»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit UNS machen

Dossier

Shame on you, Europe! Sea-Eye und Seefuchs: Protest im MittelmeerErneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen…“ Artikel von Volker M. Heins und Frank Wolff in den Blättern vom Juli 2023 externer Link und weitere zur notwendigen auch moralischen Debatte:

  • Es kommt alles zurück. Wie die Gewalt, die die europäische Migrationspolitik seit Jahren prägt, zur Verrohung der Gesellschaft im Inneren führt. New
    Seit Jahrzehnten lebt die europäische Migrationspolitik davon, Gewalt an Europas Außengrenzen und in den globalen Süden auszulagern: durch Aufrüstung des Grenzschutzes in Transitstaaten, Finanzierung von Gefängnisinfrastrukturen und die strafrechtliche Verfolgung von Grenzübertritten und ihrer Ermöglichung. Diese sogenannte Externalisierungspolitik führt dazu, dass Fliehende entlang der Routen zahlreiche, oftmals tödliche Hindernisse überwinden müssen: aufgerüstete Grenzwälle, die Wüste Sahara und das Mittelmeer. Durch die Abschottung wurden sie zu Massengräbern gemacht.
    Parallel dazu erleben wir zurzeit eine Verschiebung der Gewalt nach innen. Dies bedeutet nicht, dass die Auslagerung der Abschottung zurückgeht – im Gegenteil, sie wird weiter ausgebaut. Aber die Gewalt, die an den europäischen Außengrenzen, wie beispielsweise auf den griechischen Inseln, erprobt wurde, zeigt sich nun zunehmend auch im Innern Europas. Was seit 2016 in vielen Staaten entlang der sogenannten Balkanroute zu beobachten war, ist inzwischen auch in Deutschland angekommen: Pushbacks an den deutschen Grenzen und Forderungen nach zeitlich unbegrenzter Abschiebehaft. Zonen der Entrechtung breiten sich auch im Inneren aus. Zum Beispiel Lagerkomplexe, in denen Grundrechte keine Gültigkeit haben.
    So sieht es auch das Gesetz zur Übersetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in deutsches Recht vor, das kürzlich von der Bundesregierung vorgelegt wurde. Vor allem geht mit der Verlagerung von Grenzen ins Innere auch eine gesteigerte Akzeptanz von Gewalt einher. (…) Rund die Hälfte des Bundestags hat Friedrich Merz’ Vorschlägen zustimmt, das Grundrecht auf Asyl durch eine de facto Grenzschließung auch für Schutzsuchende abzuschaffen. Die migrationsfeindliche Politik ist der Nährboden für gesellschaftliche Verrohung und ein Katalysator des Rechtsrucks in Deutschland und Europa. (…)
    Die Evolution des Prinzips Lager lässt sich aber am besten mit Blick auf das dritte Lager der Insel Lesbos zeigen. Vastria ist ein sogenanntes Closed Controlled Access Centre (CCAC), von der EU auch als Multiple Purpose and Reception Centre bezeichnet. Infrastrukturell ähnelt es stark den Gefängniskomplexen für Geflüchtete, die Italien in Albanien errichtet hat und die die EU inzwischen offen als Return Hubs bezeichnet. Statt windschiefen Zelten stehen dort gleichförmige weiße Wohncontainer hinter meterhohen Zäunen mit Nato-Draht. 97 Millionen Euro hat die EU bereits in das Lager investiert. Es soll zwar nicht komplett geschlossen sein, liegt aber in einem Wald in den Bergen soweit abgelegen, dass es de facto kaum zu verlassen ist. Ein- und Ausgänge sind mit Sicherheitsschleusen und elektronischen Armbändern ausgestattet, die Bewohner:innen sollen einer totalen Überwachung unterliegen: durch Kameras, Drohnen und systematische Datenspeicherung. Eröffnet werden konnte das Lager bisher jedoch nicht, da es aufgrund seiner Lage in einem Naturschutzgebiet und der Brandgefahr im Sommer stark umstritten ist. Doch es ist das Modell der Zukunft: auch wenn zukünftige Lager in Deutschland nicht identisch aussehen werden, das Prinzip der Schnellverfahren und Abschottung ist dasselbe. (…)
    Die Umsetzung von GEAS erlaubt es rechten Kräften in ganz Europa, ihre menschenverachtenden Positionen zumindest teilweise in gültiges Recht zu gießen. Auch der deutsche Entwurf ist ein gefährliches Instrument zur Aushöhlung der Grundrechte von Menschen ohne deutschen Pass. Doch damit nicht genug: Den Rechten gehen die Möglichkeiten der GEAS-Reform immer noch nicht weit genug. So werden schon jetzt immer wieder rechtswidrige Versuche unternommen, Menschen auszuschiffen und einzusperren. Wenn Gerichte dies verhindern, werden sie zu Feinden erklärt, was sich besonders im Fall von Italiens ex-territorialen Lagern in Albanien zeigt. Noch halten die italienischen Gerichte, die die geplante Praxis für rechtswidrig erklärt haben, stand. Aber wie lange?
