch noch verpflichten, bis zu 12 Stunden zu arbeiten? Und danach nur 9 Stunden Ruhepause zu haben? Notfalls, so wird ja auch schon diskutiert, sollen Sie ihr Team gar mit Zwangsarbeitern aufstocken? Während Sie noch verzweifelt nach Auswegen suchen aus diesem Horror, den Sie umsetzen sollen, erfahren Sie aus den Medien, dass in NRW nun ein totales Besuchsverbot für Pflegeheime eingeführt worden ist. (…) Alle meine ehemaligen Kollegen hüllen sich in Schweigen, sobald ich erwähne, dass ich einen Artikel zu dem Thema schreibe. Ich verurteile das nicht, ich kann es verstehen: Sie sind verzweifelt. Sie sollen Unmögliches zustande bringen und müssen nicht nur befürchten, mal wieder an den Pranger gestellt zu werden, sondern stehen auch mit einem Bein im Knast, egal was sie tun. Wenigstens erhalte ich einige Informationen von Whistleblowern. (…) Hier plant die Leitung eines Wohnheimes aus NRW, einfach alle mündigen erwachsenen Bewohner einer Behinderteneinrichtung einzusperren. Diese Absicht entspricht dem Straftatbestand der Freiheitsberaubung und wird nach StGB §239 mit Freiheitsstrafe, schon für den bloßen Versuch, von bis zu 5 Jahren Gefängnis geahndet. Sollte die Freiheitsberaubung länger als eine Woche andauern, beträgt die Strafe sogar mindestens ein Jahr bis zu 10 Jahren Haft. Im Verteiler dieser Mail sind zig weitere Einrichtungen, die ähnliches planen. Diese Information ist so brisant, dass ich die ganze damit zusammenhängende Korrespondenz vernichtet habe, damit ich auch im Fall einer Hausdurchsuchung den Quellenschutz garantieren kann. (…) Weiter wurde mir von einem anderen Heim z.B. berichtet, dass Praktikanten dort mit der regelrechten Jagd auf heimliche Treffen zwischen Heimbewohnern und Angehörigen beauftragt wurden. In diesem größeren Heim ist es den alten Menschen immer wieder gelungen, durch Nebeneingänge dem Ausgangsverbot zu entrinnen und sich in einer nahegelegenen Tiefgarage heimlich mit ihren Liebsten zu treffen. In anderen Häusern werden einfach alle dementen Bewohner in ihrem Zimmer eingesperrt, damit sie nicht unkontrolliert durch die verschiedenen Abschnitte laufen können. Ärzte werden bedrängt, höhere Dosen sedierender Medikamente zu verabreichen. Und vieles mehr. Es ist der reinste Horror! Alles zum Schutz der alten Menschen und alles, ohne sie zu fragen, welchen und wie viel Schutz sie überhaupt wollen.“ (…) Die Lösung besteht schlicht darin, alle stationären Einrichtungen für erwachsene Pflegebedürftige und/oder behinderte Menschen komplett zu entinstitutionalisieren und konsequent in reine Wohnhäuser mit je einzelnen „Wohnungen“ umzuwidmen. Es muss dann einfach nur eine strikte Trennung zwischen dem Wohnrecht der Bewohner solcher Häuser und deren Betreuung eingeführt werden. So, wie es jetzt bereits für eine zunehmende Zahl von „Seniorenwohngemeinschaften“ der Fall ist und gut funktioniert. Die Betreuung und Pflege der Bewohner muss dann „ambulant“ angeboten werden, genauso wie heute ein ambulanter Pflegedienst die Wohnungen der Pflegeleistungen nachfragenden Menschen auf- und nicht heimsucht…“ Empfehlenswerter Artikel von Klaus Heck vom 23. April 2020 in telepolis externer Link, siehe dazu:

    • Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
      Heime gelten als ganz besonders gefährdet durch Corona. Einsperren dürfen sie ihre Bewohner trotzdem nicht, auch wenn einzelne das wohl versuchen. (…) Viele Heime und Wohngruppen bewegen sich da gerade auf schwankendem Grund. Wörtlich steht in der Verfügung des zuständigen Gesundheitsamtes, die wiederum auf den entsprechenden Weisungen des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung beruht: „Die Betreiberinnen und Betreiber der o. g. Einrichtungen sind aufgefordert, die Bewohnerinnen und Bewohner anzuhalten, die Einrichtungen und das dazugehörige Außengelände nicht zu verlassen.“ Das ist deshalb so schwammig formuliert, weil viel mehr als Appelle rechtlich gar nicht drin sind: Denn natürlich gelten auch für Menschen in Heimen oder Einrichtungen des betreuten Wohnens die gleichen Freiheitsrechte wie für jeden anderen Menschen. Ein Haus- oder Zimmerarrest lässt sich nicht einfach so anordnen, schon gar nicht per Hausordnung. Das erklärt auch das Ministerium auf Nachfrage. Um Menschen einzuschließen, benötigt man immer noch einen richterlichen Beschluss oder eben eine Quarantäne-Anordnung des Gesundheitsamtes, die aber nur bei einer Infektion oder einem begründeten Verdachtsfall möglich und dann auch zeitlich befristet ist. (…) Als Einrichtung im Sinne dieses Erlassen gelten allerdings nicht nur Pflegeheime. Er betrifft auch Behinderte oder Einrichtungen zur Wiedereingliederung für psychisch Kranke. Und da wird es eben schwierig: „Es ist natürlich etwas komplett anderes, ob wir hier über schwer Pflegebedürftige reden oder über Menschen mit einer Beeinträchtigung, die möglicherweise auch noch einen hohen Bewegungsdrang haben“, sagt Holger Stolz, Geschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen. Als einer der größten Träger in diesem Bereich steht die Lebenshilfe nun vor der Aufgabe, für jede einzelne Einrichtung nach handhabbaren Lösungen zu suchen…“ Artikel von Nadine Conti vom 22.4.2020 in der taz online externer Link
  • Wird die Corona-Krise zur Verfassungskrise? Kritische Anmerkungen zum Problemverständnis des Bundesverfassungsgerichts / Nachtrag: Die Harbarth-Kammer bleibt dabei: Statt zu entscheiden, lieber raushalten 
    Seit den pandemiebedingten Eingriffen in verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte wird viel über den Sinn und Zweck der ganzen Aktion debattiert, aber auch – z.B. bei Eingriffe in das durch Art. 8 Grundgesetz gewährleistete Versammlungs- und Demonstrationsrecht – vieles berechtigt kritisiert. (…) Den realen Ausnahmezustand als nicht „formell“ zu bezeichnen, lässt sich entweder als Forderung auch an die für den Grundrechtsschutz verantwortlichen Gerichte interpretieren, diese auch zu verteidigen, oder als Versuch einer Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe, die – zumindest teilweise – verfassungswidrig waren, weil sie sich aus dem Grundgesetz gar nicht ableiten lassen. Nicht bestreiten lässt sich wohl deren „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“, also genau das, was nach § 93a BVerfGG ureigenste Angelegenheit des höchsten deutschen Gerichts war und ist. Doch genau dieser zentralen Aufgabe kam das Bundesverfassungsgericht bisher nicht angemessen nach. Es versagt gerade in dem Augenblick, wo es auf eine Verteidigung von Grundrechten massiv ankommt. Die Neuartigkeit der Situation entschuldigt hier nichts. (…) Der Umgang der drei Kammern des Ersten Senats mit den Verfassungsbeschwerden anlässlich der extremen Eingriffe in Grundrechte, lässt sich wohl am zutreffensten als Versuch einer Abwiegelung verstehen. Nicht zufällig werden die für den Beschwerdeführer abschlägigen Entscheidungen auch mit der Befristung der Maßnahmen begründet. Man hofft – anders gesagt – auf ein baldiges Ende. Nur von was? Von eigentlich verfassungswidrigen Grundrechtseingriffen? Die Frage ist außerdem: Mit welcher Berechtigung wartet man überhaupt ab? Was ist, wenn das Verdrängen nicht funktioniert, weil es nach der Befristung munter so oder ähnlich weitergeht? (…) Es zeigt sich schon jetzt ein Problem, was in Zukunft bestimmt von zentraler Bedeutung sein wird: Gehören sozial- und wirtschaftspolitische Folgeerscheinungen der Pandemiemaßnahmen nicht auch zum „nicht formalen“ Ausnahmezustand? Endet dieser mit der Abnahme der Infektionsgefahr oder setzt er sich bei den Folgemaßnahmen fort? Wie z.B. die pandemiebegründeten Eingriffe des Gesetzgebers in die langerkämpfte Begrenzung der Arbeitszeit zeigt (vgl. § 14 Abs. 1 ArbZG) ist diese Problematik bereits hoch aktuell und ungelöst; vor allem sind ja politische Versammlungen verboten (wie passend!)…“ Anmerkungen von Armin Kammrad vom 14. April 2020  – wir danken! Siehe aus aktuellem Anlaß den Nachtrag:

    • Die Harbarth-Kammer bleibt dabei: Statt zu entscheiden, lieber raushalten
      Die Entscheidungen der 1.Kammer des Ersten Senats reißen nicht ab. Jedoch bleibt der Grundtenor immer gleich: Statt inhaltlicher Entscheidungen nur Kammerentscheidungen ausschließlich zum Rechtsweg, nicht zum Inhalt. So auch beim Kammer-Beschluss 1 BvR 828/20 vom 15. April 2020 externer Link. bei dem es um Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ in Gießen ging. (…) Was die Frage betrifft, ob überhaupt diese Verbote verfassungswidrig sind, gibt die 1. Kammer indirekt allerdings schon eine Antwort – allerdings eine sehr fragwürdige. Heißt es doch in Pkt. 3 der Entscheidung: „Die Stadt Gießen erhält Gelegenheit, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer nach pflichtgemäßem Ermessen erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird.“ Es war jedoch gerade nicht das Interesse des Beschwerdeführers der Stadt Gießen Gelegenheit zu geben, letztlich – nach erneuter Abwägung – sich doch für ein Verbot zu entscheiden, sondern dass ein solches Verbot grundsätzlich nicht verfassungsgemäß ist. (…) Wir sollten jedoch nicht nachlassen, dem Kammerverfahren ein Ende zu bereiten und endlich den Senat zu einer inhaltlichen Stellungsnahme zu zwingen, also zu dem, was die Kammern bisher gerade zu verhindern versuchen.“ Kommentar von Armin Kammrad vom 17. April 2020  – wir danken für die schnelle Reaktion!
