Keine Besserung in Sicht: IAQ-Report zu multipler Prekarisierung beleuchtet soziale Lage von Zugewanderten aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg

Tradition: "Ausländer" auf dem deutschen ArbeitsmarktVor 10 Jahren erweiterte sich der Raum der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien. Heute leben etwa 1,3 Mio. Menschen aus diesen Ländern in der Bundesrepublik, das sind etwa 10 Prozent der ausländischen Bevölkerung. Doch oft wird die Migration aus diesen beiden Ländern noch immer als Armutszuwanderung stigmatisiert. Polina Manolova, Thorsten Schlee und Lena Wiese vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen beleuchten in einer neuen Studie die vielfältigen, sich gegenseitig bedingenden Diskriminierungserfahrungen südosteuropäischer Migrant*innen in Duisburg…“ IAQ-Pressemitteilung vom 15.10.2024 externer Link zum Abschlussbericht des djeka-Projektes (Diskriminierung jenseits der Kategorien) – siehe mehr daraus und dazu:

  • Klassenkampf in Duisburg: »Die Stadt produziert aktiv Armut«. Forschungsprojekt von Polina Manolova befragte migrantische Arbeiter in Duisburger Stadtteilen New
    Im Interview von David Bieber in der jungen Welt vom 6. Dezember 2024 externer Link beschreibt die Soziologin an der Universität Duisburg-Essen, Polina Manolova, ihr Forschungsprojekt: „Das Ziel war, Diskriminierungserfahrungen von bulgarischen und rumänischen Migranten in segregierten Stadtvierteln in Duisburg zu untersuchen. Dafür haben wir die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die Wohnsituation, die Sozialleistungen und die Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen berücksichtigt (…) Die Migration aus Südosteuropa ist ein hochpolitisches Thema auf städtischer Ebene. In Duisburg wird es seit einem Jahrzehnt zur Mobilisierung von Wählerstimmen instrumentalisiert, vor allem durch Narrative von »Sozialleistungsmissbrauch« und »No-go-Vierteln«. (…) Unser Ziel war es, stichhaltige Beweise für die Mechanismen der Ausgrenzung und die aktive Produktion von Armut durch die städtischen Behörden zu erbringen. (…) Fast alle Arbeiter, mit denen wir sprachen, waren bei einem Subunternehmen beschäftigt. Von den 20 Reinigungskräften bei Thyssen-Krupp Steel, die wir befragten, war nur eine direkt angestellt. Wegen der befristeten Beschäftigung und der mangelnden Bereitschaft der Subunternehmer, Vollzeitverträge anzubieten, sind die Beschäftigten auf Zusatzleistungen angewiesen. Der Zugang zu diesen Leistungen wird jedoch unnötig erschwert, so dass viele in Armut, Obdachlosigkeit und Not geraten. (…) Viele hatten befristete Verträge mit einer sechsmonatigen Probezeit. Sie garantieren weder Mindest- noch Höchstarbeitszeiten, während die tatsächliche monatliche Arbeitszeit oft bei 60 bis 70 Stunden liegt. Obwohl in den Verträgen formal der Mindestlohn eingehalten wird, wird dies durch verschiedene informelle Praktiken unterlaufen: Überstunden werden häufig nicht bezahlt, Sozialversicherungsbeiträge werden einbehalten, Abzüge für Arbeitskleidung und Transportkosten werden vorgenommen, Reisekosten werden nicht erstattet, und es gibt keine Bestimmungen für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsgeld. In einigen Fällen wurden die Verträge nicht einmal registriert, so dass die Arbeiter trotz ihrer Beschäftigung keinen Zugang zur Sozialversicherung haben. Eine gängige Praxis besteht darin, Verträge mit verkürzten Arbeitszeiten auszustellen und den Restbetrag »unter der Hand« zu bezahlen. Während unserer Feldarbeit in Marxloh haben wir zahlreiche Berichte über Arbeitsunfälle und gefährliche Arbeitsbedingungen dokumentiert, die zu schweren Verletzungen und langfristigen Gesundheitsproblemen wie Rückenschmerzen, gebrochenen Rippen und Lungenkrankheiten geführt haben. (…) Die mit Migranten aus Südosteuropa verbundene Armut ist kein »importiertes« Problem, wie die Behörden oft behaupten. Statt dessen wird sie aktiv von der Stadt produziert, vor allem durch administrative Kontrolle und polizeiliche Praktiken, wie die Errichtung von Barrieren für Sozialleistungen, die Durchführung regelmäßiger Wohnungsräumungen und Polizeirazzien. Verschärft wird dies noch durch das mangelnde Interesse an der Durchsetzung von Arbeitsvorschriften oder an der Bestrafung betrügerischer Chefs und Vermieter.“
