Bundesverfassungsgericht: Hartz-IV-Ausschluss für Ausländer gilt weiter
Dossier
„Ein menschenwürdiges Existenzminimum? Nicht für arbeitsuchende oder studierende Ausländer. Sie dürfen in Deutschland weiterhin von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Fällen entschieden. Arbeitsuchende oder studierende Ausländer dürfen in Deutschland weiterhin von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei am Donnerstag veröffentlichten Beschlüssen die Vorlagen des Sozialgerichts Mainz, das den gesetzlichen Ausschluss existenzsichernder Hilfen für verfassungswidrig hält, als unzulässig abgewiesen. (AZ: 1 BvL 4/16 und 1 BvL 6/16) Die Karlsruher Richter rügten, dass das Sozialgericht seine Vorlagen nicht ausreichend begründet hat…“ Meldung vom 7.2.2020 beim Migazin , siehe dazu:
- BVerfGE: Vorlage zum Ausschluss von Sozialleistungen für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht unzulässig – Meldung und Kommentar von Armin Kammrad
„Ausländerinnen und Ausländer, die in Deutschland kein Aufenthaltsrecht haben, sind nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII von bestimmten existenzsichernden Sozialleistungen ausgeschlossen. Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats die Vorlage eines Sozialgerichts zurückgewiesen, das dies mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für unvereinbar hält, soweit Unionsbürger vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen seien, bei denen das Nichtbestehen der Freizügigkeit zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch nicht in Bestandskraft erwachsen sei. Im sozialgerichtlichen Ausgangsverfahren begehrt eine rumänische Familie im Wege des Eilrechtsschutzes die Bewilligung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Die Ausländerbehörde hatte den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern und die daraus folgende Ausreisepflicht festgestellt. Über die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden. Die Vorlage des Sozialgerichts im Wege der konkreten Normenkontrolle ist unzulässig. Ihre Begründung entspricht nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Die Vorlage übergeht mehrere Fragen zur Verfassungswidrigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden kann. Das Sozialgericht legt nicht hinreichend dar, dass das geltende Recht in der hier konkret zu entscheidenden Situation nicht so hätte ausgelegt werden können, dass die Leistung vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit nicht ausgeschlossen ist.“ BVerfG-Pressemitteilung Nr. 15/2020 vom 4. März 2020 zum Beschluss 1 BvL 1/20 vom 26. Februar 2020- Kommentar dazu von Armin Kammrad vom 9. März 2020 (wir danken!)
Bei dieser Entscheidung ist zunächst zu beachten, dass sich die 1. Kammer des Ersten Senats mit Vize Harbarth vor einer inhaltlichen verfassungsrechtlichen Wertung durch Verweis auf formale Begründungsmängel drückt. Dies ist in sofern wichtig, wie die Kammer damit den gesetzlichen Ausschluss von EU-Bürgern gar nicht als verfassungsgemäß bestätigt (wie es fälschlich in manchen Pressemeldungen heißt). Konkret bedeutet dies für den konkreten Einzelfall, dass das Sozialgericht Darmstadt mit Bezug auf die „besonderen Umstände“ des Falles nach § 23 Satz 6 SGB XII durchaus Leistungen bewilligen kann. Allerdings nur bei dieser speziellen Fallkonstellation, bei dem die Entziehung der Freizügigkeit für die seit 2010 hier lebenden alleinerziehenden rumänischen Mutter von drei Kindern, noch nicht vom Verwaltungsgericht rechtkräftig entschieden ist (vgl. letzten Satz PM). So die Sache gedreht, setzt sich die Kammer nicht dem Vorwurf aus, dass bereits in einem noch schwebenden Verfahren jegliche Existenzunterstützung entzogen werden kann, bzw. schiebt den schwarzen Peter dem vorlegenden Sozialgericht zu. Statt einer konkreten Normkontrolle hätte das SG – vereinfacht gesagt -: die Sondervorschrift von § 23 Satz 6 SGB XII anwenden können. Es bestünde entsprechend § 80 Abs. 2 BVerfGG dann gar kein Grund für eine verfassungsrechtliche Überprüfung der „gültigen Rechtsvorschrift“, da im konkreten Fall gar nicht erforderlich. Trotz „unzulässiger“ Vorlage also durchaus ein paar klärende Worte – auch wenn etwas versteckt.
Natürlich ist das nur ein juristischer Trick. Die Reduzierung der verfassungsrechtlichen Problematik auf diese spezielle Fallkonstellation ist nur ein Versuch, die erforderliche verfassungsgemäße Prüfung des Gesetzes durch das BVerfG zu umgehen (bereits der Weg einer Kammerentscheidung ist übrigens kritikwürdig, kann doch nur der Senat über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden). Zu beachten ist dabei auch, dass 2015 das Bundessozialgericht zwar den Leistungsschluss nach SGB II (Hartz IV), aber nicht den nach SGB XII für verfassungsgemäß hielt. Nur aufgrund dieser BSG-Haltung erfand der Gesetzgeber 2016 überhaupt einen speziellen Leistungsausschluss von EU-Bürgern auch nach § 23 SGB XII. Deshalb ist es wohl eher die Kammer, die sich nicht ausführlich genug mit der Rechtssprechung – auseinandersetzt, und nicht – wie die Kammer es dem SG vorwirft – das vorlegende Gericht. Die Verfassungswidrigkeit (vgl. Art. 1 GG) der ausländerfeindlichen Gesetzesänderung 2016 widerlegt die Kammer auch trotz vieler Schachtelsätze, formalen Spitzfindigkeiten und nicht überprüfbaren Behauptungen nicht. Überhaupt wirkt die Ablehnungsbegründung der Kammer mehr wie Anwaltsschreiben als eine nachvollziehbare Begründung.
