[Offener Brief ] Abweisender Umgang mit Leistungsberechtigten aus EU-Staaten in den Jobcentern; Verweigerung von berechtigten Leistungsansprüchen
Dossier
„… wir, die unterzeichnenden Personen bzw. Organisationen, wenden uns an Sie, da wir in großer Sorge sind über den Umgang von Jobcentern mit Staatsangehörigen der EU, die Leistungen nach dem SGB II beantragen oder beziehen. Seit einiger Zeit nehmen wir eine stark zunehmende restriktive und abweisende, z. T. auch diskriminierende Praxis der Jobcenter gegenüber Unionsbürger*innen wahr: Leistungen werden oftmals unberechtigt abgelehnt, Antragstellende werden bereits in der Eingangszone abgewiesen, die Herausgabe von Antragsunterlagen wird verweigert, ergänzende Dokumente zur Glaubhaftmachung von Tatsachen werden in unverhältnismäßigem Maße angefordert. Unterm Strich zeigt sich in unserer Wahrnehmung eine – zunehmend strukturell angelegte – Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder der (vermuteten) Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder sozialen Gruppe…“ Offener Brief der GGUA Flüchtlingshilfe vom 9. November 2020 an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), mitgezeichnet durch Tacheles e. V. und vielen anderen Organisationen. Siehe mehr daraus und dazu:
- Studie: Benachteiligung von EU-Bürgern in Jobcentern aufgrund struktureller Probleme. Viele Betroffene fühlen sich diskriminiert
„Menschen, die ihre Rechte nicht kennen, kein Deutsch können und denen die deutsche Bürokratie fremd sind, fällt es schwer, ihre Ansprüche auf Sozialleistungen geltend zu machen. Nur wer seine Rechte und Pflichten gut kennt und Deutsch spricht, hat Aussicht auf Erfolg beim Jobcenter. Das zeigt eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), die dem MiGAZIN exklusiv vorliegt. Danach erhalten Personen, die ihren Antrag nicht begründen können oder Unterstützung benötigen, oft keine Sozialleistungen. (…) Um mehr Zeit für die Bearbeitung der Anträge zu gewinnen, forderten manche Sachbearbeiter in Jobcentern Unterlagen an, die nicht zwingend erforderlich seien oder rechtlich gar nicht vorgelegt werden müssten. Auch eine zu enge Auslegung der gesetzlichen Vorgaben und des Ermessensspielraums könne zur Ungleichbehandlung von EU-Bürgern führen. Erschwerend kommt der Studie zufolge hinzu, dass viele Mitarbeiter von Jobcentern darauf bestehen, ausschließlich auf Deutsch zu kommunizieren. Antragssteller, die nicht genügend Deutsch können, sind deshalb im Nachteil. Dies widerspricht jedoch dem Prinzip der Gleichbehandlung: Sozialleistungen dürfen nicht an Sprachkenntnisse gekoppelt werden. (…) In ihrer Not greifen laut Untersuchung viele Betroffene auf Unterstützung von Freunden, Familienangehörigen und Bekannten zurück. Professionelle Unterstützung gebe es aber in der Regel in Sozialberatungsstellen. Problem: Nicht alle Betroffenen kennen dieses Angebot. „Zuwanderer:innen aus EU-Staaten sollten stärker über ihre sozialen Rechte und Pflichten und die Besonderheiten der deutschen Bürokratie informiert werden. Sie brauchen mehr Unterstützung“, sagt Prof. Dr. Sabrina Zajak vom DeZIM-Institut…“ Meldung vom 29. November 2022 im MiGAZIN zur 24-seitigen englischsprachigen Studie von Nora Ratzmann vom 29. November 2022 beim DeZIM-Institut - Neue Arbeitshilfe: „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ – „für solche Hetzschriften sind Kapazitäten da“
„Im Januar 2022, hat die Bundesagentur für Arbeit die fünfte Fassung ihrer 30-seitigen „Arbeitshilfe Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ (…) Entgegen der Überschrift befasst sich die Arbeitshilfe vorrangig nicht etwa mit dem Thema „organisierte Kriminalität“, sondern dient in erster Linie dazu, großen Gruppen von Unionsbürger*innen in prekären, ungeschützten Arbeitsverhältnissen die aufstockenden SGB-II-Leistungen zu verweigern. Die Arbeitshilfe führt zu gezielter Stigmatisierungen und Kriminalisierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, der ethnischen Zugehörigkeit oder schlicht aufgrund eines prekären Beschäftigungsverhältnisses: Sie schafft und fördert in ihrer Wirkung (wenn auch nicht in ihrer Intention) somit eine Struktur von multidimensionaler, intersektionaler Diskriminierung.Sie wirkt rassistisch, weil nur Personen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, ausdrücklich Unionsbürger*innen, davon betroffen sind (…) Sie wirkt klassistisch, weil insbesondere prekär Beschäftigte mit nicht-existenzsicherndem Einkommen in Arbeitsmarktsektoren mit einem besonders hohen Maß an Ausbeutung betroffen sind. Die BA-Arbeitshilfe manifestiert auf verwaltungstechnischem Wege die gesellschaftliche Verachtung von Menschen in Armut und prekären Beschäftigungsverhältnissen und stellt sie faktisch unter den Generalverdacht der Kriminalität. (…) Und sie wirkt