Institutionelle Hürden auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit: Warum setzen wenige prekäre migrantische Beschäftigte ihre Arbeitsrechte durch?

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIm Mai 2021 beschloss die Brandenburger Landesregierung eine Neustrukturierung mit vier statt bisher sechs Arbeitsgerichtsbezirken mit dauerhaften Standorten lediglich in Brandenburg an der Havel, Neuruppin, Frankfurt (Oder) und Cottbus. Zur Begründung verwies das Justizministerium auf ein gesunkenes Klageaufkommen in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Diese Reform geschah entgegen aller Kritik von Richter:innen und Justizbeschäftigten und trotz der Bemühungen von ver.di durch eine online-Petition das Vorhaben zu verhindern. (…) Medial vielfach thematisierte Rechtsverletzungen von saisonalen und prekären Beschäftigten in Brandenburg, etwa von Erntehelfer:innen in der Spargel- oder Erdbeersaison oder von Lagerhelfer:innen und Paketzusteller:innen bei großen Logistikunternehmen, weisen auf fortbestehende und sogar wachsende Herausforderungen in der Durchsetzung von Arbeitnehmer:innenrechten hin. Die Ansiedlung von großen Logistikzentren und Teslas »Gigafactory« in Brandenburg geht mit einer Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen einher, die vermehrte Arbeitsrechtsverletzungen befürchten lässt…“ Artikel von Mouna Maaroufi und Maria Seidel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 6/2022:

Institutionelle Hürden auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit

Warum setzen wenige prekäre migrantische Beschäftigte ihre Arbeitsrechte durch? – von Mouna Maaroufi und Maria Seidel*

Im Mai 2021 beschloss die Brandenburger Landesregierung eine Neustrukturierung mit vier statt bisher sechs Arbeitsgerichtsbezirken mit dauerhaften Standorten lediglich in Brandenburg an der Havel, Neuruppin, Frankfurt (Oder) und Cottbus. Zur Begründung verwies das Justizministerium auf ein gesunkenes Klageaufkommen in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Diese Reform geschah entgegen aller Kritik von Richter:innen und Justizbeschäftigten und trotz der Bemühungen von ver.di durch eine online-Petition das Vorhaben zu verhindern. Zwar sollen die Standorte Potsdam, Eberswalde und Senftenberg als Außenkammern  mithilfe von Gerichtstagen durch die verbleibenden vier Arbeitsgerichte weitergeführt werden, der Trend hin zu einer Verringerung der arbeitsgerichtlichen Standorte und Infrastrukturen zeichnet sich dennoch ab. Unberücksichtigt blieb unseres Erachtens bei dieser Entscheidung der tatsächliche Bedarf an Unterstützung von Arbeiter:innen durch die Arbeitsgerichtsbarkeit, der sich nicht unmittelbar an der Anzahl an Klageanträgen ab­lesen lässt. Medial vielfach thematisierte Rechtsverletzungen von saisonalen und prekären Beschäftigten in Brandenburg, etwa von Erntehelfer:innen in der Spargel- oder Erdbeersaison oder von Lagerhelfer:innen und Paketzusteller:innen bei großen Logistikunternehmen, weisen auf fortbestehende und sogar wachsende Herausforderungen in der Durchsetzung von Arbeitnehmer:innenrechten hin. Die Ansiedlung von großen Logistikzentren und Teslas »Gigafactory« in Brandenburg geht mit einer Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen einher, die vermehrte Arbeitsrechtsverletzungen befürchten lässt. Nicht zuletzt hätte die statistisch erfasste Zunahme an Kündigungen während der Coronazeit, die prekär Beschäftigte und Geflüchtete besonders betroffen haben (Brücker et al. 2020, 39), zumindest Anlass geben sollen, eine solch schwerwiegende Entscheidung zu vertagen.

