Der koloniale Sozialstaat. Die gesetzliche Schaffung einer neuen migrantischen Unterklasse
„Im Zusammenspiel von Aufenthalts- und Sozialrecht hat die Gesetzgeberin ein brutales System der Disziplinierung und sozialen Exklusion für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit geschaffen. Die Corona-Krise bringt etwas an die Oberfläche, das schon seit Jahren und von langer Hand gesetzlich angelegt ist: Die strukturelle Verzahnung von Aufenthalts- und Sozialrecht sorgt dafür, dass nicht-deutsche Staatsangehörige immer häufiger von den Leistungen des deutschen Sozialstaats ausgeschlossen sind. Mehr noch: Durch Mitteilungs- und Informationspflichten unter den Behörden ist ein effektives System geschaffen worden, durch das vielen Betroffenen unmittelbar ihr Aufenthaltsstatus entzogen zu werden droht, sobald sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder einen Antrag auf Sozialleistungen stellen. Auf diese Weise wird eine neue migrantische Unterklasse geschaffen, die in hohem Maße von Ausbeutung bedroht ist und der ein menschenwürdiges Existenzminimum systematisch verweigert wird. Es ist dies die soziale Rechtlosstellung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die zu Verelendung und Schutzlosigkeit führt. Dies betrifft sowohl EU-Bürger:innen als auch in zunehmendem Maße Drittstaatsangehörige…“ Artikel von Claudius Voigt, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2021:
Der koloniale Sozialstaat
Die gesetzliche Schaffung einer neuen migrantischen Unterklasse – von Claudius Voigt*
Im Zusammenspiel von Aufenthalts- und Sozialrecht hat die Gesetzgeberin ein brutales System der Disziplinierung und sozialen Exklusion für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit geschaffen. Die Corona-Krise bringt etwas an die Oberfläche, das schon seit Jahren und von langer Hand gesetzlich angelegt ist: Die strukturelle Verzahnung von Aufenthalts- und Sozialrecht sorgt dafür, dass nicht-deutsche Staatsangehörige immer häufiger von den Leistungen des deutschen Sozialstaats ausgeschlossen sind. Mehr noch: Durch Mitteilungs- und Informationspflichten unter den Behörden ist ein effektives System geschaffen worden, durch das vielen Betroffenen unmittelbar ihr Aufenthaltsstatus entzogen zu werden droht, sobald sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder einen Antrag auf Sozialleistungen stellen. Auf diese Weise wird eine neue migrantische Unterklasse geschaffen, die in hohem Maße von Ausbeutung bedroht ist und der ein menschenwürdiges Existenzminimum systematisch verweigert wird. Es ist dies die soziale Rechtlosstellung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die zu Verelendung und Schutzlosigkeit führt.
Dies betrifft sowohl EU-Bürger:innen als auch in zunehmendem Maße Drittstaatsangehörige. Der bundesdeutsche Sozialstaat vollzieht unbemerkt eine regressive Entwicklung hin zu nationaler Abschottung. Diese hat eine fatale Wirksamkeit entlang bestehender Ungleichheitsverhältnisse: Betroffen sind insbesondere prekär Beschäftigte oder Arbeitslose. Sie wirkt überdies rassistisch, weil nur Personen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit davon betroffen sind. Und sie wirkt sexistisch, weil Frauen, die wegen Kindererziehung oder anderer Care-Arbeit keine Erwerbsarbeit ausüben können, besonders betroffen sind. Kurz: Es handelt sich um eine staatlich gewollte, intersektionale Diskriminierung.
Da ist zum Beispiel der Fall von Frau D. aus einer Stadt in Bayern: Sie ist bulgarische Staatsangehörige und im November 2019 nach Deutschland gekommen, um als Zimmermädchen zu arbeiten. Im Februar 2020 diagnostizierte man bei Frau D. ein metastasiertes Zervix-Karzinom – Gebärmutterhalskrebs in fortgeschrittenem Stadium. Danach konnte sie nicht mehr arbeiten und ihr Arbeitgeber hat sie zum 30. April 2020 gekündigt. Daraufhin hat sie Leistungen beim Jobcenter beantragt, die bis zum 31. Oktober 2020 bewilligt wurden. Der Weiterbewilligungsantrag wurde abgelehnt, Widerspruch wurde eingelegt und abgelehnt. Frau D. befindet sich derzeit für eine Chemotherapie-Behandlung in der Klinik. Sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, wird sie auf der Straße leben müssen, da sie keinerlei finanzielle Mittel zur Verfügung hat und das Jobcenter keine Leistungen mehr bewilligen wird.
