Es sind zuerst Geflüchtete: Es ist jetzt nicht die Aufgabe von Ukrainer*innen, den deutschen Fachkräftemangel zu beheben

Dossier

Tradition: "Ausländer" auf dem deutschen Arbeitsmarkt„Das war’s mit dem Fachkräftemangel. Problem gelöst. Mehr als 280.000 Menschen sind aus der Ukraine bislang nach Deutschland gekommen, und innerhalb nur weniger Tage nach Ausbruch der Kriegshandlungen listete die Webseite „Job Aid Ukraine“ mehrere Tausend Stellenangebote für Geflüchtete. Es ist bizarr, wie erwartungsvoll manch eine*r in Wirtschaft und Politik auf die Menschen schaut, die vor wenigen Tagen erst alles verloren haben. Deren Familien mitunter noch im Kriegsgebiet ausharren oder an der Front kämpfen. Diese Menschen brauchen gerade Unterstützung, weil sie vor einem Krieg geflohen sind, und nicht, weil sie der deutschen Wirtschaft nützen. (…) Es ist nicht die Aufgabe ukrainischer Geflüchteter, den deutschen Fachkräftemangel zu beheben. Doch es ist die Aufgabe Deutschlands, ihnen hier einen guten Ort zum Ankommen zu bieten. Dafür braucht es Weitsicht.“ Kommentar von Dinah Riese vom 31. März 2022 in der taz online externer Link – der DGB „fordert, sie möglichst unkompliziert und schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren“ externer Link und dazu:

  • „Das gibt Ihnen nicht das Recht, mich so zu behandeln“ –  viele Ukrainer*innen haben inzwischen einen Job. Aber unter welchen Bedingungen? New
    „… Den Rücken durchgedrückt, die Hände flirrend in der Luft – bereit, das nächste Wort zu ergreifen: Yulian Sheremeta spricht auf einer geblümten Couch wie ein Mann, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Ein Vater von fünf Kindern. Einer, der sich durchsetzen kann. Am deutschen Arbeitsmarkt scheint sich der Ukrainer die Zähne auszubeißen. (…) Er legt den Kopf schräg, wenn man fragt, wie es ihm bisher bei der Arbeit ergangen sei: „Wie soll es mir schon gehen … bescheiden.“ Das andere Wort mit „b“ wolle er lieber nicht in den Mund nehmen. Hinter ihm hat jemand ein Kruzifix an die Wand genagelt. In der Ukraine hat Yulian Sheremeta, 43 Jahre alt, einen Magister in Philosophie und Theologie, hier verlegte er Böden. „Wenn man die Sprache noch nicht kann, dann muss man eben mit dem Körper arbeiten“, sagt er. Jede Arbeit könne eine gute sein, wenn man denn gut behandelt wird. Über ebay Kleinanzeigen fand Sheremeta im vergangenen Herbst einen Job in einem Handwerksbetrieb. Gut lief es dort nicht für ihn. Sein Arbeitgeber habe sich nicht an Vereinbarungen gehalten, ihn nicht ausreichend bezahlt. Zur Kündigung sei er durch den Chef gedrängt worden. (…) Statistisch gesehen wollen vier von fünf Ukrainer*innen gerne arbeiten. Etwa 21 Prozent haben es laut der Bundesagentur für Arbeit bis Ende 2023 geschafft, einen Job zu finden: 113.000 haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland gefunden und 36.000 einen Minijob. Arbeit ist jedoch nicht gleich Arbeit: Viele sind hoch qualifiziert, haben studiert. Die Anerkennung der Abschlüsse ist langwierig. Wer gleich arbeiten will, probiert es anders: im Niedriglohnsektor. So wie Yulian Sheremeta. Die Gefahr, ausgebeutet zu werden, ist hier besonders hoch. (…) Das Nachsehen hatte immer wieder Sheremeta, so findet er. Währenddessen profitierte der Chef weiter: Er erhielt einen Eingliederungszuschuss für die Beschäftigung Sheremetas und zahlte so weniger als die Hälfte des Lohnes aus eigener Tasche. Der Ukrainer: eine günstige Arbeitskraft. Sheremeta reicht es kurz vor Weihnachten 2023. (…) Sergey Sabelnikov sitzt an einem weißen Tisch. Er berät migrantische Beschäftigte zu ihren Rechten in Deutschland. Als einer von wenigen spricht er auch Russisch. Hier sammeln sich die Fälle von Ukrainer*innen, die von Arbeitsausbeutung und Missständen im Job berichten: 220 Ratsuchende stammten 2023 aus der Ukraine. Ein Drittel aller Anfragen am Standort Mainz. Was Sheremeta dem Freitag gegenüber schildert, hat er auch dem IQ Service Faire Integration gegenüber vorgebracht. „Ich erinnere mich an diesen Fall“, sagt Sergey Sabelnikov, auf Yulian Sheremeta angesprochen. „Es ging um nicht bezahlten Lohn, Urlaubsansprüche und eine Kündigung.“ Schmale, randlose Brille und rostroter Pullover. „Ein typischer Fall“, ergänzt Sabelnikov. Bundesweit tauchen in der Statistik von Faire Integration immer wieder dieselben Themen und Konflikte bei ukrainischen Ratsuchenden auf. Der Berater ist sich sicher: Das hat System…“ Artikel von Olivia Samnick aus ‚der Freitag‘ 15/2024 vom 10.04.2024 externer Link
