Von der Willkommenskultur zur Einwanderungsgewerkschaft: Das Beispiel ver.di
„Es gibt 1000 Gründe, das eigene Herkunftsland zu verlassen. Ein zentraler ist, dass Menschen, die davon leben, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, dahin gehen müssen, wo sie diese auch verkaufen können. Dieser schlichte Zusammenhang zwischen Migration und Kapitalismus ist offensichtlich, er ist aber oftmals nicht der Impuls solidarisch zu sein. Zu groß ist die Angst vor Konkurrenz, zu stark in Vergessenheit geraten ist die Geschichte des eigenen Lands als Auswanderungsland – zum Beispiel Deutschlands. (…) Im Folgenden gebe ich einige Eindrücke von Diskussionen innerhalb von ver.di zur Fluchtmigration wieder, beschreibe die Herausforderungen und zeige auf, wo Handlungsfelder bestehen, gewerkschaftlich stärker aktiv zu werden…“ Artikel von Romin Khan aus der Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 105 zu „Kapitalismus und Migration“ vom März 2016 – wir danken der Redaktion! Siehe das gesamte Inhaltsverzeichnis der Z. 105 zu „Kapitalismus und Migration“ vom März 2016 beim Verlag und hier die uns wichtigsten Zitierstellen:
- Uns wichtig im Text: „… Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Überzeugung, dass Migration eine legitime Strategie im Sinne einer „Globalisierung von unten“ ist, nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu streben. Eine Reaktion der Abschottung und Abwehr sollte dabei nicht die Perspektive der Gewerkschaften bestimmen, sondern der Ansatz, Standards, Organisierung der Interessen und das Recht auf Rechte durchzusetzen. Dafür müssen sich Gewerkschaften für Migrantinnen und Migranten als Mitglieder öffnen. (…) Eine wichtige Rolle spielen dabei die Mitarbeiter/innen von Einrichtungen, die mit Flüchtlingen arbeiten (z.B. BAMF mit seinen Außenstellen, Erstaufnahmestellen in den Bundesländern, Zoll, Beschäftigte der Kommunen, Bildungsträger, Wohlfahrtsverbände, Gesundheitssystem). Es besteht die Gefahr, dass die Überlastung und Überforderung der Beschäftigten in den beschriebenen Branchen in eine flüchtlingsfeindliche Haltung mündet, die von der Forderung nach Obergrenzen und Sammellagern an den Grenzen getragen ist, wie sie in der Politik seit Monaten kursiert. (…) Bei der Veranstaltung wurde damit deutlich, wie sicherheitspolitische Vorgaben und Maßnahmen, die der Abschreckung dienen, Mehraufwand und zusätzliche Belastungen auf Seiten der Verwaltung erzeugen. Hier gäbe es vielfache Ansatzpunkte für die Artikulation gemeinsamer Interessen, wenn nicht sogar die gegenseitige solidarische Bezugnahme von Flüchtlingen und Beschäftigen in den Verwaltungen, die aber in dieser Weise bisher nicht stattgefunden hat. (…) Doch es besteht die Hoffnung, dass durch eine offensive Kampagne in der kommenden Tarifrunde für den Bund und die Kommunen durch aktive Betriebsgruppen deutlich gemacht wird, welche Bedeutung dem Öffentlichen Dienst für die Aufnahme, Integration und Teilhabe der Geflüchteten zukommt. (…) Gefordert ist der Aufbau einer sozialen Infrastruktur, die sich an den Bedürfnissen aller hier lebenden Menschen orientiert und Unterstützung, Begleitung und Förderung zum Ausgangspunkt sozialstaatlichen Handelns macht. Dies impliziert die finanzielle und personelle Absicherung professioneller Beratungsstrukturen für neuankommende Menschen, die sich nicht nur auf hochqualifizierte Einwanderer zur Sicherung des Fachkräftebedarfs erstrecken dürfen. (…) Ob es bei der Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ zu einer Erweiterung, wenn nicht gar zu schrittweisem Rückgewinn der politischen Handlungsspielräume gegen Austerität und Sparzwang kommt, wird sich unter anderem darin zeigen, ob das Hartz-IV-System in dieser Weise erhalten bleibt. Die Forderung, dass Investitionen ins Soziale „allen“ zugutekommen müssen, ist zwar richtig – es muss innerhalb der Gewerkschaften aber auch kritisch diskutiert werden, wie Sozialpolitik in einem anti-rassistischen Sinne zu gestalten ist so dass Unterscheidungen in „die“ und „wir“ entlang nicht nur nationaler, sondern auch kultureller und religiöser Grenzziehungen und Spaltungen in den eigenen Organisationen überwunden werden. (…) Ein Ansatzpunkt in dieser Hinsicht ist die Vermittlung von Arbeitsrechten in Sprachkursen und Flüchtlingsunterkünften, wie es bereits einige gewerkschaftliche Projekte z.B. in Berlin, Osnabrück und Stuttgart begonnen haben. Derlei Angebote menschenrechtsbasierter Solidarität sollten einem Empowerment-Konzept folgen. Denn es ist zu befürchten, dass die Mischung aus offener Ablehnung und erwarteter Dankbarkeit, mit der die Geflüchteten nach dem Willkommenssommer und den Ereignissen aus der Silvesternacht in Köln konfrontiert sind, auch ihre Stellung im Arbeitsmarkt bestimmen wird…“