    Auch Polens Versuche, das Grundrecht auf Asyl vollständig auszuhebeln, weisen in eine düstere Zukunft. Ebenso die Vorstöße von CDU-Politiker:innen, das allgemeine Asylrecht abschaffen zu wollen. Sie normalisieren einen Zustand, in dem der Rechtsstaat und internationale Verträge nur noch als notwendiges Übel gelten. In den USA unter Donald Trump mag dieser Prozess schneller gehen, doch auch Europa ist davor nicht geschützt
    …“ Beitrag von Valeria Hänsel vom 03.02.2025 bei medico externer Link
  • Asyldebatte in der Kritik: „Wenn wir so weiter Stimmung machen, muss man mit allem rechnen“
    Die Asyl- und Migrationsdebatte wird immer schärfer. Integrationsbeauftragte, kirchliche Vertreter und Zivilgesellschaft mahnen Sachlichkeit an und warnen: Probleme nicht zu migrantisieren.
    Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), hat den Tonfall in der Asyldebatte beklagt. „Eine Tonlage, die immer schärfer und populistischer wird, sowie täglich neue Scheinlösungen präsentiert, spaltet unsere Gesellschaft in ‚Die anderen‘ und ‚Wir‘“, sagte sie dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“. „Es ist falsch, die Migrationsfrage als Ursache für sämtliche Probleme in unserem Land heranzuziehen.“ (…) Die Integrationsbeauftragte bezog sich unter anderem auf Äußerungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesjustizminister Marco Buschmann (beide FDP), die eine Kürzung der Sozialleistungen für Asylsuchende „quasi auf Null“ forderten. CDU-Politiker Jens Spahn hatte gesagt, man müsse notfalls mit „physischer Gewalt“ gegen „irreguläre“ Migration vorgehen…“ Beitrag vom 06.11.2023 im Migazin externer Link mit weiteren Integrationsbeauftragten und PolitikerInnen. Siehe dazu auch:

  • Politische Hetze gegen Zuwanderung: Seid ihr Volksvertreter noch bei Trost? 
    Worte sind Waffen. Gezielt eingesetzt können sie Wellen der Gewalt und Zerstörung auslösen und dabei nicht nur einzelne Menschen treffen, sondern ganze Gesellschaften schleichend zersetzen. „Worte können sein wie winzige Arsendosen“, schreibt der Schriftsteller Victor Klemperer. „Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
    Ist es also Dummheit, Fahrlässigkeit oder kaltblütiges Kalkül, was sich Politiker und Politikerinnen der bürgerlichen Parteien derzeit leisten? Seit Monaten befeuern sie – mal grob, mal subtiler – den Diskurs über Zuwanderung und Asyl. Verunglimpfen Ausländer und Ausländerinnen, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge. Bedienen rassistische Argumentationsmuster und entmenschlichen ihre Opfer. Mit ihren verbalen Attacken schrammen sie manchmal nur knapp an der Volksverhetzung vorbei – und die AfD freut sich. (…)
    Die Grundwerte einer pluralen Gesellschaft beginnen zu faulen, wenn mit ihnen gezockt wird. Die Brandmauer fällt, wenn an Menschenrechte der doppelte Standard angelegt wird, weil es politstrategisch gerade mal passend erscheint. Dabei ist der bayerische Bundestagsabgeordnete ja nur deshalb öffentlich aufgefallen, weil er einen besonders hässlichen Vergleich angestellt hat. Andere Politiker und Politikerinnen der etablierten Parteien, ob von SPD, FDP oder CDU, äußern sich in der Debatte um Asyl und Migration vielleicht weniger drastisch – aber keineswegs weniger menschenverachtend. Und suhlen sich fröhlich im braunen Gesinnungssumpf à la AfD…“ Ein wütender Essay von Bascha Mika vom 14.08.2023 in der FR online externer Link – in Gänze lesenswert
  • Wenn Täter sich als Opfer gebärden: Das Recht auf Asyl scheint sehr dehnbar zu sein, ist es doch beständig Gegenstand von Veränderungen, von daher lohnt es sich schon, dieses Recht genauer unter die Lupe zu nehmen. 