  • „Job-Turbo“: Geflüchtete UkrainerInnen sollen Arbeitsangebote annehmen – müssen 
    Die Bundesregierung will Druck auf die Jobcenter machen, damit sie Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Arbeit bringen. Wer ein Jobangebot ablehnt, soll mit Leistungskürzung sanktioniert werden. BA-Chefin Nahles appelliert an die Arbeitgeber, es auch mit Fachkräften zu versuchen, die noch nicht so gut Deutsch können.
    Die Bundesregierung will Geflüchtete schneller in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) stellte am Mittwoch gemeinsam mit der Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles, ein Programm externer Link vor, das sich vor allem an Ukrainerinnen und Ukrainer richtet. Als Sonderbeauftragter für die Umsetzung soll BA-Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach berufen werden. Nach dem aktuellen Migrationsbericht der Malteser war 2023 von den erwerbsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland ein knappes Viertel erwerbstätig. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine durchlaufen nicht das Asylverfahren, sondern haben sofort Zugang zu Jobs. Es fehlt aber in der Regel an deutschen Sprachkenntnissen. Die Initiative von Heil und der BA richtet sich an die Geflüchteten, die bereits Sprachkurse absolviert haben. Heil zufolge handelt es sich um 200.000 Ukrainer und 200.000 Menschen aus anderen Herkunftsländern. Weitere 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainer kämen in den kommenden Monaten hinzu.
    Arbeitsangebot muss angenommen werden
    Die Jobcenter sollen Geflüchtete mit Sprachniveau B1 oder A2 künftig grundsätzlich in Arbeit vermitteln. Dafür sollen diese im Abstand von sechs Wochen angesprochen werden. Die Arbeitsangebote müssten angenommen werden, betonte Heil. Bei mangelnder Kooperation könnten die Leistungen gemindert werden. Die Menschen sollten Arbeitserfahrungen sammeln und eigene berufliche Qualifikationen einbringen können. „Wir erwarten auch eigene Anstrengungen“, sagte Heil. Die Sozialpartner will Heil bei einem Spitzentreffen von Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertretern am 20. November ins Boot holen…“ Meldung vom 18.10.2023 im Migazin externer Link (ohne Gender)

  • Geflüchtete Ukrainerinnen: Arbeiten für wenige Euro 
    Mehr als eine Million Menschen sind aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, vor allem Frauen und Kinder. NDR-Recherchen zeigen, dass diese immer wieder von Arbeitsvermittlern ausgebeutet werden. (…) Viele Agenturen arbeiteten gezielt mit der Unwissenheit der Ukrainerinnen: „Die Vermittlungsagenturen haben diese Situationen ausgenutzt, dass die Frauen wenig über das Aufenthaltsrecht oder das Arbeitsrecht in Deutschland wissen.“ Den Frauen werde oft erzählt, die Arbeit in Deutschland sei legal. Dabei ist sie das oft nur, wenn die Frauen als Geflüchtete hier sind und einen deutschen Arbeitsvertrag haben…“ Beitrag von Lennart Banholzer, NDR, vom 09.05.2023 in tagesschau.de externer Link mit einigen Einzelfällen
  • [Szabolcs Sepsi, Faire Mobilität] Keine Dumpinglöhne für Geflüchtete
    Anstatt Geflüchteten eine Aussicht auf faire Arbeitsbedingungen zu bieten, versuchen deutsche Arbeitgeber, sie für die prekärsten Jobs in der Logistik, Pflege und Landwirtschaft zu rekrutieren. Das ist schäbig und verantwortungslos.