    • Siehe Hintergrund auch unser Dossier: Von totalen Demonstrationsverboten, Klagen und Widersprüchen in Zeiten des Coronavirus
  • Wilhelm Heitmeyer: „In der Krise wächst das Autoritäre“
    „Verändert die Corona-Krise die Gesellschaft zum Guten?“ Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zweifelt im Interview von Christian Bangel am 13. April 2020 bei der Zeit online externer Link u.a. mit er Begründung: „… Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein, also weitere Kontrollverluste. (…) Es gibt (…) einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs. (…) Da reicht ein Blick auf die politische Landkarte. Die Kraft dieses neuen Nationalismus zeigt sich auch daran, dass die EU-Staaten unabhängig voneinander ihre Grenzen geschlossen haben. So eine Dynamik kommt zweifelhaften Vorreitern wie Orbán in Ungarn sehr gelegen. Er nutzt das jetzt zu einer fast uneingeschränkten Ausdehnung seiner Macht zur autoritären Kontrolle der Gesellschaft. Die EU finanziert eine formaldemokratisch verbrämte Diktatur in Europa. (…) Es ist zu befürchten, dass sich dieser autoritäre Nationalradikalismus – Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff – in den Ländern des Ostens weiter verfestigt. Bevor man darüber hinweg geht, sollte man bedenken, dass Orbán auch ein Vorbild für die deutsche Version dieses autoritär-nationalen Radikalismus ist, also die AfD. (…) Es gibt ein rechtes Eskalationskontinuum, das aus fünf Elementen besteht. Es beginnt mit der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – also Juden, Muslime, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimation für die AfD, die das politisch in Parolen verdichtet und auf die Tagesordnung hebt. Die AfD schafft ihrerseits wiederum Legitimationen für rechtsextreme Milieus, indem sie Begriffe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“ in die Welt setzt und mit Untergangsfantasien operiert. Diese systemfeindlichen Milieus operieren zum Teil schon mit Gewalt und geben wieder Legitimationen an militante Zellen, die konspirativ operieren – Gruppen wie „Revolution Chemnitz“ oder „Freital 360″. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger, bis hin zu rechtsterroristischen Zellen oder Einzeltätern. (…) Solange sich da grundsätzlich nichts ändert, sehe ich auch keine sozialen Veränderungen kommen. Nach der Krise wird es doch eher ein brutales Aufholrennen für die verpassten Renditen geben. Dann dürften sehr schnell wieder umstandslos die Kriterien von Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz gelten – nicht nur bei der Herstellung von Waschmaschinen, sondern auch in der Bewertung von Menschen. (…) In der Krise wächst das Autoritäre…“
  • Vorläufige juristische Einschätzung der „Ausgangsbeschränkung“ in Bayern
    „… Aufgrund der zahlreichen Anfragen zu diesem Thema haben wir uns entschlossen, eine kurze rechtliche Einschätzung abzugeben. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es sich um rechtliches Neuland handelt. Es handelt sich somit ausdrücklich nur um eine erste unverbindliche rechtliche Einschätzung. (…) Die Verordnung stützt sich auf § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). (…) Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Verordnung von der Rechtsgrundlage gedeckt ist. Der § 28 IfSG wurde kurz nach Erlass der ersten Ausgangsbeschränkungen im Eilverfahren geändert, offenbar mit dem Zweck, Ausgangsbeschränkungen auf die Vorschrift stützen zu können. Unsere Strafrechtsabteilung hat allerdings weiterhin erhebliche Zweifel daran, ob Ausgangsbeschränkungen auf diese Vorschrift gestützt werden können. Für die Bußgelder, die in den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkung verhängt wurden, heißt dies, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig sind.(…) Wir weisen hier ausdrücklich darauf hin, dass wir dazu raten, sich an die Regelungen der Verordnung zu halten. Wir wollen an dieser Stelle nur für den Fall entstandener Schäden oder verhängter Bußgelder dafür sensibilisieren, dass es sich lohnt, Maßnahmen nach dieser Verordnung einer rechtlichen Prüfung zu unterziehen. (…) Fazit: Die Ausgangsbeschränkung erscheint medizinisch notwendig. Zweifelhaft ist, ob sie auf der Grundlage des IfSG überhaupt zulässig ist. Die Ausgangsbeschränkung lässt genug Ausnahmen zu, dass sämtliche notwendige und unaufschiebbare Anliegen weiterhin dazu berechtigen, die Wohnung zu verlassen. Bei Straf- oder Bußgeldverfahren sollte in jedem Fall rechtlicher Rat eingeholt werden…“ Juristische Einschätzung der Münchner Kanzlei Wächtler und Kollegen vom 6. April 2020 externer Link – wir danken der Roten Hilfe München für den Hinweis
  • Balkonkonzert-Verbot in Sachsen-Anhalt
    Balkonkonzerte sorgten in Wernigerode für kleine Freuden in der Corona-Krise. Nun werde sie verboten, was im Harz für Unverständnis sorgt. Balkonkonzerte sind in Sachsen-Anhalt bis auf Weiteres verboten. Diese Konzerte würden dem geltenden Veranstaltungsverbot unterliegen. Das habe das Landesverwaltungsamt der Stadt Wernigerode mitgeteilt, informiert Rathaussprecher Tobias Kascha. „Wir haben uns sofort mit dem Philharmonischen Kammerorchester und der Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft in Verbindung gesetzt.“ Dort wurden Konzerte für die nächsten Tage vorbereitet. „Das ist sehr schade“, so Kascha. Die Auftritte der Musiker seien eine Möglichkeit, um Leuten in Zeiten von Corona Freude zu bringen. Zumal dabei bislang die Abstandsregeln eingehalten wurden. Die Zuschauer hätten die Musik lediglich von ihren Fenstern oder Balkonen aus verfolgt. Oder die Musiker standen beispielsweise vor Seniorenheimen auf Grünflächen und spielten für die Bewohner, die die Heime wegen der Corona-Pandemie nicht verlassen dürfen. „Wir finden die Anweisung des Landes ein Stück weit überzogen. Aber wir müssen sie akzeptieren“, so Kascha. (…) Nachdem das generelle Verbot von Balkonkonzerten in einigen Kommunen für Unverständnis gesorgt hat, rudert das Landesverwaltungsamt nun ein wenig zurück. „Grundsätzlich ist es nicht verboten, Musik zu machen“, heißt es auf Nachfrage von Sprecherin Denise Vopel. „Das ist erst verboten, wenn daraus eine Veranstaltung wird.“ Was bei Menschenansammlungen der Fall sei. Zudem müsse das jeweilige Gesundheitsamt prüfen, ob die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden können...“ Artikel „Harzer enttäuscht über Balkonkonzert-Verbot“ von Ivonne Sielaff  und Sandra Reulecke vom 11.04.2020 in volksstimme.de externer Link
  • Absurde Polizeibefugnisse aufgrund von angeblichem Infektionsschutz
    Kritische Wissenschaftler berichten von weiteren Vorfällen und stellen sich der Aushöhlung der Versammlungsfreiheit entgegen. Als Clemens Arzt am vergangenen Sonntag durch Berlin-Kreuzberg spazierte, fuhr eine kleine Autokolonne an ihm vorbei, an der Plakate mit politischen Botschaften in Solidarität mit Flüchtlingen hingen. „Die werden bald gestoppt“, dachte sich der Jurist. Die Analyse des staatlichen Umgangs mit politischem Protest und Grundrechten ist derzeit ein besonders großer Schwerpunkt in der täglichen Arbeit von Arzt, er ist nämlich Professor für Staats- und Verwaltungsrecht mit dem Schwerpunkt Polizei- und Ordnungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin. Wenig später musste Arzt feststellen, dass der kleine Autokorso tatsächlich von der Polizei angehalten worden war. Die sperrte dafür beide Fahrspuren Richtung Zentrum der Skalitzer Straße, einer der Hauptstraßen Kreuzbergs. Die Leute in den Autos hätten alle irgendeine Form von Gesichtsverhüllung getragen, erzählt Arzt, aber dagegen sei die Polizei nicht vorgegangen. Grund für die Polizeiaktion war, dass das Herumfahren politischer Botschaften als Versammlung angesehen wurde – und die Versammlungsfreiheit ist derzeit nicht nur in Berlin mehr oder weniger wegen des Infektionsschutzes ausgesetzt. (…) Zu Solidaritätsaktionen wie dieser hatte das Bündnis Seebrücke aufgerufen. So wurden am Sonntag in mehreren Städten laut Berichten mit dem üblichen pandemiebedingten Sicherheitsabstand und mit Vermummung Botschaften hochgehalten oder mit Farbe und Schuhen Fußabdrücke aufs Straßenpflaster gedrückt, um an die in Griechenland und an der griechischen Grenze in unhaltbaren Zuständen lebenden Flüchtlinge zu erinnern. Oft ging die Polizei massiv dagegen vor, auch wenn offensichtlich keinerlei Gefahr von den Protestierenden ausging, etwa in Frankfurt. Die Taz berichtete in ihrer Regionalausgabe Nord vom Dienstag, dass es in Hamburg am Wochenende an mehreren Stellen zu Platzverweisen und Bußgeldern wegen solcher Aktionen gekommen sei. Demzufolge wurde am Sonntag eine Person in Gewahrsam genommen, weil sie sich nicht ausweisen wollte. Wer den Protest dokumentieren wollte, wurde von der Polizei nicht nur in Hamburg körperlich angegangen, sondern auch in Frankfurt. In Berlin mussten Presseleute am Rand einer Protestaktion ihre Personalien angeben. In Weinheim bei Mannheim wurde ein Mensch zu Hause festgenommen und sämtlicher Datenträger beraubt, weil er im Internet zu „einem friedlichen Protestmarsch gegen Ausgangsbeschränkungen“ aufgerufen haben soll, wie der SWR berichtet. (…) Verwunderlich ist all dieses Jagen von Leuten, die in kleiner Zahl mit Plakaten auf Autos oder Fahrrädern herumfahren oder schlicht im Park rumsitzen, schon allein angesichts der Tatsache, dass seit Jahren über den Berg an Überstunden geklagt wird, der bei der Polizei bundesweit angefallen ist. Vor allem aber sind diese Befugnisse und die verhängten Repressalien – vom Platzverweis bis zur Geldbuße – absurd. Absurd wäre auch der Versuch, die Versammlungs- und Aufenthaltsverbote flächendeckend durchzusetzen, wenn sich viele Menschen ihnen widersetzen würden. Am 28. März zeigten angeblich 200 Menschen (mit Sicherheitsabstand) am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, wie das geht , und wieviel Mühe die Polizei hat, so eine Demo zu zerschlagen. Zudem steht der 1. Mai vor einer Repolitisierung, zumindest in Berlin und Hamburg. Nachdem in Berlin die Zahl der Teilnehmenden an der traditionellen revolutionären Demo in den letzten Jahren rückläufig war und auch so manche antikapitalistische Gruppe nicht mehr dafür mobilisierte, ruft nun der Demo-Vorbereitungskreis dazu auf, sich die Veranstaltung nicht verbieten zu lassen und jetzt schon darüber zu diskutieren, was unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes an dem Tag getan werden kann. Da in den nächsten Wochen vermutlich die lange von der Bundesregierung und ihren Fachleuten vertretene Position, ein Mundschutz bringe nichts gegen Corona, aufgegeben werden wird (in Frankreich deutet sich das ebenfalls an), darf schon mal darauf gewettet werden, ob es am 1. Mai einen neuen Vermummungsrekord geben wird.“ Beitrag von Ralf Hutten vom 10. April 2020 bei Telepolis externer Link
  • [Strategiepapier] Brisante Informationen – Veröffentlicht die Dokumente!