    „… Nach der Aufnahme des Asylrechts ins Grundgesetz ist Deutschland auch der UN-Flüchtlingskonvention beigetreten. Der entsprechende Paragraf beinhaltet: „Das Asylrecht hat in Deutschland als Grundrecht Verfassungsrang. Es dient in seinem Kern dem Schutz der Menschenwürde, schützt aber auch das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und andere grundlegende Menschenrechte. Es ist das einzige Grundrecht, das nur Ausländerinnen und Ausländern zusteht.“ Schon die Menschenwürde, die mit diesem Recht geschützt wird, scheint ein seltsames Ding zu sein, denn wann ist sie in Gefahr? Man braucht nur auf die Praxis der Behandlung von Flüchtlingen zu schauen, so hilft die Menschenwürde diesen wenig, schließt doch die Menschenwürde ein Ertrinken im Mittelmeer so wenig aus wie ein Erfrieren in den Wäldern an den Grenzen zu Polen. (…) So ist es mit dem Schutz des Lebens auch nicht weit her, wenn die Menschen durch Wehrpflicht in den Krieg gezwungen werden und ihr Leben für ihren Staat opfern müssen. Ihre Menschenwürde wird durch Kriegerdenkmale geehrt, auf denen die Lüge steht, sie hätten ihr Leben für ihr Land gegeben, als ob dies ihre freiwillige Entscheidung gewesen wäre. (…) Mit dem Asylrecht legen vielmehr Staaten fest, für welches Land sie deren Bürger als lebenden Beweis für die Unrechtmäßigkeit der dortigen Regierung nehmen wollen. So kann sich ein Snowden oder Assange nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen oder auf die Tatsache, dass sie politisch verfolgt werden. Ein Asylgrund in Deutschland ist damit nicht gegeben, erfolgt die Verfolgung doch durch die USA, der dieses Recht zugestanden wird. (…) Europa kann sich offenbar am besten als Zufluchtsort von schutzbedürftigen Menschen präsentieren, wenn es keine mehr reinlässt. Und so demonstrieren Politiker, dass das Asylrecht ihrer Selbstdarstellung dient, und sie präsentieren sich als die wahren Opfer der Elendsströme, die mit ihnen nichts zu tun haben sollen. (…) Wenn Politiker über die wachsenden Flüchtlingsströme klagen, die inzwischen überwiegend als illegale Migranten bezeichnet werden, dann präsentieren sie sich als die Opfer einer Entwicklung, die das Ergebnis ihrer langjährigen Handels-, Wirtschafts- und Militärpolitik ist. Schließlich haben sie mit Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen EU und Afrika für den Zustand gesorgt, dass viele Menschen aus der Region die Flucht ergreifen und auf ein Auskommen in den Metropolen des Kapitalismus setzen…“ Beitrag von Prof. Dr. Suitbert Cechura vom 3. August 2023 im MiGAZIN externer Link
  • EU-Migrationspolitik und tote Geflüchtete im Mittelmeer: Die Brutalität der Grenze – „Wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre das ein Unglück“
    • EU-Migrationspolitik: Die Brutalität der Grenze. An den EU-Außengrenzen wurde die Herrschaft des Rechts abgelöst, schwere Straftaten gegen Geflüchtete bleiben folgenlos.