sexistisch, weil Frauen überdurchschnittlich in prekären Beschäftigungsverhältnissen, in Minijobs und ungeschützten Arbeitsmarktbereichen (private Pflege, Reinigungsgewerbe) arbeiten (müssen) oder aufgrund von familiärer Care-Arbeit nur begrenzt eine Erwerbstätigkeit ausüben können. (…) Die Arbeitshilfe deutet die eigentlichen Opfer von faktischer Arbeitsausbeutung, von ungeschützten und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen zu Täter*innen um. Unionsangehörige Leistungsberechtigte mit geringem Einkommen und werden gleichsam zu Mitgliedern „krimineller Banden“ umdefiniert. (…) In den Beratungsstellen nehmen die Kolleg*innen zunehmend Verelendung, völlige Mittellosigkeit, sozialrechtliche Schutzlosigkeit, Wohnungslosigkeit, kurz: die vollständige soziale Exklusion einer ganzen Bevölkerungsgruppe wahr. Die sozialstaatlichen Schutzgarantien scheinen für diese Gruppe außer Kraft gesetzt zu sein, betroffen sind in erster Linie Unionsbürger*innen. Die eigentliche Ursache für diesen unhaltbaren Zustand ist dabei das umfassende System von sozialrechtlichen Leistungsausschlüssen im SGB II und XII (und seit 2019 auch im Kindergeld) für wirtschaftlich nicht verwertbare Unionsbürger*innen. Die Arbeitshilfe der BA perfektioniert dieses Exklusionssystem und gestaltet den sozialen Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe noch effektiver. Das Ziel muss daher neben der Rücknahme der BA-Arbeitshilfe vor allem sein, die ausländerrechtlichen Leistungsausschlüsse für nicht-deutsche Staatsangehörige im SGB II und XII endlich zu streichen.“ Kritik vom 3. Februar 2022 von und bei der Tacheles e.V.- Und die Bemerkung im Thomé Newsletter 05/2022 vom 06.02.2022: „für solche Hetzschriften sind Kapazitäten da, aber seit März 2020 gibt es beispielsweise einen neuen § 41a SGB II, zu dem seitdem noch keine Dienstanweisung herausgegeben worden ist. Die Energiepreise gehen durch die Decke, dazu ergehen auch keine Weisungen wie hier ggf. SGB II (und SGB XII) – Leistungsbeziehendende entlastet werden können. Bei der Bekämpfung von EU-Bürger*Innen werden klare Prioritäten gesetzt, wie das Existenzminimum sachgerecht sichergestellt werden kann, scheint hingegen niemanden zu interessieren.“
- Sozialleistungen für EU-Bürger_innen durch deutsche Jobcenter: „Abwehr unerwünschter Gruppen”
„Perspektivlosigkeit, Angst, bis hin zu Verelendung und Wohnungslosigkeit – das seien die Folgen der immer häufigeren Verweigerung von Sozialleistungen für EU-Bürger_innen durch deutsche Jobcenter. Dies beklagen zwölf sozialpolitische Initiativen, darunter die Landesarmutskonferenz Berlin und das Komitee für Grundrechte und Demokratie, in einem Brief an das Bundesarbeitsministerium. Darin heißt es, die Bundesagentur habe ihre internen Vorgaben verschärft, die Agentur hege einen „kaum verklausulierten Generalverdacht“ gegen Geringverdienende in prekären Beschäftigungsverhältnissen und aus bestimmten Herkunftsstaaten. Diese hätten es nun sehr viel schwerer, die ihnen zustehenden Leistungsansprüche durchzusetzen. Die Rede ist von neuen Prüfkriterien, die die Agentur nach eigenen Angaben zur Bekämpfung des „bandenmäßigen Leistungsmissbrauchs“ und zur „Vermeidung und Aufklärung rechtswidriger Leistungszahlungen“ an EU-Bürger_innen erlassen habe. Die Prüfkriterien könnten die betroffenen Leistungsberechtigten aber „faktisch kaum erfüllen“ beklagen die Sozialinitiativen. Wer dringend auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sei, erhalte diese nicht oder nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten. „Unser subjektiver Eindruck ist: Das Ziel der Jobcenter ist weniger das Ziel des ,Förderns und Forderns‘ leistungsberechtigter und hilfebedürftiger Personen, als immer häufiger die Abwehr unerwünschter Personengruppen“, heißt es in dem Brief…“ Beitrag aus Forum Migration Januar 2021 beim DGB-Bildungswerk zum Offenen Brief an das BMAS und der Antwort des BMAS - Weiter heißt es im Offenen Brief der GGUA Flüchtlingshilfe vom 9. November 2020 : „(…) Unser subjektiver Eindruck ist: Das Ziel der Jobcenter ist weniger das Ziel des „Förderns und Forderns“ leistungsberechtigter und hilfebedürftiger Personen, als immer häufiger die Abwehr unerwünschter Personengruppen. (…) Es geht uns mit dieser Kritik nicht um die gesetzlich geregelten und politisch gewollten Leistungsausschlüsse für bestimmte Gruppen ausländischer Staatsangehöriger (die wir indes aus menschenrechtlichen und sozialpolitischen Erwägungen ebenfalls scharf ablehnen, aber das wäre eine andere Diskussion), sondern um eine Kritik an der Nichtanwendung des geltenden Rechts...“
Siehe auch zum Thema:
- unser Dossier Paritätischer warnt vor Rassismus in Jobcentern
- und viele weitere Beiträge in der Rubrik Politik » Erwerbslosigkeit » Hartz IV » ALG II/AsylbLG und Flüchtlinge/EU-Bürger