    „Das Bundesinnenministerium hat vorige Woche ein vertrauliches Strategiepapier zum Umgang mit der Corona-Pandemie herausgegeben. Na gut, offiziell herausgegeben hat es das Papier nicht, offiziell ist es ja vertraulich. Trotzdem lag es dem „Spiegel“ vor. Und dem Recherchenetzwerk von „Süddeutscher Zeitung“ (SZ), NDR und WDR. Und der „taz“. Und womöglich noch anderen. Alle Medien zitieren aus dem 17-seitigen Papier und beleuchten unterschiedliche Aspekte daraus.  (…) Aber warum eigentlich nicht die anderen? Besonders vertraulich ist das Dokument ja ohnehin nicht mehr, wenn es durch so viele Hände gegangen und in (verschiedenen) Auszügen veröffentlicht ist. Die Antworten auf diese Frage haben mit einem spezifischen und einem generellen Problem in Bezug auf Transparenz im deutschen Journalismus zu tun. (…) Die erste Antwort ist naheliegend: Journalist*innen müssen ihre Quellen schützen, um sie gerade bei der Herausgabe brisanter Informationen nicht in Gefahr zu bringen, auch um weiterhin mit ihnen zusammenzuarbeiten. Scans von Dokumenten zu veröffentlichen, könnte im Extremfall tatsächlich Quellen verraten, etwa wenn anhand unbereinigter Metadaten oder anderer Spuren erkennbar ist, auf welchem Rechner der Scan entstanden ist. Allerdings kann man Metadaten auch entfernen oder einfach nur den Text aus einem Dokument veröffentlichen. (…) Die zweite Antwort hängt mit einem Problem im deutschen Journalismus zusammen, das auch bei weniger brisanten Dokumenten auftritt: Die meisten Medien in Deutschland gefallen sich darin, zu schreiben, ihnen liege ein Dokument exklusiv vor – als sei das eine Auszeichnung. Aber Exklusivität suggeriert natürlich Schnelligkeit und einen guten Draht in die Politik oder in Behörden, mit dem sich Medien schmücken können. (…) Einige Medien machen es anders. So zeichnet sich etwa „netzpolitik.org“ dadurch aus, über Dokumente nicht nur zu berichten, sondern sie auch zu veröffentlichen. Auch „Buzzfeed News“ wirbt damit, regelmäßig Originaldokumente zugänglich zu machen, um Leser*innen die Chance zu geben, tiefer in Themen einzusteigen. „So können andere Menschen noch Dinge entdecken, die uns nicht aufgefallen sind“, sagt Chefredakteur Daniel Drepper. „Manchmal entstehen so weitere Recherchen bei uns – oder in anderen Medien.“ (…) Dabei sollten Journalist*innen von ihren Redaktionen ermutigt werden, Primärquellen zu veröffentlichen. Würden sie dazu übergehen, Dokumente standardmäßig ins Internet zu stellen, würde das den Journalismus besser machen. Das bestätigen zumindest exklusive Dokumente, die uns vorliegen. Sind aber leider streng geheim.“ Kommentar von Arne Semsrott vom 6. April 2020 bei Übermedien externer Link
  • Abschied vom Grundgesetz?
    Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung strikte Maßnahmen angeordnet und Bürgerrechte eingeschränkt. Renommierte Verfassungs- und Staatsrechtler schlagen Alarm.“ 3-Sat-Kulturzeit-Sendung vom 06.04.2020 externer Link
  • Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie
    „Wir beklagen zurzeit Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes. Wir müssen aber noch etwas beklagen, nämlich einen ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards. Zwar betonen die Entscheider, die momentan mit Rechtsverordnungen Grundrechte suspendieren, immer wieder, wie schwer ihnen dies falle. Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht. Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Der Eingriff unterliegt einem Rationalitätstest anhand von faktenorientierten Maßstäben und einer Verantwortbarkeitskontrolle orientiert an normativen Maßstäben. Zunächst geht es um Faktenfragen: Es darf vor allem kein milderes Mittel geben. Können die gewählten Mittel das Ziel, dem der Eingriff dient, überhaupt fördern? Sind weniger invasive Mittel denkbar? Um diese Fragen zu beurteilen, muss man wissen, auf welche Bedrohung reagiert wird. Sodann dürfen die für dieses Ziel eingesetzten Mittel andere Rechtsgüter nicht unangemessen verkürzen. Jetzt geht es um eine normative Frage. Das rechtsstaatliche Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen operiert mit einigen Grundkategorien: Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität und Zurechnung. Die mit diesen Kategorien verbundenen Denkvorgänge finden momentan ganz weitgehend nicht statt. Wenn wir momentan einen „Ausnahmezustand“ erleben, dann ist es ein Ausnahmezustand im juristischen Denken. (…) Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt. Die rechtsstaatliche Hygiene muss dringend wieder hergestellt werden, sonst droht hier das größte Infektionsrisiko.“ Beitrag von Oliver Lepsius vom 6. April 2020 beim Verfassungsblog externer Link – Zu diesem „Ausnahmezustand im juristischen Denken“ gibt es ein sehr bezeichnendes und trauriges Beispiel, was leider kaum registriert wird. Wieder einmal ist es die Harbarth-Kammer beim BVerfG, die es ablehnt eine VB dazu überhaupt zur Entscheidung anzunehmen…
  • Dämmen und dämmern
    „… Auch wenn der Ursprung des Corona-Virus nicht vollkommen geklärt ist – die Bedingungen seiner Verbreitung sind bestimmt von globaler Warenzirkulation, seine Auswirkungen vom Grad wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge oder ihrer Unterlassung. Ist also der Kapitalismus schuld? Nicht am Virus. Aber zweifellos verschlimmert die Tatsache, dass das Virus nicht nur auf eine wirtschaftlich globalisierte, sondern auf eine neoliberal heruntergewirtschaftete Gesellschaft trifft, seine Folgen. (…) Die autoritäre Seite des Neoliberalismus tritt in Krisenzeiten besonders stark hervor. Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung war die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die ohne ernstzunehmende Debatte am 25. März vom Bundestag beschlossen wurde. (…) Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie ergriffen werden müssen, ist es erschreckend zu beobachten, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit sich die bundesrepublikanische Gesellschaft fast ohne Gegenwehr dem Staat als übergeordnetem Hüter des Lebens unterwirft. Kommunen verhängen hohe Bußgelder, regelmäßig wird auf die Möglichkeit der Freiheitsstrafe verwiesen; Denunziation hat Konjunktur. Wer sonst seine Freiheit durch „Veggie-Day“ und „Dieselverbot“ bedroht sieht, geifert nun gegen vermeintliche „Corona-Partys“. Der drohende Einsatz der Bundeswehr im Innern – 15.000 Mann stehen bereit, über 6.000 für Sicherungs- und Ordnungsaufgaben, Waffeneinsatz nicht ausgeschlossen – wurde achselzuckend zur Kenntnis genommen. (…) Nach der Krise soll es weitergehen wie zuvor. Dafür sorgen zur Not all die Sicherheitsgesetze, die Bund und Länder in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht haben – bei Bedarf erweitert um Befugnisse, wie sie jetzt beim Shutdown zur Anwendung kommen. Damit die Welt aber nach Corona nicht noch lebensfeindlicher wird, als sie bereits ist, muss die Linke ihre Kritik verstärken. Das verordnete Zuhausebleiben darf nicht zum individuellen Beitrag einer allgemeinen Eindämmerung, zu einem biedermeierlichen Rückzug ins Private werden.“ Artikel von Christian Meyer aus konkret Ausgabe 3/2020 externer Link
  • Wie lange noch?
    „…Vor einem Jahr haben wir gefeiert und die Grundrechte gepriesen. Wir haben uns, zum siebzigsten Jubiläum des Grundgesetzes, an dessen Mütter und Väter erinnert – an wunderbare Demokraten wie Elisabeth Selbert und Carlo Schmid, an Widerstandskämpfer gegen Hitler wie Hermann Lous Brill und Jakob Kaiser. Als sie die Grundrechte formuliert haben, lag Deutschland in Trümmern, in Schutt und Elend. Der Katalog mit den Grundrechten entstand in einer Welt voller Unsicherheit. Hunderttausende „displaced persons“ zogen damals durchs Land, ansteckende Krankheiten grassierten. Die Grundrechte sollten Sicherheit geben in einer Welt der Unsicherheit. 71 Jahre später, in der Corona-Krise, soll nun die Aussetzung dieser Grundrechte Sicherheit geben. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind sie so flächendeckend, so umfassend und so radikal eingeschränkt worden. Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden, wegen Corona, auf vorerst unabsehbare Zeit in bisher unvorstellbarer Weise beschnitten und aufgehoben – ohne großen gesetzgeberischen Aufwand, mit einem Fingerschnippen der Exekutive quasi. Es wurde eine Stimmung geschaffen, in der sich Menschenrechte und Menschenleben gegenüberstehen und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben gilt. (…) Die Grundrechtseingriffe im Corona-Jahr 2020 sind extremer, als man es in den sechziger Jahren befürchtete, als gegen die Notstandsgesetze demonstriert wurde…“ Politische Wochenvorschau von Heribert Prantl vom 5. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link
  •  Documentation: Bagatellen einer Zeitenwende
    „Der neue Verordnungsstaat war gerade im Anrollen und die offiziellen Dementis kündigten die Aktion an. Keine Ausgangsperre, hieß Ausgangsperre morgen oder übermorgen. Wir schließen die Bars nicht, nämlich erst ab Dienstag, hieß dann, wir schließen sie heute, also am Samstag den 14.3.2020. Da das Gerücht schon rumging, ab in die Kneipe. Irgendwann kommt die Ordnungsmacht. Ohne Dekret, nur mit einem völlig unspezifischen Auszug aus dem Seuchengesetz und mit der Anordnung, innerhalb einer Stunde, den Laden zu räumen. So begann hier die sanfte Quarantäne. Die Tage drauf wurde eine umfangreiche Kontaktsperre verhängt, die Gesellschaft in den Gips gelegt, also spricht man einer Freundin gegenüber von Diktatur. Erstauntes Gesicht und ironiefreie Antwort: „Aber wir dürfen doch noch zu zweit spazieren gehen.“ (…) Die Wirkungen des verschärften Hausarrest konnte man jüngst an den Bildern von Julian Assange beobachten, der wie ein Höhlenmensch aus der unfreiwilligen Quarantäne gekrochen kam, als er – Ecuador ist eingeknickt – dann doch den Ungeheuern übergeben wurde. Aber dies Schicksal wird in dieser Härte nur einige treffen. Daher soll man einschränken. Übertreibungen sind heuer nicht gewünscht und selbst Provophilosoph Zizek fordert eine differenzierte Sprache ein: Die meisten werden ihr Leben weiter leben dürfen, wie sie es kennen. Sie haben es in Grundzügen schon vorher so gelebt. Und spazieren dürfen wir ja noch. (…) Wie lange der gegenwärtige Drill der Bevölkerung, Stresstest der Vereinzelten und die große Polizeiübung dauern werden, ist unklar. Die Unklarheit ist Teil der Probe. Indem inzwischen die italienische Gesundheitsbehörde den größten Unfug eingestehen muss und auch die Propaganda der Chinesen zu Wuhan durch differenziertere Untersuchungen relativiert wird und also vieles dafür spricht, dass die Epidemie bald für beendigt erklärt wird, könnte auch diese erste Übung bald enden. Aber nicht zu bald. Und die Spuren werden tief sein. Zumal ein Drill den nächsten will.“ Beitrag von Cli Ché vom 3. April 2020 bei non.copyriot.com externer Link
  • Blankoscheck im Krisenfall? Ein Überblick zum Bevölkerungsschutzgesetz
    „Die uneinheitlichen Herangehensweisen der Bundesländer an die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen haben im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) den Gedanken nach einer zentralen Steuerung künftiger Ansätze zur Abwehr epidemiologischer Gefahrensituationen reifen lassen. Mit dem im Hauruck-Modus vom Regierungskabinett verabschiedeten Bevölkerungsschutzgesetz werden dem BMG politische Vollmachten in beispiellosen Umfang eingeräumt. (…) Angesichts des Umfangs und der Regelungstiefe dieses Gesetzes und der sich aus ihm ergebenden Kompetenzen zum Erlass von notfallbedingten Verordnungen wird die Zeit, in der die epidemische Notfalllage nationaler Tragweite in Deutschland gilt, in jeder Hinsicht neue Erfahrungen bringen: sowohl, was die Effektivität und Koordinationsfähigkeit der Bundesmaßnahmen zur Bekämpfung einer nie dagewesenen gesundheitsbezogenen Gefahrenlage angeht, als auch, was das zu erhoffende Augenmaß und den notwendigen umsichtigen Umgang seitens des BMG mit einer derartigen Kompetenzfülle betrifft.“ DGB-Bewertung vom 30. März 2020 externer Link
  • Nachruf auf das Grundgesetz
    Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, mit Fassungslosigkeit und Trauer müssen wir Ihnen leider mitteilen, daß das Grundgesetz gestern Nacht im Zusammenhang mit der Corona-Krise von uns gegangen ist. Wie Sie alle wissen, gehörte das Grundgesetz in seinem Alter von 71 Jahren zur Hauptrisikogruppe und hatte bestimmte Vorerkrankungen durch operative Eingrif-fe, die an ihm jahrzehntelang immer wieder vorgenommen wurden. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß ein großes, dem Grundgesetz würdiges Staatsbegräbnis leider wegen der Infektionsgefahr nicht möglich ist. Beim nichtöf-fentlichen Staatsakt werden die letzten verbliebenen Grundrechte, die der gegen-wärtigen Krisensituation bereits angepaßt wurden, verlesen. Dabei handelt es sich um Folgende:
    Art.1: Die Würde des Menschen ist auf unbestimmte Zeit antastbar.