Seit 2016 unterstützen wir als Berater:in­nen der Fachstelle Migration und Gute Arbeit Brandenburg, eine Einrichtung von ­Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg DGB/VHS e.V., im Land Brandenburg geflüchtete, mobile und migrantische Beschäftigte. Unsere Beratung zielt auf die Vermittlung arbeitsrechtlicher Kenntnisse und auf die Durchsetzung von arbeitsrechtlichen Ansprüchen und Rechten ab. Meist kommen Menschen in die Beratung, weil ihnen der Lohn vorenthalten wird. Durch schriftliche Geltendmachungen der Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und mündliche Verhandlungen mit dem/der Arbeitgeber:in unternehmen wir den Versuch einer außerge­richtlichen Einigung. In komplexen Fällen verweisen wir auf Anwält:innen und die Möglichkeit, mit oder ohne diese bei der Rechtsantragsstelle des Arbeitsgerichts eine Klage einzureichen. Für eine Klage beim Arbeitsgericht entscheiden sich die Ratsuchenden, die größtenteils nicht über Rechtsschutz verfügen, nur selten. Als arbeitsrechtliche ­Beraterinnen erleben wir in der Tat, dass Arbeiter:innen sich trotz offensichtlicher und belegbarer Rechtsverletzungen gegen Klageverfahren beim Arbeitsgericht entscheiden. Die beobachtete Abnahme von Klagen erstaunt uns daher nicht unbedingt, sie wirft vielmehr die Frage auf: Was hindert Arbeiter:innen in ihrem Alltag daran, ihre Rechte vor dem Arbeitsgericht einzuklagen, welche Hürden tun sich ihnen auf? Antworten auf diese Frage bedürfen einer Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeits- und Lebensumstände von prekären und migrantischen Arbeiter:innen.

Hürden bei der Inanspruchnahme von Arbeitsgerichten

Rechtliche Auseinandersetzungen erfordern umfassende Ressourcen und Unterstützung, die vor allem in migrantischen Kämpfen, beispielsweise um Bewegungsfreiheit und Bleiberechte, regelmäßig von außenstehenden, vernetzten und gut ausgestatteten Unterstützungsstrukturen zur Verfügung gestellt werden müssen (Buckel et al. 2021). Als Beratungsstelle, die zwar über den Verlauf von Verfahren bei Arbeitsgerichten informiert, aber Arbeiter:innen nicht vor Gericht begleiten und vertreten kann, begleiten wir Abwägungen hinsichtlich einer Klageeinreichung. Es gibt in Deutschland zwar Statistiken über die Anzahl an Klagen, aber kaum Einblicke in den tatsächlichen Zugang zu Arbeitsgerichten aus der Perspektive von Arbeiter:in­nen, die keine Klage erheben. Auch von ­wissenschaftlicher Seite wird auf Defizite hingewiesen. So werfen Forscher:innen um Prof. Michael Wrase am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Frage auf: »Welche (Rechts-)Streitigkeiten werden von wem vor Gericht gebracht – und welche nicht? Hat wirklich jede:r Bürger:in einen effektiven Zugang zum Recht – oder gibt es ökonomische und strukturelle Barrieren bei der Inanspruchnahme der Rechtsinstitutionen?« (Wrase et al. 2021).

Unsere Beobachtung ist, dass es unterschiedliche, aber nachvollziehbare Gründe gibt, die in der Praxis dazu führen, den Gang zum Arbeitsgericht nicht zu wagen. Zwar bieten Arbeitsgerichte einen vereinfachten Zugang, denn es gibt keinen Anwaltszwang und eine mündliche Klageerfassung bei der Rechtsantragsstelle der Gerichte ist prinzi­piell möglich. Auch haben wir durchaus positive Erfahrungen mit Arbeitsgerichten und Rechtsantragsstellen gemacht, deren Mitarbeitende sich um Zugänglichkeit und Verständlichkeit bemühen. Trotzdem hängen die Zugangsmöglichkeiten von den individuellen Ressourcen und der ökonomischen wie rechtlichen Situation der Arbeiter:innen ab.

Prekarisierte Lebenslagen als Grund für die Entscheidung gegen eine Klage

Lohnabhängige, insbesondere im Niedriglohnsektor, sind auf die pünktliche und vollständige Auszahlung ihres Lohns angewiesen, um für ihre täglichen und monatlichen Lebensunterhaltskosten aufkommen zu können. Wenn der Lohn ausbleibt oder unvollständig ausgezahlt wird, kann dies Arbeiter:innen und ihre Familien in existenzielle Krisen stürzen. Prekär Beschäftigte haben daher kaum Kapazitäten, sich mit der Einforderung ihrer Löhne, die sich teils über Monate hinziehen kann, zu befassen. Sie müssen ihre Energie darauf konzentrieren, zeitnah eine neue und auskömmliche Beschäftigung zu finden. Für viele Migrant:innen und Geflüchtete stehen zudem die Sicherung und Verstetigung eines dauerhaften Aufenthalts in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