      „… An den Rändern der Europäischen Union gehen grausliche Dinge vor sich, doch bemerkt man es nicht sofort. Sie passieren am helllichten Tag an abgeschotteten, von Sicherheitskräften bewachten Orten. Und in der Nacht, in den Wäldern, in denen sich Afghanen, Syrer und Somalier vor den kreisenden Drohnen und vermummten Männern verstecken, die ihnen mit Hunden nachjagen und mit Pistolen in die Luft feuern. Manchmal schrecken die beängstigenden Geräusche die Bewohner entlegener Häuser auf. Meistens jedoch verhallen sie ungehört. Genauso wie die Angst- und Schmerzensschreie der Geflüchteten. Ob in der Ägäis, Richtung Türkei, von Ungarn nach Serbien, von Kroatien nach Bosnien oder von Polen nach Belarus – überall werden Menschen an Grenzen zurückgestoßen, verprügelt, ihrer Barmittel und letzten Habseligkeiten beraubt. Und das ohne öffentliches Aufsehen. Wohin es führt, wenn Länder mit der Migration allein gelassen werden, sieht man auf Lesbos. Aber auch in Serbien. Oder in Bulgarien. Überall knackt und bricht der rechtsstaatliche Boden. profil besuchte drei Orte, an denen der hochgerüstete Grenzschutz und die Bekämpfung „illegaler Migration“ konkrete, praktische Formen annehmen. Lesbos, Griechenland (…) Subotica, (Serbien) und Szeged (Ungarn) (…) Bihać, Bosnien-Herzegowina (…) Die Folgen des permanenten Scheiterns sind offensichtlich: Funktioniert die Verteilung der Flüchtlinge auf Europa und die Rückführung abgewiesener Asylwerber nicht und geht der Zustrom trotz Abschreckungspolitik weiter, erschöpft sich die Kapazität der Anhaltezentren an den Außengrenzen. Das alte, zynische Spiel geht weiter; Menschenrechtsverletzungen aller Art inklusive.“ Reportage von Franziska Tschinderle, Edith Meinhart und Siobhán Geets vom 9. Juli 2023 bei profil.at externer Link
    • Tote Geflüchtete im Mittelmeer: „Wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre das ein Unglück“
      Bei der Flucht übers Mittelmeer und seinen tödlichen Folgen ist häufig die Rede vom blinden Fleck Europas. Dabei berichten Medien regelmäßig über das Thema. Auf der Strecke bleiben hierbei allerdings häufig die Zusammenhänge. (…) Und warum ändert sich trotz der andauernden Berichterstattung so wenig an den Zuständen? Warum sterben seit Jahren und weiterhin Jahr für Jahr Menschen auf dem Mittelmeer? Jakob sieht eine wesentliche Ursache hierfür in einer politischen Dynamik. Die EU habe der Ur-Agenda von Rechtspopulisten recht gegeben, die illegale Migration zum Ursprung aller möglichen Probleme erklären würden. Doch genau darüber berichtet werde sehr wohl, betont der Journalist.
      Medien müssten noch mehr die politischen Zusammenhänge erklären, findet die Journalistin Viola Funk. Mit den „immer gleichen Bildern zur gleichen Geschichte“ werde Ohnmacht erzeugt und der Glaube, „das ist ein Unglück“, sagte Funk im Deutschlandfunk. „Aber ich glaube, dass wir aufhören müssen, so zu tun, als wäre das einfach ein Unglück, das passiert.“ Denn am Ende gehe es um politische Entscheidungen, so wie etwa die gegen eine Seenotrettung. Wenn jetzt ein Boot mit Hunderten Menschen kentere, hänge das auch mit Entscheidungen der vergangenen Jahre zusammen…“ Viola Funk im Gespräch mit Benedikt Schulz am 10.07.2023 im Deutschlandfunk externer Link Audio Datei (Text: Michael Borgers)
  • «Auch hinter den Mauern gibts keine Sicherheit»: Wie verändert die Politik der Abschottung die europäische Gesellschaft? 