    Art.2 Markus Söder hat unbegrenzt das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per-sönlichkeit.
    Art.3 Abs. 1: Alle Menschen sind in Zeiten des Corona-Virus dem Grundgesetz gleich. Abs.3 Abs.2: Jeder darf wegen seiner Armut und seiner Rasse durch die Folgen des Corona-Virus so benachteiligt werden, daß er verhungert oder erfriert.
    Art.4: Die Freiheit des Glaubens an die deutsche Wirtschaft bleibt unverletzlich.
    Art. 5: Jeder Unternehmer hat das Recht, seine Meinung über die völlig unzu-reichende finanzielle Unterstützung durch den Staat täglich mehrfach zu äußern in Wort, Schrift und in der Bild.
    Art. 12: Alle Deutschen haben schon vor der Ansteckung mit dem Corona-Virus das Recht, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, ehe Ihre jetzige Firma in Konkurs geht.
    Art. 13: Eine Wohnung ist nicht unverletzlich, wenn der Vermieter nach der An-steckung durch den Spekulationsvirus sein Mietshaus leermachen will.“ Aus: Deutscher Einheit(z)-Textdienst 4/20
  • [Leak] Corona-Strategie des Innenministeriums: Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen
    Seit einer Woche berichten deutsche Medien über ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das den Umgang der Bundesregierung mit der Corona-Pandemie vorzeichnen soll. Bisher hat das Ministerium das Dokument nicht herausgegeben. Wir dokumentieren es hier…“ Strategiepapier bei FragDenStaat am 1. April 2020 externer Link
  • Die Regierung ermächtigt sich in der Corona-Krise selbst – zulässig ist das nicht
    Wir müssen die Verfassung schützen. Auch in diesen Zeiten. Es geht um die schwersten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Ermächtigung der Regierung zum Erlass von Rechtsverordnungen ist ein Problem, ein ernsthaftes. Denn auch in diesen Zeiten müssen wir die Verfassung schützen. Wo sind eigentlich die Abgeordneten? Wer hält die Flagge des Rechtsstaats hoch? Wer kämpft für die Einhaltung der Grundrechte? Wo ist eigentlich die Justizministerin? Nach den schlimmen Erfahrungen mit diesem Rechtsinstitut der Verordnungen in der Weimarer Republik dürfen sie nur nach Maßgabe des Artikel 80 im Grundgesetz erlassen werden. Danach müssen „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Das ist nicht hinreichend der Fall...“ Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff vom 1.4.2020 beim Tagesspiegel online externer Link
  • Ausnahmezustand: Operation gelungen, Patient unfrei
    „Im Kampf gegen das Virus werden Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt – für die Sicherheit. Es gilt zu hinterfragen: Sicherheit – für wen? Und wie lange? (…) Bedarf es tatsächlich der Verordnung eines disziplinierenden Notstandes bis hin zur lückenlosen Überwachung von Personen über ihre Smartphones? Oder braucht es nicht eher eine Aufklärungsoffensive, die partizipatives Handeln fördert und den solidarischen Beistand für alle organisiert, die von der Krise betroffen sind? Für die Erkrankten ebenso wie für die Millionen von Menschen, die nun in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind? Autoritäre Reaktionen wie Grenzschließungen, die sich auf eine öffentlichkeitswirksame Zurschaustellung von staatlicher Macht stützen, können in Krisenzeiten höchst attraktiv erscheinen. Doch in aller Regel ist es das – viel weniger auffällige – soziale Engagement von Sozialverbänden, Wohlfahrtsorganisationen und spontan entstehenden Initiativen, das für die Senkung von Infektionsraten sorgt. Das gilt auch in Zeiten von Social Distancing. Viele, die in den zurückliegenden Jahren den zu uns Geflohenen Beistand geleistet haben, tun es heute für ältere Menschen, die nicht mehr das Haus verlassen sollen. Die Einschränkung persönlicher Freiheiten, die in Krisenzeiten mitunter unausweichlich erscheint, darf niemals das solidarische Handeln beschränken. Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustandes ergeben will, muss für die Idee einer offenen Gemeinschaft freier Menschen streiten. Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen Verständnisses von Recht und Sicherheit. Gerade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnöten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter. (…) Das, was als Bedrohung empfunden wird, ist immer subjektiv gefärbt, emotional hoch aufgeladen und vage. Eben diese Unbestimmtheit macht Krisensituationen anfällig für Instrumentalisierungen und Verschwörungsphantasien. (…) Wenn sich Solidarität auf den Appell an eine vermeintliche Volksgemeinschaft reduziert, die nun geschlossen den einen Gegner zu bekämpfen habe, können gesellschaftliche Widersprüche nicht mehr demokratisch verhandelt werden und wird schließlich auch die Rechtsstaatlichkeit Zug um Zug ausgehöhlt. Wo die Sicherheit bedroht sei, müssten die Rechte der Menschen zurückstehen, verlangen es die Regierenden mitunter. Rechte sind aber nicht etwas, das man nach Belieben aus- und anschalten kann. Die Gefahr temporär außer Kraft gesetzter Rechte ist, dass sie dauerhaft verloren gehen. Gerade deshalb muss in Zeiten, die nach Sicherheit rufen, das Recht verteidigt werden. Allein das Beharren auf das Recht kann schließlich verhindern, dass der Ausnahmezustand zur Normalität wird.“ Kommentar von Thomas Gebauer vom 26. März 2020 beim medico-Blog externer Link (Beitrag erschien auch am 26.März bei ‚der Freitag‘)
  • COVID-19: Eine günstige Gelegenheit für autoritäre Staaten
    COVID-19 – eine Krise, die die ganze Welt in Atem hält. Gerade in diesen Zeiten ist eine transparente Berichterstattung über Ausbreitung und Verlauf des Virus sowie genaue Opferzahlen wichtiger denn je, nicht unerwartet bedienen sich allerdings einige autoritäre Staaten lieber der Unterdrückung und Zensur. (…) Fakt ist, die Zensur hat System. Um das wahre Ausmaß der Pandemie und die damit einhergehende eigene Überforderung und Hilflosigkeit nicht zugeben zu müssen, werden in verschiedenen autoritären Staaten Vorwürfe erfunden und damit dann rigoros gegen Journalist*innen und Whistleblower vorgegangen. Oder, um eine Person des iranischen Geheimdienstes zu zitieren: „Das Land ist im Krieg und diese Informationen zu veröffentlichen kommt Kollaboration mit dem Feind gleich.“ Doch das ist ein Problem für die effektive Eindämmung der Pandemie. Journalist*innen und Whistleblower wie Dr. Li Wenliang müssen gehört werden. Die Universität Southampton, hat in Analysen festgestellte, dass die Zahl der Infizierten in China bei einer deutlich früheren Berichterstattung um 86 Prozent hätte gesenkt werden können. Die Berichterstattung darf nicht an Staatsgrenzen zum Stillstand kommen! Krisenbewältigung darf – nirgendwo auf der Welt – zur Beschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit genutzt werden…“ Artikel von Rieke Scholle vom 31. März 2020 im Whistleblower-Netzwerk externer Link
  • Der Rechtsstaat leidet unter Corona: Mit Ausgangssperren, Verweilverboten und Handydatensammlungen soll Covid-19 bekämpft werden. Doch manche Pläne führen zu gefährlicher staatlicher Willkür und Überwachung
    „Bis vor wenigen Wochen konnten sich wohl die wenigsten vorstellen, dass in Deutschland schon bald Lautsprecherwagen durch die Straßen fahren und die Menschen dazu auffordern würden, das Haus nicht zu verlassen. Oder dass Straßensperren errichtet würden, um Autofahrer anzuhalten, deren Pkw das „falsche“ Kennzeichen haben. Solche Bilder kannte man aus Staaten, die einen Putsch erleben, oder aus dystopischen Filmen. Seit das Coronavirus in Deutschland grassiert, sind sie jedoch auch hierzulande zu sehen – im Englischen Garten in München genauso wie an der Bundesstraße 109 zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Es soll nicht darum gehen, Ausgangssperren grundsätzlich abzulehnen oder zum Widerstand gegen Maßnahmen aufzurufen, die gegen eine Pandemie nutzen können. Körperliche Distanz hilft, das Verbreiten solcher Viren wie Corona einzudämmen. Doch bei allem Respekt vor der schwierigen Aufgabe, die Corona-Krise politisch zu meistern, ist längst eine Debatte über einige dieser Erlasse und Verordnungen angebracht. Denn ein Teil der Maßnahmen, die in jüngster Zeit im Kampf gegen das Coronavirus erlassen wurden, geht viel zu weit, ist rechtlich unscharf und teilweise vermutlich sogar illegal. (…) In der derzeit schwierigen Lage erhalte die Polizei neue Befugnisse, die jetzt nicht ordentlich geprüft und später nie evaluiert würden. Seien sie aber einmal installiert, würden sie künftig auch auf andere Situationen und Tatbestände ausgeweitet. (…) Eine Gesellschaft brauche feste rechtliche Gerüste, sagt Staatsrechtler Arzt. Man dürfe nicht einfach per Verordnung Grundrechte aushebeln. Genau das aber geschehe beispielsweise mit dem gerade schnell durch den Bundestag gewunkenen Infektionsschutzgesetz, sagt Arzt: Teile davon „stinken rechtlich zum Himmel“. Artikel von Kai Biermann vom 30. März 2020 in der Zeit online externer Link
  • Bürgerrechte in der Krisenzeit: Viele Stimmen müssen einbezogen werden
    Britta Rabe und Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee sehen im Gespräch mit Sebastian Bähr vom 29.März 2020 in neues Deutschland online externer Link staatliche Maßnahmen gegen Coronakrise u.a. aus folgenden Gründen kritisch: „… Die Ausgangsbedingungen, auf deren Grundlage jetzt agiert wird, sollten nicht in Vergessenheit geraten. Das neoliberal kaputt gesparte Gesundheits- und Pflegewesen, der riesige Sektor prekär Beschäftigter, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums – das alles basiert auf Regierungsentscheidungen derjenigen, die jetzt handeln müssen. (…) Menschen in prekären Lebensverhältnissen sind in jeder Hinsicht ungleich mehr betroffen, denn Gesundheit und Armut sind engstens miteinander verknüpft. (…) Da es kaum Möglichkeiten gibt, sich in Gefängnissen und geschlossenen Lagern physisch voneinander zu distanzieren, werden diese als Quarantäneeinheiten verstanden und komplett abgeriegelt. (…) Würden all diese Menschen dort ebenso als schutzwürdig verstanden, wäre die logische Konsequenz die Auflösung dieser Einrichtungen. (…) Solche Maßnahmen haben nichts mehr mit einem demokratischen Gemeinwesen zu tun, sondern sind Zeichen diktatorischer Überwachungs- und Polizeistaaten. (…) Die Bundeswehr fungiert derzeit nicht nur als Ersatz für eine eingesparte soziale Infrastruktur und stellt die Armee damit als unentbehrlich für die Zukunft dar. Es droht eine beispiellose Mobilmachung ganz neuer Qualität (…) Es ist ziemlich sicher, dass einige Gesetzesänderungen auch nach der Corona-Krise bestehen bleiben, um sie bei einer nächsten »Krise« anwenden zu können. Die Definition einer solchen soll nach derzeitigem Stand der Bundestag in einfacher Mehrheit bestimmen – eine vollkommen undemokratische Entscheidungsweise. (…) Existentielle Angst und Unsicherheit fördern Egoismus und den Wunsch nach hartem Durchgreifen. Die derzeitige Bedrohung angesichts begrenzter medizinischer Kapazitäten fördert Rassismus, Nationalismus und autoritäre Antworten. Ein gut ausgebautes öffentliches Gesundheitssystem wäre dabei demokratischer als die Reglementierung individuellen Handelns zur Risikominimierung. (…) Weltweit antworten Staaten auf die Pandemie mit nationalistischen Lösungen, darunter Einreiseverboten und Ausfuhrverboten für Medikamente und Schutzausrüstung. Diesen scheinbaren Automatismus gilt es zu kritisieren und zu durchbrechen. Es ist immens wichtig, den solidarischen Umgang miteinander in den Vordergrund zu stellen und nicht das Misstrauen die Oberhand gewinnen zu lassen.“