Neben dem hohen Zeitaufwand und der psychischen Belastung kann auch die finanzielle Belastung durch ein arbeitsrechtliches Verfahren hoch und von Beginn an nicht absehbar sein. Prekär Beschäftigte haben aber in der Regel keine Rücklagen, um ein aufwendiges und Kosten erzeugendes Verfahren zu führen. Jede/r Verfahrensbeteiligte trägt die Kosten der eigenen Anwält:in in der Güteverhandlung selbst. Zwar besteht bei geringen Einkünften die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe in Anspruch zu nehmen, diese ist allerdings zurückzuerstatten, wenn in den darauffolgenden vier Jahren das Einkommen steigt. Bei Klagen migrantischer Beschäftigter, die nicht fließend Deutsch sprechen, wird zur Verständigung während einer Verhandlung die Anwesenheit eine:r Dolmet­scher:in benötigt, deren Honorar sich derzeit auf 85 Euro pro Stunde beläuft. Diese Dolmetscherkosten werden bei einem Vergleich in der Güteverhandlung zumeist zur Hälfte der Kläger:in und zur Hälfte der Beklagten auferlegt.

Der mit Gerichtsprozessen verbundene Aufwand und die finanzielle Belastung werden häufig nicht hinreichend durch die potentiellen Ergebnisse des Gerichtsverfahrens wettgemacht. Vor dem Arbeitsgericht bekommen die Kläger:innen im allerbesten Fall nur das, was der Arbeitgeber hätte leisten müssen. Richter:innen streben zur Beschleunigung eines Verfahrens in einer Güteverhandlung einen Vergleich, also eine gütliche Einigung, an. Der Gesetzgeber schafft außerdem Anreize für den Abschluss eines Vergleichs, indem er Anwält:innen eine Vergleichsgebühr in Aussicht stellt. Unserer Erfahrung nach unterbreiten Richter:innen, deren individuelles Vorgehen in der Praxis sehr unterschiedlich ist, nicht selten die Hälfte der geforderten Summe als Vergleichsvorschlag, insbesondere wenn die Arbeite­r:innen den Umfang der geleisteten Arbeitsstunden nicht ausreichend dokumentieren und nachweisen können. Sollten die Kläger:innen vor Gericht Recht bekommen, so stellt sich in einem weiteren Schritt noch die Frage, ob die Arbeitgeber:innen zahlungsfähig und zahlungsbereit sind. Ist dies nicht der Fall, so hat das Urteil nicht zur Folge, dass die Ratsuchenden zu ihrem Geld kommen. Im weiteren Verlauf müssen sie ggf. noch Kosten für die Zwangsvollstreckung in Form eines Gerichtsvollziehers tragen, da sie hier einen Vorschuss leisten müssen. Vielleicht haben sie auch eine anwaltliche Vertretung beauftragt, wodurch sie zusätzliche Kosten riskieren.

Für undokumentierte Beschäftigte oder Arbeiter:innen ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis besteht nicht zuletzt die Gefahr, selbst ein Bußgeld auferlegt zu bekommen, und die Angst steht im Raum, dass Kenntnisse über einen illegalisierten Aufenthalt an die Ausländerbehörden gemeldet werden. Tatsächlich besteht darüber aber eine Übermittlungspflicht der Arbeitsgerichte an die Ausländerbehörde, über die in der Beratung aufgeklärt werden muss, sowie das Risiko der Ermittlungen durch den Zoll gegen die Beschäftigten wegen nicht abgeführter Sozialabgaben (vgl. Kamp 2020, 203). Eine solche Meldung, zu der Behörden in der Regel nach §87 AufenthG verpflichtet sind, können wiederum Beschäftigungsverbote, Beendigung von Aufenthaltstiteln und Abschiebungen zur Folge haben. Daher müsste es hier (wie beispielsweise im Gesundheitsbereich) eine Ausnahme von der Meldepflicht für Arbeitsgerichte geben. Nicht zuletzt wäre es für undokumentierte Beschäftigte wichtig Arbeitsrechte auch indirekt geltend machen zu können, wie zum Beispiel durch ein Verbandsklagerecht[1] für Gewerkschaften, arbeitnehmer- oder gewerkschaftsnahe Vereine oder Beratungsstellen.