Rechtlicher Hintergrund dieser Situation: EU-Bürger:innen haben nach Verlust ihres Arbeitsplatzes – jedenfalls, wenn die Arbeit weniger als ein Jahr ausgeübt worden war – nur für sechs Monate einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB II. Danach werden die Leistungen regelmäßig eingestellt. Eine Härtefallregelung aufgrund Corona gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Aussage einer Jobcenter-Mitarbeiterin bringt die aus der Gesetzeslage resultierende Grundhaltung auf den Punkt: »Momentan gilt wegen der Corona-Pandemie ein vereinfachter Zugang zu Hartz IV. Oder handelt es sich etwa um EU-Bürger? Dann ist es anders.«
Oder der Fall der 16-jährigen S., ebenfalls bulgarische Staatsangehörige in einer Kleinstadt in Hessen: Sie lebte seit Kindheitstagen bei ihren Großeltern in Bulgarien. Der Großvater war der Sorgeberechtigte. Zu ihren leiblichen Eltern hat sie keinen Kontakt. Die junge Frau wurde mit 15 Jahren ungeplant schwanger. Kurz danach verstarb unerwartet der geliebte Großvater. Die Großmutter war überfordert mit der Trauer und der Situation mit der schwangeren und ebenfalls trauernden Teenagerin, traute sich die Begleitung einer Minderjährigen und ihres Kindes nicht zu. Sie bat ihre in Deutschland lebende Schwester um Hilfe. Deren Tochter erklärte sich bereit, die Schwangere, die mittlerweile 16 Jahre alt ist, bei sich aufzunehmen.
Anfang Oktober 2020 wurde das Baby in Deutschland geboren. Kurz zuvor konnte die Großtante noch die Vormundschaft für die 16-jährige erwirken. Die Pflegetochter stellte im Oktober 2020 einen Antrag beim Jobcenter auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II. Dieser wurde abgelehnt, da sie sich in Deutschland »allein zum Zwecke der Arbeitssuche« aufhalte. Auch Kindergeld für das neugeborene Kind wurde abgelehnt, da die 16-jährige Mutter nicht erwerbstätig sei; ebenso Elterngeld und Unterhaltsvorschuss. Seit einem Vierteljahr lebt die 16-jährige mit ihrem neugeborenen Kind nun ohne jegliche Existenzsicherung und kann auch nur sehr eingeschränkt von der Großtante unterhalten werden, da diese selbst kaum Einkommen hat.
Auch hier ist der rechtliche Hintergrund eine Regelung im deutschen Sozialrecht, nach der ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nicht besteht, wenn kein anderes Aufenthaltsrecht als das der Arbeitssuche besteht. Dass es einigermaßen absurd ist, von einer 16-jährigen jungen Frau mit einem gerade geborenen Kind die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verlangen, damit das Existenzminimum sichergestellt wird, liegt auf der Hand. Aber darauf nehmen die Leistungsausschlüsse keine Rücksicht.
Für eine andere Gruppe von EU-Bürger:innen musste die Bundesregierung erst jüngst durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gezwungen werden, einen Leistungsausschluss wieder zurücknehmen: Familien mit Kindern, die die Schule besuchen und deren Eltern früher in Deutschland gearbeitet haben, haben nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern auch einen Anspruch auf Sozialleistungen, hat der EuGH im Oktober 2020 entschieden. Der Bundestag hatte selbst für diese Gruppe im Jahr 2016 auf Initiative der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Streichung des Anspruchs auf Sozialhilfe eingeführt – obwohl schon damals die überwiegende Mehrzahl der Expert:innen dieses Vorhaben als europarechtswidrig eingestuft hatten.
Sogar bei EU-Bürger:innen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, werden immer häufiger ergänzende Leistungen vom Jobcenter abgelehnt. Dies betrifft vor allem Menschen, die in prekären, schlecht bezahlten Jobs arbeiten, und geht zurück auf eine interne Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit mit dem Titel »Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit«. Darin fordert die Bundesbehörde die Jobcenter-Mitarbeiter:innen auf, bei EU-Bürger:innen besonders streng zu prüfen, ob wirklich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Insbesondere dann, wenn Gehälter in bar ausgezahlt werden, wenn der Arbeitgeber die Sozialabgaben nicht ordnungsgemäß abführt oder wenn kein schriftlicher Arbeitsvertrag vorliegt, soll das Jobcenter im Zweifelsfall die Leistungen ablehnen, da im Rahmen eines Generalverdachts unterstellt wird, dass die Tätigkeit nur zum Schein ausgeübt werde. Dass eine derartige Praxis im Niedriglohnsektor keineswegs unüblich ist und natürlich nicht gegen ein echtes und tatsächliches Beschäftigungsverhältnis sprechen, sondern vielmehr auf eine ausbeuterische, prekäre und schutzlose Arbeit, verkennt die Bundesagentur für Arbeit dabei. Arbeitnehmer:innen im prekären Arbeitsmarktsektor werden damit faktisch von Opfern zu Täter:innen umgedeutet. Besonders markant ist ein Beispiel aus Niedersachsen, in dem das Jobcenter seine Ablehnung damit begründet hat, dass es ein vorgetäuschtes Arbeitsverhältnis allein vermute, weil auf der Internetseite des Unternehmens keine Betriebsnummer angegeben sei. Auf diese Art und Weise werden ausländische Arbeitnehmer:innen für Versäumnisse der Arbeitgeber:innen haftbar gemacht.