Für mich ist die Handschrift des früheren Unternehmenslobbyisten Stephan Harbarth nicht zu übersehen; legale Sozialstaatsschädigung, aber nicht Verteidigung des Sozialstaates war (und ist) Sache der Kanzlei SZA. Allerdings ist die höchstrichterliche Handhabung der Begründungspflichten nach § 80 Abs. 2 BVerfGG schon länger eine ziemlich – auch verfassungsrechtlich – fragwürdige Angelegenheit geworden. „Das BVerfG hat sie bis an die Grenzen der Unerfüllbarkeit verschärft“, bemängeln selbst namhafte BVerfGG-Kommentartoren wie Hans Lechner und Rüdiger Zuck bereits in ihrem Beck-Kommentar 2006 (S.438). Richter und Richterinnen, denen es mehr um die Durchsetzung von bestimmten Parteieninteressen als um eine verfassungsgemäße Rechtskultur geht (schließlich sind es ja Parteien, die sie in solche Machtpositionen bringen), haben mit ihren ausschließlich selbstgeschaffenen hohen formalen Anforderungen, ein hervorragendes Steuerungsinstrument um politisch unangenehme Entscheidungen abzulehnen, ohne sie inhaltlich prüfen zu müssen. So ist es auch hier bei dieser Höchstleistungen an Flucht in die Formalie, weit weg von der inhaltlichen Problematik. Allerdings lässt sich für die Praxis doch folgendes Fazit ziehen:- Ob der Ausschluss sämtlicher Sozialleistungen für arbeitssuchende EU-Bürger verfassungsgemäß ist, diese Entscheidung hat das BVerfG bisher gar nicht getroffen.
- Was sich ihrer Entscheidung trotzdem entnehmen lässt, ist der Hinweis, dass Klagen der Streichung von Sozialleistungen solange entgegenstehen, solange keine endgültige gerichtliche Entscheidung über das Aufenthaltsrecht vorliegt.
- Da das Aufenthaltsrecht mit dem Recht auf Freizügigkeit ursächlich verknüpft ist, und letzteres „zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch“ keine Bestandskraft hat (vgl. PM), ist das Wesentliche auch im Fall der rumänischen Mutter eigentlich noch gar nicht entschieden. D.h. auch der verwaltungsrechtliche Vorgang kann u.U. nochmals beim BVerfG landen – hoffentlich dann ohne Stephan Harbarth (vgl. § 19 BVerfGG). [Siehe dazu auch unser Dossier: Stephan Harbarth als Kirchhof-Nachfolge am BVerfG: Erwerbslose wollen keinen Konzernanwalt! Erwerbslose wollen auch Grundrechte haben!]
- Kommentar dazu von Armin Kammrad vom 9. März 2020 (wir danken!)
- Sozialgericht Darmstadt legt BVerfG vor: Dürfen EU-Ausländer von Hartz IV ausgeschlossen werden?
„In Deutschland lebende EU-Ausländer, die nicht arbeiten und kein anderes Aufenthaltsrecht haben, erhalten kein Hartz IV. Zur Überzeugung des Sozialgerichts (SG) Darmstadt verletzt der fast vollständige Leistungsausschluss das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Wie das SG am Freitag mitteilte, habe es deshalb dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die maßgebliche Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Beschl. v. 14.01.2020, Az. S 17 SO 191/19 ER). Ende 2016 hat der Gesetzgeber auch für die Sozialhilfe einen entsprechenden Leistungsausschluss in das Gesetz aufgenommen (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) und Sozialhilfeleistungen in der Regel auf einen Monat begrenzt. Laut dem Darmstädter Gericht sind EU-Ausländer, die gegen den Verlust ihres Aufenthaltsrechts vor dem VG klagen, damit während der Dauer des verwaltungsgerichtlichen Klageverfahrens nahezu vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen. Ausländer aus Drittstaaten erhielten in dieser Situation hingegen regelmäßig Asylbewerberleistungen. (…) Nach Auffassung des SG steht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren“, hieß es in einer Mitteilung des Gerichts. Das SG Darmstadt ist nicht das einzige Sozialgericht, das den Leistungsausschluss für verfassungswidrig hält. Erst in der vergangenen Woche hat das BVerfG zwei Vorlagen des SG Mainz als unzulässig zurückgewiesen. Die Vorlagen genügten laut BVerfG nicht den Begründungsanforderungen.“ Meldung vom 14. Februar 2020 bei Legal Tribune Online – ob die Vorlage Erfolg haben wird, ist mehr als fraglich. Nicht nur wird wieder die Kammer unter Vize Harbarth entscheiden. Von der fraglichen Möglichkeit etwas bereits aus formalen Gründen abzulehnen, hat die Kammer in der obigen Meldung erwähnten Entscheidung zur Vorlage des SG Mainz auch ausufernden Gebrauch gemacht. So heißt es sehr bezeichnend in der BVerfG-PM vom 6. Februar 2020 z.B.: Das SG Mainz hätte zwar „die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG begründet. (…) Es hat seine Überzeugung der Verfassungswidrigkeit im Ausgangspunkt auch hinreichend dargelegt. Doch fehlen weitere für die verfassungsrechtliche Prüfung zentrale Darlegungen. Es fehlt eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, die Regelung zum Leistungsausschluss verfassungskonform auszulegen…“ Das erinnert stark an die Sanktions-Entscheidung des Ersten Senats mit Vize Harbarth, in der ebenfalls Sanktionen über 30 Prozent in den Bereich gerichtlicher Auslegung oder freiwilliger Änderungen durch den Gesetzgeber verwiesen wurden, statt die maßgeblichen gesetzlichen Regelungen von § 31a SGB II für verfassungswidrig zu erklären.