  • Der aufkommende Pandemie Faschismus. Splitter der Dissonanz
    „In jedem Berliner Park eine Wanne. Die Besatzungen beäugen misstraulisch jede Aktivität Derjenigen, die sich in die Frühlingssonne gewagt haben. Drei Fußball spielende Kinder sind ein Grund einzuschreiten. Wir haben schon vor Jahren gelernt, ab Drei ist man eine terroristische Vereinigung. Nun also auch die Kinder. (…) Tagtäglich werden neue, gestern noch undenkbare Maßnahmen erwogen, in den Ring geworfen und dann nach Gusto verkündet. (…)Während allerorts die Angst grassiert sich anzustecken, die Panik, gut geschürt und gefüttert, das Denken und Abwägen in Nebel hüllt, sich viele in freiwillige Isolierung begeben und in völliger Unterwerfung nach noch mehr Staat, Repression und Kontrolle rufen, gibt es auch eine Gegenbewegung, die sich langsam zu formieren beginnt. Die erste Welle dieser Gegenbewegung sind die weltweiten Knastrevolten, die sich mittlerweile über fast alle Kontinente erstrecken. Gleichzeitige Revolten in zwei Dutzend italienischen Knästen (mit über 20 toten Gefangenen), eine Welle der Rebellion auch in den Knästen und Internierungslager für Flüchtlinge in Frankreich, in Kolumbien brennen die Trakte, allein in Bogota sterben dabei über 20 Gefangene. Aufstände auch in Argentinien, auf dem afrikanischen Kontinent,…. In Frankreich, in dem noch wesentlich strengere Ausgangssperren als hier herrschen, kommt es von Anbeginn an zu einer Gegenbewegung in den ärmeren Vierteln, den Vororten. (…) Nachdem große Teile der weltweiten Linken in den ersten Tagen der sich weltweit ausbreitenden Pandemie sich im Nachbeten der staatlichen Verhaltensregeln übte, #stayhome, tauchen immer mehr Texte auf, die eine dissidente Position beziehen, bezeichnenderweise aus Regionen, die weitaus mehr als die BRD von der Pandemie betroffen sind, wie Frankreich, oder Italien. Aufgabe jetzt wird es sein, Überlegungen zu entwickeln, wie es unter den Bedingungen des entstehenden Pandemie Faschismus möglich ist, die soziale Konfliktualität, die sich mit den Gilets Jaunes und dem Herbst der Aufstände von Beirut über Bagdad bis nach Chile erstreckte, weiter zu schüren. Dies wird nur in Abgrenzung zu jenen Linken möglich sein, die sich derzeit der Krisenlogik des Empires unterordnen, also im Kern systemrelevant sind…“ Beitrag von Sebastian Lotzer vom 28. März 2020 bei Necropolitics externer Link in Deutsch und Englisch
  • Im Blick: Grundrechte und Corona-Maßnahmen
    Dossier von Digitalcourage externer Link
  • Eine beunruhigende Perspektive: Im Zuge der Coronaviruspandemie droht die Etablierung eines Notstandsregimes
    „Wir leben im Ausnahmezustand – so unangenehm es auch ist, sich das einzugestehen. Nach den neuesten Meldungen sind damit über 90 Prozent der Bevölkerung einverstanden. Angst ist die Grundlage dieses Einverständnisses, und Angst lässt sich leicht erzeugen. Die Angst vor dem Terror ist noch nicht einmal überwunden. Unser Grundgesetz kennt keinen Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem Reichspräsidenten die Möglichkeit gab, die parlamentarische Kontrolle zu umgehen und mit Notverordnungen zu regieren. Der Parlamentarische Rat wollte bei der Beratung des Grundgesetzes gerade diesen Artikel nicht in die neue Verfassung übernehmen, da er in ihm einen der Sargnägel der Weimarer Republik sah. Zu Recht, denn die Notverordnungen der anschließenden Präsidialkabinette untergruben die demokratische Substanz der Republik so weit, dass sich schließlich der Reichstag mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« selbst entmachtete. Ist es mit dem Bild unserer Verfassung zu vereinbaren, dass wir nun weitgehend auf unsere sozialen Beziehungen verzichten, unseren kulturellen Austausch auf Smartphone und TV reduzieren, die Arbeit verlieren und in existentielle Not stürzen? Maßnahmen des Notstands auf Taubenfüßen. Erinnern wir uns. Der Kampf um die »Notstandsgesetze« dauerte seinerzeit Jahre, bis der Bundestag schließlich gegen großen Druck der Studierenden und Gewerkschaften im Mai 1968 dieses Paket einschneidender Maßnahmen für Krisenzeiten verabschiedete. Bei einem inneren Notstand, ob Spannungs-, Verteidigungs- oder Katastrophenfall, können u. a. das Recht auf Freizügigkeit und das Briefgeheimnis eingeschränkt werden. Sogar der Einsatz der Streitkräfte ist möglich. Derzeit werden bereits der Zugriff aufs Handy als Trackinginstrument und der Rückgriff auf die Bundeswehr diskutiert. Es stellt sich die Frage, ob wir bereits in diesem Notstand leben, ohne dass er schon als solcher offiziell ausgerufen ist. Wie lange hält die Gewaltenteilung, wenn jetzt schon mit einem reduzierten Parlament der sonst oft langwierige Gesetzgebungsprozess mit drei Lesungen an einem Tag durchgezogen wird?. (…) Besorgniserregend in höchstem Maße, dass die Bevölkerung in diesem ständigen Reiz- und Ausnahmezustand reif gemacht wird, auch harte und tiefe Eingriffe in ihre Grundrechte zu akzeptieren. Sie schätzt ihre Sicherheit, die Befreiung von der Angst dann höher ein als ihre Freiheits- und Grundrechte und erkennt nicht mehr, wie weit dieser Ausnahmezustand sich schon in ihren Normalzustand geschoben hat – eine beunruhigende Perspektive für die Zukunft.“ Beitrag von Norman Paech bei der jungen Welt vom 28. März 2020 externer Link (Norman Paech ist emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht)
  • Coronavirus: Die Krise als Hebel für Überwachung und Kontrolle
    „Weltweit bauen demokratische Staaten Grundrechte ab, um gegen das Coronavirus vorzugehen. Manchen Regierungen scheint das aber nur ein vordergründiges Anliegen zu sein. Leichtfertig abgesegnet könnten temporäre Maßnahmen zur Dauereinrichtung werden – und zum Schuss ins eigene Knie. Ein ausgeschaltetes Parlament, langjährige Haftstrafen für das Verbreiten von „Falschnachrichten“ oder für Verstöße gegen das Ausgehverbot: So weit wie das von Viktor Orbán regierte Ungarn ist bislang noch kein EU-Land gegangen, um die Coronakrise einzudämmen. Sollte das Parlament dem Gesetzentwurf nächste Woche mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zustimmen – wovon Beobachter des Landes ausgehen –, dann hätte Ungarn bis auf Weiteres sein demokratisches und schon länger humpelndes Experiment beendet. In aller Welt versuchen derzeit die Regierungen, schnell die richtige Antwort auf die Pandemie zu finden. Manche, darunter Orbáns rechte Fidesz-Partei, scheinen eher die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre Macht abzusichern und ihre Kritiker zum Verstummen zu bringen, als mit demokratischen Mitteln die aktuelle Gesundheitskrise in den Griff zu bekommen. Nicht unähnlich die Situation in Israel: Dort setzt die Regierung des Premiers Benjamin Netanyahu höchst invasive Techniken ein, die das Land sonst im Anti-Terror-Kampf nutzt. Dem Inlandsgeheimdienst ist nun unter anderem erlaubt, sämtliche Handys des Landes zu tracken, ohne die Daten zuvor zu anonymisieren. Das soll dazu dienen, die Einhaltung der Quarantäne zu überprüfen und gegebenenfalls Infektionsketten nachzuverfolgen. (…)olche Meldungen lassen vielerorts die Alarmglocken schrillen. „Ich befürchte, in den nächsten Wochen und Monaten wird ungefähr jede vorstellbare digitale Überwachungsmaßnahme ins Spiel gebracht werden“, sagt der Überwachungsexperte Wolfie Christl. „Es besteht die Gefahr, dass Firmen und Staaten dabei bleibende Fakten schaffen. Viel mehr noch als nach 9/11.“ (…) „Wir müssen wachsam sein“, sagte der Soziologe Richard Sennett dem Tagesspiegel. Der Brite macht sich Sorgen darum, dass die Notfallmaßnahmen, wie sie nun überall ergriffen werden, dauerhaft installiert bleiben. „Mehr Überwachung, mehr Kontrolle könnte die bisherigen Regelungen ersetzen, legitimiert durch die Krise, aber über ihre zeitlichen Grenzen hinaus“, warnt Sennett…“ Beitrag von Tomas Rudl vom 26. März 2020 bei Netzpolitik externer Link
  • Kontaktbeschränkung im Alltag: In Bewegung bleiben. Wegen Corona darf sich keiner mehr frei bewegen. Aber was darf wer wo und mit wem?
    „… Seit dieser Woche gelten in Deutschland Regeln, die sich noch vor einem Monat kaum jemand hätte vorstellen können. Der Staat hat die Freiheit der Bevölkerung so umfassend eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieser Einschnitt ist grundsätzlich gut begründet – es geht schließlich darum, die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Ob die konkreten Maßnahmen verhältnismäßig sind, lässt sich aber pauschal schwer beantworten – je nach Bundesland fallen die Verbote nämlich unterschiedlich hart aus. (…) Ob Ausnahmen gelten, die nicht auf den Beispiellisten stehen, ist Auslegungssache. In der Praxis führt das oft zu Verwirrung – sogar bei denen, die die Regeln umsetzen müssen (…)  Rechtlich stützen die Bundesländer ihre Verordnungen auf das Infektionsschutzgesetz, das weitreichende Grundrechtseinschränkungen erlaubt. Am Mittwoch hat der Bundestag extra eine Novelle durchgepeitscht, damit dort auch die Einschränkung der Freizügigkeit erwähnt wird. Lea Beckmann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte hält es aber weiter für fraglich, ob durch dieses Gesetz auch weitgehende Ausgangsbeschränkungen gedeckt sind. Unabhängig davon müsse in jedem Einzelfall geklärt werden, ob die Grundrechtseinschränkung verhältnismäßig sei. „Allein auf der Parkbank sitzen muss erlaubt sein“, sagt die Juristin. (…) Bund und Länder haben sich darauf geeinigt, die aktuellen Beschränkungen mindestens zwei Wochen in Kraft zu lassen. In einigen Ländern gelten sie wie in Berlin zunächst bis Anfang April, in manchen wie Bremen und NRW bis nach den Osterferien. Wo besonders strenge Regeln gelten, müssen sich die Menschen also weiterhin vor der Polizei in Acht nehmen. Und manchmal auch vor eifrigen Mitbürgern…“ Artikel von Sebastian Erb, Sarah Ulrich, Bert Schulz, Tobias Schulze und Doris Akrap vom 27.3.2020 in der taz online externer Link, siehe dazu auch die Übersichtss-Grafik nach Bundesländern externer Link
  • Corona: Gesundheitsschutz – Grundrechte und Demokratie – Es ist höchste Zeit für einen Aufschrei!!!