Einige sozialrechtliche Regelungen sind der Entscheidung von Arbeiter:innen für den Gang zum Arbeitsgericht nicht zuträglich. Einfluss haben Einkommensanrechnungsregelungen des SGB II, die sich unmittelbar auf die Frage auswirken, ob Arbeiter:innen ihre ausstehenden Löhne beim Arbeitsgericht einklagen: Sollten Klagende nach der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses erfolgreich ihren Lohn beim Arbeitsgericht einklagen, so rechnet ihnen in der Folge das Jobcenter oder das Sozialamt nach dem so genannten »Zuflussprinzip« dieses Geld als Einkommen im laufenden Monat an. Dem/der Klagenden, der/die womöglich durch den ausgefallenen Lohn Schulden gemacht hat, stehen die eingeklagten Gelder somit, auch wenn sie sich auf die Vergangenheit beziehen, nicht mehr zur Verfügung. Das Zuflussprinzip verringert also unmittelbar eine möglicherweise vorhandene Motivation zu klagen.

Monika Fijarczyk vom Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit (BEMA) problematisiert darüber hinaus den Übergang der Ansprüche des/der Arbeite­r:in gegen den/die Arbeitgeber:in auf das Jobcenter entsprechend § 115 SGB X. Dieser führt dazu, dass ein:e Arbeitende:r fortan nicht mehr Gläubiger:in der Lohnansprüche in Höhe der erbrachten Leistungen ist (hierfür bräuchte sie/er eine Vollmacht des Jobcenters). Die Entscheidung für oder gegen eine Klage liegt nun in der Hand der Jobcenter: Eine Information darüber, in welcher Häufigkeit Jobcenter nach einem Anspruchsübergang ausstehende Löhne gegenüber dem/der Arbeitgeber:in einklagen, liegt uns nicht vor. Wir können nur vermuten, dass es in vielen Fällen nicht zu einer weiteren Verfolgung der Ansprüche des Jobcenters gegenüber dem/der Arbeitgeber:in kommt.

Barrieren beim Zugang zu Arbeitsgerichten

Der vor einem Jahr getroffene Beschluss, im Land Brandenburg Arbeitsgerichte zu schließen ‒ ein Vorhaben, das parallel zu einer Medienberichterstattung verläuft, die eklatante Arbeitsrechtsverletzungen thematisiert ‒ spricht dafür, dass es zum einen an Repräsentanz der Perspektive prekärer und migrantischer Arbeiter:innen fehlt. Zum anderen mangelt es an einer tatsächlichen Inanspruchnahme von Arbeitsrechten und somit sozialen Menschenrechten. Denn es geht in der Regel um die Durchsetzung von existenzsichernden Mindestlohnansprüchen. Arbeitsgerichte sind kein Luxus, sondern eine Institution zur Sicherung von Rechtsansprüchen. Wie Wrase et al. argumentieren, kann »eine sozial besonders ungleiche Inanspruchnahme des formellen Justizsystems durchaus als Indiz für eine Verletzung des Rechts auf gleichen Rechtszugang« verstanden werden, die insbesondere eingewanderte und nicht-weiße Personen betrifft. Sie verweisen dementsprechend auf die Erfordernis, der »Inanspruchnahme von Recht durch von Rassismus betroffene Personen in Deutschland empirisch« nachzugehen (2021).

Wenn die Rechtsantragsstellen der Arbeitsgerichte verkürzte Öffnungszeiten anbieten, räumlich weiter entfernt liegen und ihren Angestellten weniger Zeit für die Entgegennahme von Klageanträgen zur Verfügung steht, zugleich noch keine einfach zu bedienenden digitalen Tools zur Klageer­hebung bereitstehen, erschwert dies für prekär Beschäftigte, im besonderen Maße Pendler:innen, den Zugang erheblich. Dazu kommt, dass der Zugang zu den Arbeitsgerichten für Beschäftigte, die nicht fließend Deutsch sprechen, erschwert ist. Unserer Erfahrung nach gibt es keine Rechtsantragsstelle in Brandenburg, die Informationen über das arbeitsgerichtliche Verfahren in anderen Sprachen bereithält oder die Dienste von Dolmetscher:innen in Anspruch nimmt; und es kommt vor, dass Antragstellende mit Verweis auf ihre zu geringen Deutschkenntnisse in der Rechtsantragsstelle abgewiesen werden. Dieses Problem der Verständlichkeit der juristischen und bürokratischen Sprache stellt sich auch für Muttersprachler:innen, die Antragsformulare ausfüllen und Ansprüche beziffern müssen. Die Mitarbeiter:innen der Rechtsantragsstellen sind darauf angewiesen, dass Klageanträge eindeutig und unter der Berücksichtigung aller Ansprüche formuliert sind. Die genaue Bezifferung der Ansprüche erweist sich jedoch oft als schwierig, da allgemeinverbindliche und tarifvertragliche Regelungen, die unter Umständen greifen, oft unbekannt sind, die Dokumentation der Arbeitszeit nicht durchgängig geführt oder den Beschäftigten nicht zur Ver­fügung gestellt wurde und der zeitliche Handlungsspielraum durch verkürzte Ausschlussfristen von Ansprüchen verringert wird. Zudem existiert kein flächendeckendes, an prekären Arbeitsbedingungen orientiertes Angebot an Aufklärung über Arbeitsrechte, arbeitsrechtlicher Beratung und Unterstützung im arbeitsrechtlichen Ver­fahren.