    Im Interview von Anna Jikhareva und Sarah Schmalz in der WOZ vom 29. Juni 2023externer Link warnen die beiden Autoren Volker Heins und Frank Wolff vor einem «Faschismus der Herzen»: „… Frank Wolff: Wenn wir davon ausgehen, dass Grenzen Teil unserer Gesellschaften sind und nicht weit weg am Rand, haben die Geschehnisse dort einen direkten Einfluss darauf, welche Tendenzen wir tolerieren und welche nicht. Aktuell sehen wir eine gesellschaftliche Verrohung, die an den Grenzen ihren Ausdruck findet – und dann in die Zentren zurückwirkt. Durch diese Wechselwirkung entwickeln wir auch im Innern eine Toleranz gegenüber Menschenrechtsbrüchen. (…) Unser Buch beginnt mit dem Wort «schleichend» – so verläuft die Verrohung des Diskurses. Stattgefunden hat eine grosse Verschiebung: Migrant:innen werden schon länger als «Gefahr» identifiziert. Heute sieht man die Gefahr in der fehlenden Kontrolle über Migration. Zentrale staatliche Funktionen wie die Aufnahmepolitik werden an intransparente Institutionen an den Grenzen ausgelagert. Das ist kein Fehler, das System ist intentional so geschaffen. Wir aber sehen dessen Funktionsweise immer bloss bei den fürchterlichen Ereignissen. (…) Heins: Man muss unterscheiden zwischen dem offenen Rassismus im Diskurs und der Mechanik des Asylregimes. Der Soziologe Steffen Mau hat von Sortiermaschinen gesprochen – und die sind natürlich nicht farbenblind. Das Grenzregime ist rassistisch, migrationswillige Personen werden nicht gleichbehandelt – nehmen wir Migrant:innen aus dem arabischen Raum oder Afghanistan 2015 und die Ukraineflüchtlinge. Wolff: Man müsste viel mehr diskutieren, wie Rassismus in der europäischen Idee eingebettet ist, wie er sich ausdrückt und institutionalisiert. (…) Heins: Vielleicht entsteht in unserem Buch der Eindruck, alles sei elitengesteuert. Wir wollen aber keineswegs sagen, die Bevölkerung sei passiv, sondern lediglich die Politik bestimmter Eliten stärker herausarbeiten. In Deutschland wird argumentiert, die Bevölkerung wolle halt sichere Grenzen. Aber «die Stimme des Volkes» ist ein rechter Mythos – und dagegen wollten wir anschreiben. Wolff: Der Rassismus in der Bevölkerung ist sowohl von den offen rechten Akteur:innen als auch von den liberalen Mauerbauer:innen gewollt. Letztere argumentieren vom Stammtisch bis ins Parlament, es brauche einen verschärften Grenzschutz, um den Rechten keinen Raum zu geben. (…) Heins: Er äussert sich in einer kollektiven Bitterkeit und Empathielosigkeit. Und das ist ein Problem: Faschismus der Herzen heisst, jemand ist nicht mehr für Appelle an eine elementare Mitmenschlichkeit empfänglich. Wolff: Dadurch werden auch jene delegitimiert, die noch mitfühlen. (…) Heins: Als Erstes bräuchten wir eine Humanisierung. Alle, die sich einigermassen zur liberalen Demokratie bekennen, müssten doch die Forderung nach rechtsstaatlichen Verfahren zu Übergriffen, unterlassener Hilfeleistung und Tötungen an den Grenzen unterschreiben. Mit Demokratisierung meinen wir, dass alle, die von den Grenzen betroffen sind, nicht zuletzt die Migrant:innen selbst, bei ihrer Ausgestaltung Gehör finden müssten. Ein Beispiel: 2020 hat Deutschland ein Kontingent von Flüchtlingen aus dem Lager Moria aufgenommen und verteilt. Berlin war bereit, mehr Menschen aufzunehmen, durfte aber nicht. Auch in der Schweiz gibt es, wie ich höre, Kommunen, die eigenständig Geflüchtete aufnehmen möchten.“ (von Volker Heins und Frank Wolff erschien Mai 2023 bei der edition suhrkamp das Taschenbuch „Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“, 18 Euro, 197 Seiten)

Siehe zum aktuellsten Hintergrund v.a. unser Dossier: Migrationspakt und GEAS: Neuer Anlauf in der EU-Flüchtlingspolitik (???)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212909
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