Die Abwehrhaltung der Sozialbehörden gegenüber EU-Bürger:innen hat dabei System, wie eine Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW) unter fast 400 Beratungsstellen zeigt: Fast die Hälfte der antwortenden Beratungsstellen kennen Fälle, in denen EU-Bürger:innen sogar die Möglichkeit zur Antragstellung verweigert worden ist, indem sie gar nicht erst in das Jobcenter eingelassen worden sind. Über 40 Prozent der Beratungsstellen gaben darüber hinaus an, dass die Jobcenter rechtswidrig aufgrund fehlender Sprachkenntnisse die Entgegennahme von Anträgen abgelehnt hätten. Als weiteres Ergebnis der Umfrage wird deutlich, dass gerade bei Personen im Niedriglohnbereich – trotz einer vorhandenen Erwerbstätigkeit die Jobcenter häufig ergänzende SGB-II-Leistungen ablehnen. Hiervon berichtet fast die Hälfte der Beratungsstellen. Nach einem unfreiwilligen Verlust der Arbeit oder während des Mutterschutzes oder der Elternzeit werden die Leistungen in vielen Fällen rechtswidrig eingestellt, wie fast ein Viertel der Beratungsstellen zurückmeldet. Folge dieser häufig rechtswidrigen Entscheidungen ist nicht nur, dass begonnene Integrationsmaßnahmen, wie zum Beispiel Sprachkurse, nicht fortgeführt werden können (dies berichten 36 Prozent der Beratungsstellen). Im schlimmsten Fall führt dies sogar zur Gefahr der Wohnungslosigkeit, wie fast 60 Prozent der Antwortenden angeben. Stark betroffen von rechtswidrigen Leistungsablehnungen sind Familien mit Kindern, in denen die Eltern unverheiratet zusammenleben – über 40 Prozent der Beratungsstellen kennen derartige Fälle.
Seit Juli 2019 sind in Deutschland zudem für EU-Bürger:innen die Ansprüche auf Kindergeld drastisch eingeschränkt worden. So besteht nunmehr in vielen Fällen nur noch ein Anspruch, wenn eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird oder zuvor ausgeübt wurde. Diese gesetzliche Regelung ist ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit europarechtswidrig und liegt dem EuGH bereits zur Entscheidung vor.
Unabhängig davon dauern die Bewilligungsverfahren von Kindergeld für EU-Bürger:innen extrem lang: Laut BAG-FW berichtet über ein Viertel der Beratungsstellen davon, dass die Entscheidung über Kindergeldanträge zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauern würden, zum Teil sogar länger als ein Jahr. Üblich sind Zeiten von maximal sechs Wochen. Diese Verzögerungstaktik dürfte von den Familienkassen bewusst ausgeübt werden: Von EU-Bürger:innen wird ganz gezielt eine ungeheure Menge an Dokumenten für einen Kindergeldantrag verlangt, die zum Großteil für die Entscheidung selbst völlig irrelevant sind. Verlangt werden regelmäßige Zahlungsnachweise an den Energieversorger, Bescheinigungen über Beitragszahlungen der Rundfunkgebühren, Kindergartenbescheinigungen, Bescheinigungen der Kinderärzt:in usw. In einem Fall wurden von der Familienkasse ganze 18 unterschiedliche Belege für einen Kindergeldantrag angefordert – eine Praxis, die als unzulässige Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bezeichnet werden muss. Auch der Bundesdatenschutzbeauftrage hat zwischenzeitlich diese Praxis als »fehlerhaft« bezeichnet.
Hinzu kommt, dass sowohl die Familienkassen als auch die Jobcenter und Sozialämter mittlerweile verpflichtet sind, in vielen Fällen eine Meldung an die Ausländerbehörde vorzunehmen, wenn ein Leistungsantrag gestellt wird und dieser aufgrund der ausländerrechtlichen Sonderregelungen abgelehnt wird. Das Ziel ist klar: Wer Leistungen beantragt, dem soll der aufenthaltsrechtliche Boden unter den Füßen weggezogen werden. Infolge dieser systematischen Meldepflichten nehmen viele Betroffene aus Angst ihre Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen gar nicht erst wahr. »Wenn Sie bei uns Leistungen beantragen, werden sie abgeschoben«, ist dann auch eine nicht selten geäußerte Aussage bei Jobcentern, wenn EU-Bürger:innen dort zur Antragstellung vorsprechen. Die Aussage ist zwar in dieser Form falsch, aber wirksam: Die Betroffenen verzichten auf die Inanspruchnahme eines Grundrechts aus Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen.