Als arbeitsrechtliche Beraterinnen für geflüchtete, migrantische, mobile und zumeist prekär Beschäftigte erleben wir, wie sich der aufenthaltsrechtliche und der gesellschaftliche Status von Migrant:innen auf die Beziehung zwischen Arbeitgeber:in und Arbeite­r:in zu Ungunsten von Arbeitenden auswirkt. So beobachten wir auf der einen Seite, dass migrantische Beschäftigte bezweifeln, ob sie vor Gericht Erfolg haben werden und ob der Gang zum Arbeitsgericht sich nicht negativ auf ihre Bleibeperspektive in Deutschland auswirke. Auf der anderen Seite sehen wir uns immer wieder mit einer Haltung von Arbeitgebern konfrontiert, die ihr fehlendes Unrechtsbewusstsein gegenüber den von ihnen verübten Rechtsverletzungen offenlegt. So behaupten Arbeitgeber:innen vielfach, sie hätten »ihren« migrantischen Beschäftigten einen Gefallen getan, indem sie ihnen Arbeit gegeben hätten. Einige Arbeitgeber:innen rechtfertigen ihre Ausbeutung von Arbeitskräften, indem sie eine Täter-Opfer-Umkehr vornehmen und sich selbst als Wohltäte­r:in­nen darstellen. In dieser Logik greifen sie argumentativ nicht nur auf eine gesellschaftlich verbreitete Annahme zurück, der zufolge Rechtsverletzungen an Migrant:innen weniger schwer wiegen, sondern auch auf ein verbreitetes sozialpolitisches Verständnis, nach dem die Arbeitsmarktintegration von Mi­grant:innen und Geflüchteten ‒ insbesondere seit dem langen Sommer der Migration 2015 ‒ die höchste Priorität habe (Löw 2021). Im Sinne von »Arbeit um jeden Preis« treten die tatsächlichen Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechte in den Hintergrund (Basisdemokratische Linke Göttingen 2017).

Migrant:innen und Geflüchtete werden zwar auch in Deutschland zunehmend als Arbeiter:innen und als potentielle Fachkräfte angesprochen, aber gleichzeitig auf stratifizierte Weise in bestehende Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt eingeschlossen. Mez­zadra und Neilson (2013) sprechen dies­bezüglich von »differenzieller Inklusion«. Insbesondere in den wechselhaften und unvorhersehbaren Arbeitsprozessen von Leiharbeitenden, einer Branche, in der Geflüchtete überproportional repräsentiert sind (Berlin-Institut 2019), stellen wir immer wieder eine Vielzahl an fragmentierten und ungleichen Bedingungen fest: Dies betrifft die Erreichbarkeit der Arbeitsorte, Anfahrtswege, Arbeitszeiten bzw. Einsatzzeiten und die Häufigkeit der Einsätze. Dies ist insbesondere für Menschen, die in schlecht angebundenen Unterkünften leben, nebenher noch einen Deutschkurs besuchen oder andere reproduktive Verpflichtungen haben, schwierig zu organisieren. Der Umgang mit prekären und ungleichen Arbeitsbedingungen kann nicht verstanden werden, wenn nicht weitere Lebensumstände betrachtet werden: Neuzugezogene Arbeitende sorgen sich nicht nur um ihr Arbeitsverhältnis und ihre Arbeitsmarktteilhabe, sondern auch um ihre Bildung und deren Anerkennung, ihre sozialrechtliche ­Situation, ihren Aufenthaltstitel, ihre Wohnbedingung, ihre Gesundheit und so weiter. Prekaritäten in all diesen Lebensbereichen hängen zusammen, müssen gegeneinander abgewogen werden und damit fallen auch Entscheidungen darüber, welche Rechte und Verbesserungen angestrebt und erkämpft werden und welche zunächst in den Hintergrund treten.