    Die Arbeitsbedingungen für Saisonarbeitskräfte in der Erntehilfe sind oft miserabel – das ist bekannt. Geändert hat sich wenig. (…) Deutschland erlebt ein böses Erwachen in der außenpolitischen Realität und ist gezwungen, seine Verteidigungspolitik neu auszurichten. Alte Reflexe bleiben freilich erhalten. Hat da jemand »Flüchtlingskrise« gesagt? In der vierten Kriegswoche lieferte sich die deutsche Wirtschaft an der polnisch-ukrainischen Grenze schon mal einen Wettlauf um die neue Humanressource. Deutschlands rasende Honorarbotschafter hielten direkt vor Ort Ausschau nach verwertbaren Skills und schoben den erschöpften Frauen in den Erstunterkünften Arbeitsverträge unter die Nase – nach dem Prinzip »Unterschreibst du hier, nehme ich dich mit«. Die Mitarbeitenden des Großschlachters Tönnies mussten allerdings unverrichteter Dinge wieder abreisen: Der miserable Ruf ihres Arbeitgebers eilte ihnen sogar bis dorthin voraus. Sie wurden von örtlichen Flüchtlingshelferinnen beschimpft und verjagt. Doch Tönnies soll nicht der einzige Arbeitgeber vor Ort gewesen sein. Derweil werden auf Vermittlungsportalen für ukrainische Geflüchtete nicht nur Programmier und Pflegekräfte rekrutiert, sondern auch Fahrradkuriere für Firmen wie zum Beispiel Gorillas, die jüngst mit schlechten Arbeitsbedingungen und aggressivem Union Busting auf sich aufmerksam machten.
    Keine Frage: Sicherlich gibt es auch viele Arbeitgeber, die ihre Angebote in erster Linie aus ehrlicher Hilfsbereitschaft unterbreiten. (…)
    Ukrainische Geflüchtete betonen in Gesprächen immer wieder, dass sie möglichst niemandem auf der Tasche liegen möchten. Denn vielen scheint auch klar zu sein, dass die vermeintlich großzügige Aufnahme von Geflüchteten schnell zum Feigenblatt werden könnte, sobald Westeuropa Waffenlieferungen und Sanktionen nicht mehr opportun erscheinen.
    Es gibt also in diesen Tagen wahrlich wichtigere Probleme als Arbeitsbedingungen und Ausbeutung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und trotzdem sollte uns nicht egal sein, wo und wie ukrainische Geflüchtete arbeiten werden, solange sie hier sind. Denn die Erfahrungen osteuropäischer oder geflüchteter Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind in der jüngeren Vergangenheit – sehr vorsichtig gesagt – nicht immer positiv ausgefallen.