    „… die Welt wie wir sie noch vor Wochen und Tagen gekannt haben ist bereits und gerät mehr und mehr aus dem Ruder. Das ist wohl so. Und es ist sicherlich auch richtig, dass wir AllE uns Gedanken darüber machen, wie wir unsere persönliche physische und psychische Gesundheit, die unserEr LiebEn und auch die unserer Mitmenschen so gut es nur geht schützen. Und richtig ist sicherlich auch, dass diejnigEn, die in politischer Verantwortung stehen, sich Gedanken darüber machen, wie dafür die richtigen und v.a. auch erforderlichen Maßnahmen aussehen müssen, die gleichzeitig auch möglichst sicherstellen, dass das wirtschaftliche und soziale Überleben unserer Gesellschaft sichern. Dass dabei aber quasi im Handstreich und eher nonchalant Grundrechte nicht mehr nur in Frage gestellt werden, sondern faktisch rasiert, dass muss uns meines Erachtens DRINGEND allen zu denken geben…“ Artikel von Andreas Buderus vom 26.3.2020 – wir danken!
  • Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus
    „… Der Notfall, den es zu bekämpfen gilt, bedarf der Überprüfung; die Maßnahmen, die er rechtfertigen soll, umso mehr. Vor allem besteht im Gegenzug auch eine Schuld des politischen Prozesses gegenüber den Bürgern. Wenn der Staat seine institutionelle Macht voll ausschöpfen kann und muss, ist von ihm zu erwarten, dass er das in ihn investierte Vertrauen so weit wie möglich im Rahmen der vorhandenen Formen nutzt und diese nur im äußersten Notfall in Frage stellt. (…) Bevor ich an zwei Punkten die Probleme der gestern beschlossenen Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (ISG) aufzeige, eine Bemerkung zu dem, was in der Novelle nicht geregelt wurde. Seit dem Wochenende herrschen in allen Ländern Ausgangssperren und Kontaktverbote, als deren Grundlage die Ermächtigung in § 32 iVm § 28 ISG dient. Wie in mehreren Beiträgen auch im Verfassungsblog dargelegt wurde, spricht wenig dafür, dass eine Stilllegung des gesamten öffentlichen Lebens, also ein Ende für politische Demonstrationen, Konzerte und Gottesdienste durch das ISG ermöglicht werden sollte. Die dagegen vertretene Ansicht, das Land ließe sich mit Hilfe einer Generalklausel dicht machen, erscheint einigermaßen kurios. Sie macht aus einem besonderen Polizeirecht ein allgemeines Notstandsrecht. Das Gesetz gibt diese Maßnahmen schlicht nicht her, sonst hätte es das Verhältnis von Standardmaßnahmen zur Generalklausel anders ausgestaltet. (…)Irritierend ist schließlich der Verzicht auf eine letzte demokratische Koordinationsstelle, auf das Bundeskabinett. Dass all diese Kompetenzen, die im Notfall wie jetzt im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen, von einem einzelnen Ministerium ausgeführt werden können, das sich nur noch mit der eigenen Hierarchie und punktuell mit dem ins Einvernehmen zu setzenden anderen Ministerien auseinanderzusetzen hat, führt die Depolitisierung weitreichender Entscheidungen auf die Spitze. Diese Überlegungen zur demokratischen Legitimation ändern nichts daran, dass es hier zunächst um Fragen harter Legalität geht. Sollten wir aus der Krise mit der Einsicht herausgehen, dass fundamentale Normen der Arbeitsteilung zwischen Parlament und Regierung wie zwischen Bund und Ländern befristet unter einem ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt stehen, wäre das fatal…“ Kommentar von Christoph Möllers vom 26.3.2020 im Verfassungsblog externer Link
  • Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes: Vollmacht für den starken Mann
    „… In diesen Zeiten, in denen die Not zum Handeln drängt, gilt vielfach der Satz: Nehmt es bloß nicht so genau mit den Buchstaben des Gesetzes. Starke Männer sind gefragt, die nicht lange fragen, sondern handeln. Und manchmal ist das vielleicht gar nicht so schlecht. Genau besehen, ist die Rechtsgrundlage im Infektionsschutzgesetz wackelig, mit der gerade die Bevölkerung ins heimische Wohnzimmer verbannt wurde. Aber mit einem zugedrückten Auge ließen sich die Ausgangsbeschränkungen auch juristisch vertreten – und bitter nötig sind sie ohne Frage. (…) Dem Entwurf zufolge soll die Bundesregierung eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ausrufen können, wenn sie eine „ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat“. Also genau jetzt zum Beispiel. Die Opposition freilich möchte erreichen, dass allein der Bundestag eine solche Lage feststellen dürfte. Aber wer auch immer in wahrscheinlich naher Zukunft diese „epidemische Lage“ ausriefe, der läutete damit die Stunde des starken Mannes ein. (…) Sein Name wäre Jens Spahn. (…) Schaut man nun in Spahns Gesetzentwurf, dann staunt man, welch gewaltiger Spielraum dem Ministerium in einer epidemischen Lage zustehen soll…“ Kommentar von Wolfgang Janisch vom 25. März 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link

    • Zu den Details des nun vom Bundestag im Eiltempo verabschiedeten Gesetzespaket siehe „Das steht im Corona-Maßnahmenpaket“. Ausführliche Darstellung von Annelie Kaufmann und Tanja Podolski vom 25. März 2020 bei Legal Tribune Online externer Link
    • Allerdings geht Bayern (mal wieder) einen eigenen, bezüglich Grundrechtseinschränkung härteren Sonderweg: [BayIfSG] 112-Newsletter des Bayerischen Innenministeriums
      „Unter dem Eindruck dieser pandemischen Krise hat der Bayerische Landtag heute das Bayerische Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) beschlossen. Dieses gibt der Staatsregierung als Kollegialorgan die Möglichkeit, den Gesundheitsnotstand auszurufen, wenn eine übertragbare Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes in der bayerischen Bevölkerung so zahlreich oder in so schwerer Ausprägung auftritt oder aufzutreten droht, dass die Versorgungssicherheit durch das öffentliche Gesundheitswesen ernsthaft gefährdet erscheint. Im Sinne einer effektiven parlamentarischen Kontrolle erhält der Landtag ausdrücklich die Befugnis, jederzeit das Vorliegen eines Gesundheitsnotstandes zu prüfen und dessen Aufhebung zu erklären. Das BayIfSG steht systematisch selbständig neben dem Katastrophenschutzgesetz, insbesondere bleibt hiervon die Ausrufung des Katastrophenfalles unberührt. Die Befugnisse dieses Gesetzes sind anwendbar, sobald der Gesundheitsnotstand ausgerufen wurde. (…) Staatsregierung und Gesetzgeber sind sich bewusst, dass mit diesen Befugnissen tief in von Verfassungs wegen verbürgte Grundrechte wie Eigentum, allgemeine Handlungsfreiheit oder körperliche Unversehrtheit eingegriffen werden kann. Deshalb haben diese Maßnahmen absoluten Ausnahmecharakter und werden nur dann zur Anwendung kommen, wenn etwa notwendige Maßnahmen einvernehmlich nicht zu erzielen sind oder sprichwörtlich absolute „Not am Mann“ ist. Ausdrücklich unberührt bleibt die besondere Stellung der Angehörigen des Bayerischen Roten Kreuzes und der anderen freiwilligen Hilfsgesellschaften im Sinne des I. Genfer Abkommens. Mit dem Verweis auf dieses Kernstück des humanitären Völkerrechts stellt der bayerische Gesetzgeber klar, dass er auch unter den spezifischen Umständen einer Pandemie die besondere rechtliche Stellung derer wahrt, die den Kranken und Hilflosen zu Hilfe kommen. Das Gesetz gilt vorerst befristet bis zum 31. Dezember 2020. Vor einer ggf. anzudenkenden Verlängerung wird der Nutzen des heute erlassenen Gesetzes in geeigneter Weise zu evaluieren sein…“ Newsletter des Bayerischen Innenministeriums vom 25. März 2020 externer Link, zu Details des BayIfSG siehe Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 7/2020, S.174 vom 25. März 2020 externer Link
  • [Gesellschaft für Freiheitsrechte] Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten
    Viele Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränken Grundrechte ein. Hier beobachten wir die Entwicklungen, beantworten häufige Fragen und bieten rechtliche Einschätzungen. Unser FAQ wird regelmäßig erweitert und aktualisiert. Auch in der aktuellen, von Unsicherheiten geprägten Situation gilt für uns: Wir werden sorgfältig prüfen, ob staatliche Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sollte es zu verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen kommen, werden wir geeignete rechtliche Schritte ergreifen…“ FAQ von und bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte externer Link

    • Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten
      „Viele Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränken Grundrechte ein. Hier beobachten wir die Entwicklungen, beantworten häufige Fragen und bieten rechtliche Einschätzungen. Unser FAQ wird regelmäßig erweitert und aktualisiert. Auch in der aktuellen, von Unsicherheiten geprägten Situation gilt für uns: Wir werden sorgfältig prüfen, ob staatliche Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sollte es zu verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen kommen, werden wir geeignete rechtliche Schritte ergreifen…“ Ausführliche rechtliche Wertung von Daniela Turß von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, Stand 24. März 2020 externer Link, mit permanenter Aktualisierung (deshalb als Informationsquelle besonders empfehlenswert)
  • Freiheit auf Bewährung? Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip in der Pandemie