Perspektiven für eine Öffnung der Arbeitsgerichte

Die Zahl nicht-deutscher Staatsangehöriger in Brandenburg hat sich seit 2012 verdoppelt und belief sich 2019 auf 132.000 Menschen (Höhne u. Porep 2021, 12). Insbesondere in der Logistikbranche und in weiteren Dienstleistungsbereichen (allem voran in der Leiharbeit) haben die Bedeutung und die Anzahl migrantischer Beschäftigter stark zugenommen (ebd., 27). Sie alle haben ein Recht auf Schutz ihrer Arbeitsrechte, denn Arbeitsgesetze unterscheiden nicht nach Herkunft. Die beschriebenen sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse wirken sich jedoch in direkter Weise darauf aus, in welchem Umfang, mit welchen Mitteln und schließlich mit welchem Erfolg Arbeitsrechte erstritten werden.

Wir wünschen uns eindeutige Bekenntnisse durch politische Vertreter:innen, dass Arbeitsrechte für alle gelten, unabhängig von der Herkunft – eine Haltung, die gelebt, aktiv unterstützt und (infra)strukturell unterfüttert werden muss. Es bedarf öffentlicher Institutionen, die diese Rechte sicherstellen. Vertreter:innen der Politik sind gefordert, die Zugänge und die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen, so auch von Arbeitsgerichten, zu garantieren und Rechtssicherheit herzustellen. Dies gilt vor allem für migran­tische und prekär Beschäftigte. Sie sind im besonderen Maße auf die Dienste der Arbeitsgerichte sowie deren Zugänglichkeit angewiesen.

Der Weg zum Arbeitsgericht, also die Inanspruchnahme individueller zivilrechtlicher Mittel, eröffnet Beschäftigten die Möglichkeit, trotz ihrer Abhängigkeiten von dem/der Arbeitgeber:in ihre Rechte durchzusetzen, denn außerhalb der Arbeitsgerichtsbarkeit fehlt es an staatlichen Institutionen, die die Einhaltung der Arbeitsrechte nicht nur effektiv kontrollieren, sondern auch individuelle Ansprüche verfolgen. Der in Deutschland für die Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zuständige Zoll hat bedauerlicherweise dadurch, dass er zugleich für die Bekämpfung von sogenannter »Schwarzarbeit« zuständig ist, eine Doppelrolle, durch die Arbeitnehmende zugleich als Opfer wie auch als Beschuldigte wahrgenommen werden. Es gibt in Deutschland im Fall arbeitsrechtlicher Verstöße keine behördlichen Beschwerdestellen oder Arbeitsinspektionen, die Arbeitende bei der Einforderung ihrer Lohnansprüche unterstützten.

Von erfolgten Klagen und Kämpfen

Als Beraterinnen von prekären und migran­tischen Beschäftigten freuen wir uns, wenn diese nach Rechtsverletzungen den Willen aufbringen, vor einem Arbeitsgericht zu klagen. Was motiviert die Betroffenen, trotz der oben erwähnten Hürden vor das Arbeitsgericht zu ziehen?

Einige Ratsuchende erhoffen sich durch ein arbeitsgerichtliches Verfahren eine Wiedergutmachung, die ihnen nicht nur aus finanziellen Gründen wichtig ist. Sie möchten Recht bekommen und Gerechtigkeit erfahren, wo ihnen Unrecht angetan worden ist, und sie verlassen sich dabei auf eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit. Häufig liegt der Entscheidung der Ratsuchenden aber auch ein solidarischer Bezug zu anderen prekären und migrantischen Arbeitenden zu Grunde. So artikulieren sie ihre Hoffnung, den/die Arbeitgeber:in davon abzuhalten, zukünftig andere Menschen auszubeuten, indem sie mit einem positiven Beispiel vorangehen.