    Die Pflege beklagt seit Jahren Personalmangel. Eine Lösung sieht die Branche aber offenbar weniger in besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen als in der Abwerbung ausländischer Fachkräfte, die offiziell als Hilfskräfte eingestellt, überarbeitet und mit dem Mindestlohn vergütet werden – oder noch nicht mal mit dem Mindestlohn. (…)
    Die Ernte erledigten in Deutschland jahrelang Frauen und Männer aus Polen, später vor allem aus Rumänien. Bezahlt wird der Knochenjob oft im Akkord, häufig unter dem Mindestlohn. Leider seien diese Bedingungen selbst für die Rumäninnen und Rumänen allmählich »unattraktiv« geworden, konstatierten Bauernvertreter in den letzten Jahren immer wieder. Die Lösung? Im Rahmen bilateraler Vermittlungsabkommen mit Georgien und der Ukraine wurde nun Personal aus noch ärmeren Ländern herangeschafft, um an den alten Arbeitsbedingungen nichts ändern zu müssen. (…)
    Der Bauboom des letzten Jahrzehnts wäre ohne osteuropäische Arbeitskräfte nicht möglich gewesen. Wer auf eine Baustelle fährt und die Leute in ihren Sprachen zu ihren Arbeitsbedingungen befragt, wird Berichte über Scheinselbständigkeit, Sub-Subunternehmerketten und Arbeitszeitmanipulationen zu hören bekommen. (…)
    Überhaupt hört man von mobilen Beschäftigten oft, sie hätten sich niemals vorstellen können, dass folgenlose Rechtsmissachtung in Deutschland in dem Umfang möglich sei, wie sie es selbst erlebt haben. (…)
    Geschichten über tägliche Ausbeutung könnte man noch beliebig viele erzählen. Sie sind schlimm, angesichts der täglichen Grausamkeiten in der Ukraine aber auch banal. Doch wenn heute wieder einmal beteuert wird, aus den Erfahrungen früherer Krisen zu lernen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass dieser verdammte Opportunismus, der Arbeit – ob auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in der Altenpflege – so billig wie möglich halten will, uns mittelfristig um die Ohren fliegen wird…“ Artikel von Szabolcs Sepsi vom 22.04.2022 bei Jacobin.de externer Link

  • [Bau, Landwirtschaft, Gebäudereinigung] „Keine Per-se-Jobs für 9,82 Euro“: IG BAU warnt vor Ausnutzung ukrainischer Kriegsflüchtlinge als billige Arbeitskräfte 
    Faire Arbeit statt prekäre Jobs: Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) warnt davor, ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland als günstige Arbeitskräfte auszunutzen. „Auf dem Bau, in der Landwirtschaft und in der Gebäudereinigung suchen Firmen händeringend nach Personal. Manche Chefs wollen die oft gut qualifizierten Geflüchteten lieber heute als morgen einstellen – aber oft zu schlechten Bedingungen. Wer etwa als Saisonkraft in der Landwirtschaft arbeitet, hat bis zu 70 Tage lang keinen Sozial- und Krankenversicherungsschutz. Nachdem die Arbeitgeberverbände den tariflichen Bau‑Mindestlohn gekippt haben, droht den Beschäftigten in der Branche aktuell ein Einkommen auf dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns. Für 9,82 Euro pro Stunde sollte sich aber keiner die fordernde Arbeit auf dem Bau gefallen lassen“, sagt IG BAU-Bundesvorsitzender Robert Feiger.
    Kein Unternehmen dürfe jetzt die Lage der Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, ausnutzen – ob auf der Baustelle, auf dem Spargelfeld oder in der Reinigungsfirma. „Beschäftigte zweiter Klasse darf es nicht geben“, betont Feiger. Wer vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sei und einen Job suche, solle sich über Arbeitsbedingungen, Bezahlung und die eigenen Rechte genau informieren und auf die Gewerkschaft zugehen. Hilfe böten außerdem die DGB-Beratungsstellen „Faire Mobilitätexterner Link – auch in ukrainischer Sprache.
    Zwar wisse niemand, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauere. Doch selbst wenn nur ein kleiner Teil der bislang über 340 000 nach Deutschland geflüchteten Ukrainer im Land bleibe, müssten jetzt die Weichen für eine „echte Integration am Arbeitsmarkt“ gestellt werden, so der Gewerkschaftschef. Eine wichtige Voraussetzung dafür sei die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse…“ Pressemitteilung vom 19.4.2022 der IG BAU externer Link

Siehe zum Thema im LabourNet auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=199370
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