    „„Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen. Der Samstag ist ein entscheidender Tag, den haben wir besonders im Blick. Am Samstag verabreden sich die Menschen ja traditionell miteinander, weil sie frei haben. Aber das […] muss jetzt eingestellt werden.“ (…) Die Worte, von denen man wohl annehmen muss, dass sie sorgfältig und in Absprache mit der Bundeskanzlerin gewählt worden waren, machen deshalb so stutzig, weil die Annahme, man könne grundrechtliche Betätigung gleichsam „unter Bewährung“ stellen, auf einem ganz grundlegenden Fehlverständnis der Funktionsprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates beruht. Ihr liegt das bizarre Bild eines Staates zugrunde, der seinen Bürgern Freiheit nur solange gewährt, wie diese davon nach seinen Vorstellungen und gerade nicht nach ihrem Belieben Gebrauch machen. Wo immer der Einzelne – womöglich gar digital überwacht – diesen Vorgaben nicht gerecht wird, hebt der Staat zunächst den Finger zur Mahnung und anschließend die Freiheit wieder auf. Frei nach dem Motto: „Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Grundrechtliche Freiheit wird dem Einzelnen nicht derart gönnerhaft vom Staat gewährt, sondern durch den Staat gewährleistet. Das ist weniger terminologische Petitesse als vielmehr sprachlicher Ausdruck einer historischen Errungenschaft, derer sich die Rechtsordnung nicht einmal im größten Notstand begeben kann, ohne sich selbst aufzugeben: Nicht der Bürger ist um des Staates willen da, sondern der Staat für den Bürger. Dieser entscheidet selbst, ob, wann und wie er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Einem allgemeinen Ordnungsvorbehalt ist er dabei ausdrücklich nicht unterworfen. (…) Noch eine Bemerkung sei in diesem Zusammenhang erlaubt. Vielfach war zuletzt zu lesen, die Krise sei die Stunde der Exekutive. Auch das ist ein Irrtum, der schon in der europäischen Staatsschulden- und in der Flüchtlingskrise begegnet ist: Das Herz der repräsentativen Demokratie schlägt selbst im Ausnahmezustand nicht in der Exekutive, sondern im Parlament. Die notwendige Diskussion hat ihren Ort weder im Bundeskanzleramt noch in der Bayerischen Staatskanzlei. Es sind die unmittelbar legitimierten gesetzgebenden Körperschaften, die unter den Augen der Öffentlichkeit die für die Grundrechtsentfaltung und -verwirklichung wesentlichen Regelungen treffen und einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen ausloten müssen. An diesem Verantwortungsarrangement darf nicht einmal der schnelle Takt, den das Virus vorgibt, etwas ändern.“ Beitrag von Lutz Friedrich vom 23. März 2020 beim Verfassungsblog externer Link
  • Standortdaten gegen Corona: Jens Spahn lässt Testballon steigen
    „Am Wochenende sickerte ein Gesetzentwurf aus dem Gesundheitsministerium durch. Demnach hätten Handy-Standortdaten im Kampf gegen Corona eingesetzt werden sollen. Obwohl der Vorschlag umgehend zurückgezogen wurde, will Gesundheitsminister Jens Spahn nicht lockerlassen. (…) Zum anderen wiesen Datenschützer und Bürgerrechtler energisch darauf hin, wie gefährlich und grundrechtsfeindlich eine Umsetzung wäre. „Alle Maßnahmen der Datenverarbeitung müssen erforderlich, geeignet und verhältnismäßig seien“, mahnte gestern – zum wiederholten Male – der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Ulrich Kelber. „Bisher fehlt jeder Nachweis, dass die individuellen Standortdaten der Mobilfunkanbieter einen Beitrag leisten könnten, Kontaktpersonen zu ermitteln, dafür sind diese viel zu ungenau“. Die Weitergabe und Auswertung anonymisierter Daten zur Analyse von Bewegungsströmen, mit der etwa die Telekom Deutschland das Robert-Koch-Institut inzwischen unterstützt, sei hingegen unter den aktuellen Umständen „datenschutzrechtlich vertretbar“, sagte Kelber. (…) Erst kürzlich konnte etwa die New York Times nachweisen, wie viel sich aus Handy-Standortdaten herauslesen lässt, selbst wenn es sich um scheinbar anonymisierte handelt. Geraten solche sensiblen Daten in die falschen Hände, dann hätte die Regierung und unsere Gesellschaft nicht nur ein Coronaproblem. (…) Südkoreaner wurden von einer Informationswelle überflutet, die zudem intime Details aus dem Privatleben so mancher Menschen enthüllte, berichtete der Guardian. Trotzdem will Spahn auf einem „gemeinsamen Weg“ herausfinden, wie sich künftig Kontaktnachverfolgung umsetzen ließe. Obwohl es inzwischen eine bedingte Absage aus dem SPD-geführten Bundesjustizministerium gibt, will Spahn nicht locker lassen: „Das Thema ist weiterhin Thema“ Beitrag von Tomas Rudl vom 23. März 2020 bei Netzpolitik externer Link
  • Gesundheitsnotstand: „Jede geeignete Person“ soll zur „Erbringung von Leistungen“ herangezogen werden können
    „Bayern will ein neues Infektionsschutzgesetz mit weitreichenden Befugnissen nächste Woche umsetzen, die Bundesregierung scheint dem zuvorkommen zu wollen (…) Der FAZ gegenüber erklärte der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: „Hier bündeln wir Kompetenzen. Und noch wichtiger: Wir können künftig in einer Lage wie dieser binnen Stunden für Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker und alle anderen, die weit über das normale Maß anpacken, Bürokratie wegnehmen, Regeln anpassen, Vergütungen erhöhen.“ So sollen „grenzüberschreitende Personentransporte“ verboten, per Handyortung die Kontaktpersonen von Infizierten gesucht, die Versorgung mit Arzneien und Schutzausrüstung zentral gesteuert oder medizinisches Personal zwangsrekrutiert werden können. Ausgangssperren sollen aber nicht angeordnet werden können. (…) Nach dem Entwurf (AZ 18/6945) soll „der Ministerpräsident oder der für Gesundheitsfragen zuständige Staatsminister“ offenbar ohne Einbeziehung des Parlaments bei einer übertragbaren Krankheit, die die „Versorgungssicherheit durch das öffentliche Gesundheitswesen ernsthaft gefährdet“, den Gesundheitsnotstand ausrufen können. Dieser soll anstatt oder zusätzlich „Katastrophenfall“, den Söder bereits am 16. März ausgerufen hat, angeordnet werden können. Wie das der Bund auch anstrebt, soll der Staat „bei jedermann medizinisches, pflegerisches oder sanitäres Material beschlagnahmen, soweit dies zur Aufrechterhaltung der notwendigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erforderlich ist“. Es kann ein Verbot erlassen werden, bestimmte Materialien zu verkaufen, oder der Besitzer gezwungen werden, diese dem Staat zu einem behördlich festgelegten Betrag zu verkaufen. Überdies soll der Staat Betrieben anordnen können, benötigtes Material zu produzieren. Und wenn öffentlich gemacht wurde, dass der Staat bestimmtes Material benötigt, besteht eine Meldepflicht für diejenigen, die davon einen über den Eigenverbrauch hinausgehenden Bestand haben. Einschneidender dürfte aber sein, dass Feuerwehren und freiwillige Hilfsorganisationen verpflichtet werden können, die Daten von Mitgliedern zu übergeben, die über „medizinische oder pflegerische Kenntnisse“ verfügen. Das würde auch für die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns gelten, die die persönlichen Daten der aktiven und pensionierten Mitglieder übermitteln muss, die den ärztlichen Personalbedarf decken können. Herangezogen werden sollen aber nicht nur Menschen mit medizinischen Kenntnissen, sondern könnte im Prinzip jeder zu Arbeiten verpflichtet werden (…) Das ist auch nach dem Katastrophenschutzgesetz bereits möglich, aber medizinisches Personal kann „direkt zur Leistung von Diensten bei medizinischen Einrichtungen verpflichtet werden. Das können Krankenhäuser, Pflegeheime oder auch Arztpraxen sein.“ Zwar können für alle Maßnahmen Entschädigungen verlangt werden, aber ein Einspruch hätte keine aufschiebende Wirkung…“ Beitrag von Florian Rötzer vom 22. März 2020 bei Telepolis externer Link
  • Standortdaten und Corona: Unverhofftes Datengeschenk
    „Staatliche Einrichtungen versprechen sich viel von der Auswertung von Standortdaten, die ihnen Mobilfunkbetreiber zuliefern. (…) Nun hat es die Deutsche Telekom dem österreichischen Mobilfunkbetreiber A1 nachgemacht: Rund fünf Gigabyte an anonymisierten Standortdaten hat die Deutsche Telekom-Tochter Motionlogic am Dienstag Abend dem Robert-Koch-Institut (RKI) übergeben. Weitere Daten sollen folgen, mit denen sich Bewegungsmuster der Handynutzer umfassend analysieren lassen sollen. Der Ansatz macht Schule. Auch die o2-Mutter Telefónica zeigt sich bereit zu Gesprächen, um Behörden „mittels solcher Analysen bei der Eindämmung des Coronavirus“ zu unterstützen, sagt eine Telefónica-Sprecherin. Ähnlich der Telekom betreibt das Unternehmen eine Datenanalysierungsplattform. Das versetze das Unternehmen in die Lage, eine „große Menge an anonymisierten und aggregierten Daten für Analysezwecke liefern“. (Hinweis: Kunden beider Unternehmen können bzw. müssen aktiv der Auswertung mittels Opt-Out widersprechen.) (…) Doch was mit diesen Analysen genau passieren soll und ob sie in der aktuellen Krise wirklich hilfreich sind, bleibt derzeit unklar. In Österreich scheint sich der Einsatz derzeit darauf zu beschränken, grob die Einhaltung der dort geltenden Ausgangssperre zu überprüfen. In Deutschland wiederum stehen mögliche Auswertungen von Bewegungsflüssen im Vordergrund. (…) Dass sich eine zuverlässige Anonymisierung nur sehr schwer dauerhaft umsetzen lässt, ist Konsens unter Wissenschaftlern und Datenschützern. Wie tauglich das von Motionlogic eingesetzten Verfahren ist, lässt sich von Außen aber kaum überprüfen. (…) Derweil kann sich der österreichische Datenschutzexperte Wolfie Christl – zähneknirschend – die Nutzung aggregierter Standortdaten vorstellen – wenn es denn dabei bleibt. (…)„Zwischen aggregierter Auswertung und Anwendung der Daten auf Einzelpersonenebene liegen Welten“, sagt Christl. Sollte dies vermischt werden, „könnte schnell der Dammbruch in Richtung Anwendung auf Einzelpersonenebene erfolgen“, befürchtet der Datenschützer. Was das konkret bedeuten könnte, führte Christl anhand eines Beispiels aus: „Im Extremfall könnten mobile Standortdaten auf Einzelpersonenebene natürlich als eine Art elektronische Fußfessel genutzt werden.“ Beitrag von Tomas Rudl vom 19. März 2020 bei Netzpolitik externer Link
  • PAD für Sammlung aktueller Beschlüsse und Maßnahmen zu Corona
    Daniel Mullis und Paul Zschocke haben ein PAD eingerichtet externer Link, „um aktuelle Reaktion und eingeführte Restriktionen in Folge der Corona-Pandemie in unterschiedlichen Bereichen zu sammeln und zu dokumentieren.“ Sie rufen auf, sie bei ihrer Sammlung aktueller politischer Beschlüsse und Maßnahmen unterstützen: „Wir wollen uns einen möglichst breiten Überblick verschaffen und das können wir nur gemeinsam leisten und so bedarf das Projekt eurer Mitarbeit! Um Übersichtlichkeit zu gewährleisten bitten wir die unten vorgeschlagene Struktur zu beachten und Beiträge entsprechend zu formatieren. Außerdem bedarf das Pad sicherlicher einer redaktionellen Betreuung; wir können diese nicht in vollem Umfang und jederzeit gewährleisten und bitte hier um Unterstützung (informiert uns diesbzgl. gerne per Mail).“ Finden wir unterstützendswert!