Dies zeigte sich im Falle eines geflüchteten Ratsuchenden, der seit einigen Jahren in Ostbrandenburg lebt und als Paketzusteller für einen Subunternehmer eines großen ­Logistikunternehmens beschäftigt war. Er wandte sich an uns, da ihm von seinem ­letzten Monatslohn von 1.000 Euro netto knapp die Hälfte abgezogen worden war. Begründet wurde dies mit verloren gegangenen Paketen, deren Verlust dem Paketzusteller allerdings nicht bekannt war. Nachdem der Arbeitgeber sich nicht an einer Einigung interessiert zeigte, informierten wir den Ratsuchenden über die Möglichkeit einer Zahlungsklage. Der Arbeiter, der über einen gesicherten Aufenthaltstitel verfügt und sich nicht unterstellen lassen wollte, er habe seine Arbeit nicht gewissenhaft erledigt, entschied sich zur Klage mit der Begründung, dass das ihm Erfahrene bei diesem Arbeitgeber System habe. Denn wie er beteuerte und ihm auch das Jobcenter bestätigt habe, sei dies zuvor anderen Kolleg:innen widerfahren und werde wieder geschehen. Auch als wir ihn darüber aufklärten, dass der Betrag, den er vor dem Arbeitsgericht erkämpfen könnte, dem sogenannten »Zuflussprinzip« nach von seinen Sozialleistungen beim Jobcenter abgezogen werde, erklärte er, es ginge ihm ums Prinzip und nicht ums Geld. Er lehnte den ungünstigen Vergleichsvorschlag des Richters ab und erstritt ohne anwaltliche Vertretung die volle Summe zurück. In der Folge kontaktierten uns weitere Beschäftigte desselben Arbeitgebers, die sich offensichtlich durch den erfolgten erfolgreichen Rechtskampf ermutigt sahen.

Praktische Konsequenz: Ausbau von institutionellen Zugängen

Unsere Überlegungen in diesem Beitrag beruhen auf Erfahrungswerten aus der Beratungspraxis, nicht jedoch auf empirischen Untersuchungen über den Zugang zu Gerichten, deren Mangel auch Wrase et al. (2021) beklagen. Wir meinen, dass die effektiven Zugänge von marginalisierten Personengruppen zu den Arbeitsgerichten in Deutschland systematisch und empirisch untersucht werden sollten. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen zur »Responsivität«, also der Bereitschaft oder Fähigkeit der Arbeitsgerichte, die Lebensrealität marginalisierter Menschen im Klageverfahren zu berücksichtigen (vgl. Wrase et al. 2021), sollten praxisnahe Konzepte entwickelt und implementiert werden, damit Zugänge zu den Arbeitsgerichten verbessert werden. Auch qualitativ sollte der Frage nachgegangen werden, bei welchen Rechtsverletzungen es gemessen an der tatsächlichen Häufigkeit bei prekären und migrantischen Beschäftigten zu Klagen kommt und wo nicht. Die Fachanwältin für Arbeitsrecht Manuela Kamp (2020) beispielsweise lenkt ein Augenmerk darauf, dass Klagen, die über typische Lohnklagen hinausgehen, etwa im Bereich des Arbeitsschutzes und des Schutzes vor Diskriminierung am Arbeitsplatz, in der Praxis selten erhoben werden, und somit Lücken entstehen, in denen es trotz vorhandener Gesetze an Rechtssicherheit fehlt.

Entsprechend dem Grundsatz »Wissen schützt« wünschen wir uns eine flächendeckende mehrsprachige Verbreitung von Informationen über Arbeitsrechte und Arbeitsgerichtsverfahren, über die nach wie vor viel Unkenntnis herrscht. Um Arbeitsrechte praktisch werden zu lassen, sollten (Infra-)Strukturen der Unterstützung für den Zugang zum Arbeitsgericht geschaffen werden. Diese sollten so gestaltet und ausgestattet werden, dass sie eine gerechte Verfügbarmachung von Ressourcen trotz ungleicher Ausgangslagen und prekärer Lebensbedingungen ermöglichen. Für eine »interkulturelle Öffnung«, die der Heterogenität der Gesellschaft entspricht, erachten wir insbesondere die sprachliche Öffnung der Arbeitsgerichte als unerlässlich: Klageformulare und Informationsmaterialien sollten mehrsprachig sowie in einfacher Sprache verfasst werden. Es sollten Dolmetscherdienste hinzugezogen werden oder Mitarbeitende in den Rechtsantragsstellen eingestellt werden, die über weitere Sprachkenntnisse verfügen, z.B. Arabisch, Englisch, Farsi und Polnisch. Schließlich sollten Mitarbeiter:innen, Rich­ter:innen und politische Entscheidungs­trä­ger:innen genügend für die Lage von prekär beschäftigten migrantischen Arbeitenden sensibilisiert sein, um nicht zu riskieren, weitere Hürden auf dem Weg zu Gerechtigkeit zu errichten. Ein gleichberechtigter ­Zugang von zugewanderten sowie nach Deutschland pendelnden Antragstelle­r:innen bei Arbeitsgerichten setzt voraus, dass Zugangsbarrieren abgebaut und die Auswirkungen von Prekarität und strukturellem Rassismus berücksichtigt werden.