  • Weiter aus der IAQ-Pressemitteilung vom 15.10.2024 externer Link: „… Gemessen an der Bevölkerungszahl ist Duisburg die Stadt mit den meisten Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien in Nordrhein-Westfalen. Aktuell leben hier rund 26.000 Menschen aus den beiden Ländern. Trotz des sich zuspitzenden Fachkräftemangels wird die seit 10 Jahren bestehende volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger*innen aus Rumänien und Bulgarien selten als Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt gesehen. Im Gegenteil: Es dominieren noch immer Zuschreibungen wie Armutszuwanderung oder „Sozialtourismus“, was sich in politischen Programmen genauso niederschlägt, wie im Alltag der Zugewanderten. In einer neuen Studie beleuchten Polina Manolova, Thorsten Schlee und Lena Wiese vom IAQ die vielfältigen Diskriminierungserfahrungen südosteuropäischer Migrant*innen in zwei Duisburger Stadtteilen beim Zugang zu Arbeit, Wohnraum und sozialer Sicherung sowie deren Wechselwirkungen.
    Obwohl Bulgar*innen und Rumän*innen insgesamt sehr gute Integrationschancen zugeschrieben werden und auch die Beschäftigtenquote von Personen aus Rumänien (67,2 %) und Bulgarien (53,6 %) insgesamt relativ hoch ist, hält sich das Narrativ, Migrant*innen aus diesen Ländern würden die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit ausnutzen, um Zugang zu den deutschen Sozialsystemen zu erhalten. Dem widersprechen die Ergebnisse der IAQ-Wissenschaftler*innen, die für das von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes finanzierte Projekt „Diskriminierung jenseits der Kategorien“ zwischen November 2023 und Juni 2024 etwa 720 Personen im Rahmen einer Sozialberatung in den Duisburger Stadtteilen Hochfeld und Marxloh begleitet haben. Zusätzlich wurden mit ausgewählten Personen ausführliche Interviews geführt.
    „Entgegen den weit verbreiteten Vorstellungen vom ‚Sozialleistungsmissbrauch‘ nehmen die Migrant*innen, die wir begleitet haben, wohlfahrtsstaatliche Leistungen nur zögerlich in Anspruch. In manchen Fällen haben sie unsere Hinweise auf Möglichkeiten, staatliche Hilfen zu beantragen, auch aktiv ausgeschlagen“, berichtet Polina Manolova. Was in der öffentlichen Berichterstattung oft unerwähnt bleibt: EU-Bürger*innen haben in Deutschland erst nach fünf Beschäftigungsjahren überhaupt vollen Zugang zu den sozialen Leistungen. Dieser wird den Zugewanderten durch schwer zu erbringende Nachweise, lange Wartezeiten auf einen Termin und lange Bearbeitungszeiten erschwert. So fallen Personen mit besonders hohem Bedarf aus den Systemen sozialer Sicherung heraus. Dabei sind es gerade sie, die in häufig prekären Beschäftigungsverhältnissen die migrantisch geprägten Wirtschaftssektoren (Fleischindustrie, Bauindustrie, Industriereinigung, Logistik, 24-Stunden-Pflege) am Laufen halten.
    Für die vielen Teilzeitbeschäftigten werden häufig keine Sozialversicherungsbeiträge eingezahlt. Zudem wechseln migrantische Beschäftigte immer wieder zwischen befristeten Arbeitsverhältnissen und Zeiten der Arbeitslosigkeit. Sie erwerben so keinerlei Anspruch auf einen regulären Zugang zur Arbeitslosenversicherung, zur Krankenversicherung und zur Sozialhilfe. Lohnstruktur und Art der Beschäftigungsverhältnisse führen dazu, dass die Bezahlung nicht ausreicht, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften: 44 Prozent der aus Rumänien stammenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sowie mehr als die Hälfte der Bulgar*innen erhalten Entgelte unterhalb der Niedriglohnschwelle.
    Auch beim Thema Wohnen sind zugewanderte Südosteuropäer*innen weiterhin ethnien- bzw. herkunftsbezogener Diskriminierung ausgesetzt. (…)
    Die Wissenschaftler*innen betonen: Es ist das Zusammenwirken von diskriminierenden Erfahrungen in der Arbeitswelt, auf dem Wohnungsmarkt und im Zugang zu sozialen Rechten, das zur (Re-)Produktion der prekären Lage südosteuropäischer Migrant*innen in Duisburg führt. Die lokale Sozialpolitik muss sich fragen, wo sie die Verantwortung für die anhaltend schlechten Lebensbedingungen sieht: in den Integrationshemmnissen und kulturellen Abweichungen der Zuwandernden oder in deregulierten Arbeits- und Wohnungsmärkten und ihren eigenen programmatischen Ausrichtungen und administrativen Verfahren. Denn diese verschlimmern zum Teil die ohnehin prekäre Lage der Zugewanderten, anstatt sie in schwierigen Lebenslagen zu stärken und zu unterstützen
    .“
  • Polina Manolova, Thorsten Schlee, Lena Wiese, 2024: Multiple Prekarisierung – Zur Lebenslage osteuropäischer Migrant*innen in urbanen Sozialräumen am Beispiel der beiden Duisburger Stadtteile Hochfeld und Marxloh. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Report 2024-1 externer Link

Siehe auch unser Dossier: Refat Suyleyman, ein bulgarischer Arbeiter eines Subunternehmens, auf dem Werksgelände von Thyssenkrupp-Steel (TKS) in Duisburg tot aufgefunden

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=223782
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