  • Corona: Die Antworten nicht den Autoritären überlassen
    „… Twitter quillt über mit Tweets die eine Ausgangssperre fordern, weil sich die Leute nicht selbst in eine solche begeben. Social Distancing ist nicht genug, man muss die Leute wegsperren. Wenn die Leute nicht „vernünftig“ handeln, dann muss es eben der Staat richten. Die Vernunft, an der sich die neugewonnene Erkenntnis orientiert, ist eine vermeintlich gesundheitspolitische: Nur mit noch stärkeren Ausgangsbeschränkungen könne man verhindern, dass sich das Coronavirus weiter verbreitet und die voranschreitende Pandemie aufhalten. Am besten von der Polizei kontrolliert und durchgesetzt. Dass die Forderung sich in der Wohnung einzuschließen für manche Menschen schwerwiegendere Folgen hat als für andere, spielt dabei keine Rolle. Mit Netflix und Homeoffice in der mit dem*der Partner*in bewohnten Drei-Zimmer-Altbau-Wohnung, ist es einfach nach Ausgangssperre zu rufen. Für Menschen die nicht das Glück haben, über so viel Wohnraum zu verfügen – sei es wegen Armut oder ihrem illegalisierten Status – ist der öffentliche Raum wesentlich wichtiger. Ganz zu schweigen von der bereits in China dokumentierten Zunahme patriarchaler Gewalt während der dortigen Ausgangsbeschränkungen. Dass diese Maßnahme selbst bei epidemiologischen Expert*innen wegen ihres unklaren Nutzens nicht unumstritten ist, ist scheinbar auch irrelevant. Und vor allem bleibt bei allen Forderungen nach der harten Hand des Staates völlig unterbeleuchtet, dass die Entscheidung eine Ausgangssperre zu verhängen nicht nur ein Akt zur Seuchenbekämpfung ist, sondern auch eine politischer. Und die Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, werden sich in Zukunft verselbstständigen. (…) Deswegen ist es umso wichtiger, angesichts der jetzt um sich greifenden Rufe nach einem autoritären Staat, selbst aktiv zu werden: Sich diesen Rufen aktiv entgegen zu stellen und vor allem Solidarität zu organisieren. Nur so kann die Pandemie von uns aufgehalten werden. Und nur so können wir verhindern, dass die reaktionäre Law&Order Fraktion diese Krise für sich nutzt und noch repressivere Bedingungen für die Auseinandersetzungen der Zukunft schafft.“ Kommentar von David Rojas Kienzle vom 22. März 2020 beim Lower Class Magazine externer Link
  • Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt
    „… Die globale Pandemie, die Weltwirtschaftskrise und die politischen Umwälzungen treffen besonders die Armen und Entrechteten brutal, in jenen Ländern, in denen das Gesundheitssystem nicht ansatzweise funktioniert – die vielen Orte, an denen der Ausnahmezustand für die Unterdrückten bereits zuvor schon die „Regel“ war, mit Walter Benjamin gesprochen. In anderen Staaten hingegen, in den europäischen etwa, ist der Ausnahmezustand in dieser Intensität eine neue Erfahrung. In diesem Moment sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf einem Nullpunkt. Es ist kein Widerspruch, viele der staatlichen Maßnahmen aus gesundheitspolitischer Perspektive zu begrüßen, den politischen Ausnahmezustand absolut ernst zu nehmen und sich gleichzeitig seiner Logik nicht zu unterwerfen. Im Ausnahmezustand „dankt das Recht ab, die Prärogative tritt auf“ (Günter Frankenberg). Aktuell wird verwaltet und regiert. Wir erleben eine rasante Beschneidung von Grund-, Bürger- und Menschenrechten, die in liberalen Demokratien ohne den Modus der Krise auf diese Weise nicht vorstellbar wäre. Das alles wird mit Infektionsschutz und Seuchenbekämpfung begründet, nicht selten zu Recht. Und dennoch kann diese Logik fatale Konsequenzen haben. In Deutschland wird über die Anwendung der Notstandsgesetze debattiert, ein Vorgang, der sich schwer zurückholen lassen wird. Von sozialen Bewegungen geschwächte Präsidenten wie Emmanuel Macron in Frankreich, Sebastián Piñera in Chile oder die libanesische Regierung könnten sich politisch über die Seuche sanieren. Sie können mit dem Ausnahmezustand und Dekreten ihre politische Macht im Namen der Gesundheit und der Nation festigen – ein Mechanismus, der den Effekten des Krieges ähnelt und zum Teil, wie in Frankreich, auch in seiner Rhetorik präsentiert wird. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass die staatlichen Maßnahmen dieses Ziel verfolgen oder deswegen nicht gesundheitspolitisch erforderlich sind. Trotzdem haben sie nicht-intendierte fatale Konsequenzen und öffnen einen politischen Raum. Für das Verständnis der Dynamik innerhalb dieses politischen Raums ist es wichtig zu sehen, dass bereits Maßnahmen getroffen werden, die die Arbeits- und Betriebswelt betreffen: verschärfte Arbeitszeiten, die Sonntagsöffnung der Läden, die Kolleginnen an den Supermarktkassen, die ohne Schutzmasken und Handschuhe den Kundinnen schutzlos ausgeliefert sind. Patienten, die schon jetzt von Kliniken abgewiesen werden; Depressive, deren Behandlungen eingestellt werden – diese Abwägungen finden jetzt statt und treffen nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders hart und ohne den Schutz von Rechtsberatung oder von gewerkschaftlichen Tätigkeiten, die allerorten zurückgefahren werden. Andere Einschränkungen wie die faktische Aufhebung des humanitären Flüchtlingsschutzes und das Festhalten an Abschiebungen fallen in der Corona-Krise nicht vom Himmel – sie sind das Produkt von Politiken der Abschottung, die schon zuvor in den Laboratorien in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln erprobt wurden. Die Schließung von Grenzen für Migrantinnen und ihre Einschließung in Lager wird als seuchenbedingte Mobilitätseinschränkung verkauft, während man zehntausende Staatsbürger aus aller Welt heimholt. Das ist Nationalismus. (…) Noch im Versuch der Wahrung des Status quo ante hat sich das Handeln der Regierungen von vielen neoliberalen Phantasmen befreit und sich auf einen massiven Staatsinterventionismus umgestellt, der gar nicht umhin kommt, sich in den Dienst eines Gemeinsamen, eines Gemeinwesens zu stellen, das sich aus – um es marxistisch auszudrücken – Gebrauchswerten, solidarischen sozialen Beziehungen und geteilten Bedürfnissen zusammensetzt. Wenn Ford und General Motors überlegen, statt Autos nun medizinisches Gerät zu produzieren, blitzt eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft auf. Dies ist aber wiederum nur eine Seite der Geschichte. Zugleich kann der derzeitige Rückzug auf das angeblich „Gemeinsame“ den autoritären Umschlag in die Volksgemeinschaft vorbereiten. Wir sollten uns nichts vormachen: Die ersten Zeichen der nachbarschaftlichen Solidarität, der Sorge und Rücksichtnahme sind zwar ein großer Hoffnungsschimmer, aber diese Stimmung wird noch auf eine harte Probe gestellt werden. Und sie ist auch jetzt schon ambivalent, ähnlich wie es die Erfahrungen aus dem Sommer der Migration 2015 waren. (…) Wir müssen uns auch die Frage stellen, wie wir uns zu den Menschen verhalten, die sich trotz des Primats des sozialen Abstands anders verhalten. Was passiert, wenn Menschen im öffentlichen Raum streiken wollen, weil in der Krise ihre Existenzgrundlage verloren geht? Was ist mit den Menschen, die jetzt im indischen Shaheen Bagh weiter gegen das rassistische Staatsbürgerschaftsgesetz auf der Straße sind, in der Masse von Körpern? Wird die Kultur des sozialen Abstands durchhalten, wenn sich die Widersprüche in den nächsten Wochen und Monaten verschärfen? Wird man es schaffen im digitalen oder öffentlichen Raum Formen des Protests und des Nicht-Einverstandenseins zu organisieren, die dennoch unsere Gesundheit schützen?…“ Artikel von Mario Neumann und Maximilian Pichl vom 20.03.2020 bei Der Freitag online externer Link
  • Corona-Epidemie: Tagebuch der Inneren Sicherheit
    Wir sammeln für Euch die Ereignisse – aktuellste zuerst (helft uns gern beim Suchen)...“ Tagebuch sicherheitsrelevanter Informationen bei clip – Bürgerrechte & Polizei externer Link
  • Vorsichtig mit der Vorsicht! – Die Massnahmen gegen das Coronavirus gebieten uns, wachsam zu sein. Das gilt auch, wenn der Ausnahmezustand einmal beendet ist
    „… Lockdown-Wochen in der Schweiz. Der Bundesrat hat dem Land den Sauerstoff entzogen. Er hat die Gesellschaft in ein künstliches Koma versetzt, um so die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Aber wie das nun so ist mit KomapatientInnen: Wenn sie dann wieder aufwachen, erkennen sie manchmal die Welt nicht wieder. Und dann stellen sie vielleicht fest, dass die Grenzen noch eine Weile zubleiben, zumindest aber Kontrollen aufrechterhalten werden. Allein schon, um das Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung zu verstärken. Es gibt politische Kräfte, die aus der Abschottung Kapital schlagen wollen und die sehr genau hinschauen, wenn die Regierung, gestützt auf Notrecht, die Teilabschaltung des öffentlichen und privaten Lebens verfügt. (…) Unsere Bewegungsfreiheit ist beschnitten, die Versammlungsfreiheit aufgehoben, kulturelle, soziale – urmenschliche – Aktivitäten sind bis auf Weiteres unter Verbot gestellt. Verteidigungsministerin Viola Amherd hat «die grösste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg» ausgerufen und 8000 Armeeangehörige in Bereitschaft versetzt. An den Schweizer Grenzen stehen jetzt SoldatInnen, die niemanden ins Land lassen dürfen, der keinen Schweizer Pass hat oder nicht für wichtige Arbeiten benötigt wird. Gut möglich, dass die autoritären Dekrete nötig und dringlich sind. Doch die weitere Eskalation ist vorgezeichnet: Bald dürfte der Ruf nach einer Ausgangssperre ertönen, danach die gewaltsam durchgesetzte Einhaltung der neuen Restriktionen. Und dann? Angetrieben von steigenden Fallzahlen, überforderten Kantonen und alarmschlagenden Virologen ist der Bundesrat in einen Handlungszwang geraten – oder vielmehr in Handlungsreflexe. Das könnte sich auch auf die Gesellschaft übertragen. Die Gefahr besteht, dass in Zeiten kollektiver Verunsicherung diese irgendwann in eine irrationale Panik kippt. Und diese den Blick für demokratiepolitische Gefahren und Widersprüche trübt. (…) In den nächsten Wochen müssen wir uns nicht nur gegenseitig helfen und beistehen, wir müssen auch wachsam und kritisch bleiben. Zumindest solange der Dissens nicht per Notverordnung verboten ist.“ Kommentar von Renato Beck aus der WOZ Nr. 12/2020 vom 19. März 2020 externer Link
  • Bayern ruft „Katastrophenfall“ aus – Zwangsarbeit, Beschlagnahmungen und Einschränkung der Grundrechte sind jetzt möglich 
    „… Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder hat heute um 10:09 bei einer Pressekonferenz erklärt, in Bayern den „Katastrophenfall“ aufgrund des Coronavirus auszurufen. Dies gelte erst einmal für 14 Tage. (…) Auf der Pressekonferenz wurde kaum darauf eingegangen, welche weitgehenden quasi-diktatorische Vollmachten die bayrische Regierung damit erhält. Der „Katastrophenfall“ bedeutet, dass zivile Organisationen wie die Feuerwehr, das technische Hilfswerk, sowie Hilfsorganisationen zusammen mit polizeilichen und militärischen Organisationen wie der Polizei, der Bundespolizei und der Bundeswehr unter ein einheitliches Kommando gestellt werden – insgesamt rund 470.000 Personen. Das Kommando liegt beim bayrischen Innenministerium. In dieser Kommandostruktur nehmen oftmals die militärischen Strukturen eine zentrale Rolle ein. (…) Zudem können die Behörden zur „Katastrophenabwehr“ von jeder Person die Erbringung von „Dienst-, Sach- und Werkleistungen“ verlangen, wie der Bayrische Rundfunk berichtet. Das bedeutet, dass Zwangsarbeit angeordnet werden kann. Konkret wurde in der Pressekonferenz erklärt, dass z.B. MitarbeiterInnen von Wasserwerken auch in dem Betrieb zusammen mit Lebensmitteln unter Quarantäne gestellt werden könnten und dort weiterarbeiten würden. Zudem darf bei Gefahr in Verzug Eigentum auch unmittelbar beschlagnahmt werden. Wer sich den Anweisungen widersetzt oder nicht rechtzeitig oder nicht vollständig nachkommt, der kann mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Euro belegt werden. Laut Innenminister Hermann seien im Extremfall sogar „Freiheitsstrafen“ möglich. Mit der Ausrufung des Katastrophenfalls kann die Bayerische Landesregierung im Extremfall auch Grundrechte einschränken. So können das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.“ Meldung vom 16. März 2020 von und bei Perspektive Online externer Link, siehe auch:
  • Ausgangssperren in Österreich: Davon träumen Autokraten
    Österreich hat wegen des Coronavirus die Freiheitsrechte der Bevölkerung massiv eingeschränkt. Das ist in dieser Situation nachvollziehbar, aber es birgt auch Gefahr…“ Ein Kommentar von Hasnain Kazim, Wien, vom 16. März 2020 bei der Zeit online externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=164483
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