Artikel von Mouna Maaroufi und Maria Seidel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 6/2022

*  Mouna Maaroufi hat in den letzten sechs Jahren bei der Fachstelle Migration und Gute Arbeit Brandenburg, einer arbeitsrechtlichen Beratungsstelle, gearbeitet und zur umkämpften Vermittlung von Geflüchteten in Ausbildung und Leiharbeit promoviert. Seit diesem Jahr ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg beschäftigt. Kontakt: Mouna.maaroufi@uni-hamburg.de

Maria Seidel, Sozialarbeiterin und Soziologin, arbeitet seit drei Jahren im Team der Fachstelle Migration und Gute Arbeit Brandenburg. Sie berät, informiert und unterstützt zugewanderte Menschen zu arbeitsrechtlichen Themen. Kontakt: seidel@berlin.arbeitundleben.de

Literatur

  • Basisdemokratische Linke Göttingen (2017): Arbeit um jeden Preis. Das »Integrationsgesetz« soll Kontrolle und Verwertbarkeit migrantischer Arbeitskraft verbessern, in: Sozial. Geschichte Online, Nr. 20.
  • Berlin-Institut (2019): Von individuellen und institutionellen Hürden. Der lange Weg zur Arbeitsmarktinte­gration Geflüchteter, Discussion Paper Nr. 23, hg v. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Berlin.
  • Brücker, Herbert/Fendel, Tanja/Guichard, Lucas/Gundacker, Lidwina/Jaschke, Philipp/Keita, Sekou/Kosyakova, Yuliya/Vallizadeh, Ehsan (2020): Fünf Jahre »Wir schaffen das«. Eine Bilanz aus der Perspektive des Arbeitsmarktes, IAB-Forschungsbericht, Nr. 11/2020, online unter: http://doku.iab.de/forschungsbericht/2020/fb1120.pdf externer Link
  • Höhne, Markus/Porep, Daniel (2021): Die Bedeutung von internationalen Arbeits- und Fachkräften für den Brandenburger Arbeitsmarkt. Wirtschaftsförderung Land Brandenburg.
  • Kamp, Manuela (2020): Arbeitsrechtliche Ansprüche der Betroffenen von Arbeitsausbeutung und praktische Durchsetzung, in: »Menschenhandel in Deutschland – Rechte und Schutz für Betroffene«, hg. von: Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e. V., S. 197-207
  • Löw, Neva (2021): Arbeitskämpfe im Migrationsregime nach 2015. In: Sonja Buckel, Laura Graf, Judith Kopp, Neva Löw und Maximilian Pichl (Hg.): Der lange Sommer der Migration als ein Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe, S. 159–186.
  • Markus Höhne/Daniel Pore (2021): Die Bedeutung von internationalen Arbeits- und Fachkräften für den Brandenburger Arbeitsmarkt, online unter: http://fis-brandenburg.de/media/1258/wfbb:internationale-arbeits-und-fachkraefte-in-brandenburg.pdf externer Link
  • Mezzadra, Sandro/Neilson, Brett (2013): Border as method, or, the multiplication of labor, Durham NC: Duke University Press.
  • Open Petition, ver.di fordert den Erhalt der Arbeitsgerichte in Brandenburg! https://www.openpetition.de/petition/online/ver-di-fordert-den-erhalt-der-arbeitsgerichte-in-brandenburg externer Link
  • Wrase, Michael/Thies, Leonie/Behr, Johanna/Stegemann, Tim externer Link (2021): Gleicher Zugang zum Recht: (Menschen-)Rechtlicher Anspruch und Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Jg. 71, Nr. 37, S. 48-54

Anmerkung:

1  Ein Verbandsklagerecht besteht im deutschen Recht für das Verbraucher-, Wettbewerbs- und Umweltrecht, aber im Sozialrecht nur im geringen Ausmaß und im Arbeitsrecht nur, wenn Rechtsverletzungen gegen das AGG (Allgemeine Gleichstellungsgesetz) oder gegen Tarifverträge verstoßen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=201893
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