Von den Meldepflichten an die Ausländerbehörde sind zunehmend auch Drittstaatsangehörige betroffen, wenn sie beispielsweise als Fachkräfte nach Deutschland gezogen sind und dann die Arbeit verlieren. Sie unterliegen noch viel stärker als EU-Bürger:innen dem ausländerrechtlichen Kontroll- und Disziplinierungsregime. So gibt es seit dem Jahr 2020 nicht nur die Pflicht der Arbeitgeber:innen, der Ausländerbehörde zu melden, wenn ein Beschäftigungsverhältnis vorzeitig beendet worden ist, sowie die Pflicht der Sozialbehörden, einen Leistungsantrag an die Ausländerbehörde zu melden. Für Drittstaatsangehörige ist daran in der Regel tatsächlich unmittelbar der Fortbestand des Aufenthaltstitels gekoppelt. Denn mit Verlust der Arbeit ist die Grundlage für das Aufenthaltsrecht entfallen. Eine Karenzzeit für die Suche einer neuen Arbeit mit den entsprechenden Ansprüchen auf Lebensunterhaltssicherung sieht das Aufenthaltsgesetz nicht vor. Zudem gilt der Aufenthaltstitel nur für eine konkrete Stelle, ein Wechsel der Arbeitgeber:in ist also nicht ohne Weiteres möglich. Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse sind somit bereits gesetzgeberisch angelegt: Wer nicht funktioniert oder wer aufbegehrt und daher seine Arbeit verliert, droht seine gesamte Existenzberechtigung in Deutschland zu verlieren.
Viele Ausländerbehörden perfektionieren dieses Kontroll- und Sanktionsregime, indem sie in die jeweiligen Aufenthaltstitel so genannte »Auflösende Bedingungen« hineinschreiben: »Der Aufenthaltstitel erlischt bei Verlust der Arbeit oder bei Bezug von Sozialhilfeleistungen«. Dieses Instrument ist zwar rechtlich höchst zweifelhaft, hat aber eine durchschlagende Wirkung. Die Betroffenen sind unmittelbar nach dem Arbeitsplatzverlust völlig rechtlos gestellt, ihr Aufenthaltsrecht ist gleichsam automatisch erloschen. Selbst einen erworbenen Anspruch auf Arbeitslosengeld I können sie nicht geltend machen, da nach Auffassung der Arbeitsagentur die Betroffenen ohne Aufenthaltstitel dem Arbeitsmarkt gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Ebenso bei einem Antrag auf existenzsichernde Sozialleistungen: Ein solcher wird in diesen Fällen kategorisch abgelehnt, da mit Bewilligung ja das Aufenthaltsrecht erlösche, das wiederum Voraussetzung für die Bewilligung sei. Ein perfekter ausländerrechtlicher Teufelskreis der größtmöglichen Prekarisierung.
Die Verzahnung von Aufenthalts- und Sozialrecht, die Leistungsausschlüsse für nicht-deutsche Staatsangehörige und die fehlende gesetzliche Verankerung von Schutzklauseln nach Verlust der Arbeit führen in der Praxis zu einem effizienten System der Disziplinierung und sozialen Exklusion für große Gruppen von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die Nützlichkeitsideologie schlägt hier mit voller Brutalität durch. Dieses koloniale Verständnis von Sozialstaatlichkeit (Verwertung der Arbeitskraft bei gleichzeitiger sozialer Entrechtung) führt zu Ausbeutbarkeit und Schutzlosigkeit der genannten Gruppen. Ein modernes Einwanderungsland indes lässt sich nur realisieren, wenn der Nationalvorbehalt der Sozialleistungsansprüche konsequent aufgegeben und die sozialstaatliche Geltung vom aufenthaltsrechtlichen Status und der Staatsangehörigkeit entkoppelt wird. Oder, einfacher ausgedrückt: Das Prinzip der »Gleichen Rechte« darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig sein.
Vielleicht würde sich hier ein Blick in die Geschichte lohnen: So hat Karl Liebknecht bereits im Jahr 1907 in einer Rede beim SPD-Parteitag in Essen »die Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalte im Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen«, gefordert. Vielmehr müsse das Ziel sein: »die »völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!«
Artikel von Claudius Voigt, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2021
* Claudius Voigt ist Diplom-Sozialarbeiter und arbeitet bei der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA) in Münster.