Paritätischer warnt vor Rassismus in Jobcentern
Dossier
„Der Paritätische Wohlfahrtsverband bewertet die Ergebnisse einer heute von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) veröffentlichten Umfrage, nach der EU-Ausländer*innen bei der Beantragung von Sozialleistungen oder von Kindergeld einer diskriminierenden und zum Teil rechtswidrigen Behördenpraxis ausgesetzt sind, als skandalös und warnt vor strukturellem Rassismus in Jobcentern. Nach der heute veröffentlichten Studie liegen fast der Hälfte der rund 400 bundesweit befragten Beratungsstellen Berichte vor, wonach EU-Bürger*innen aus Osteuropa bereits in der Eingangszone von Jobcentern abgewiesen worden seien und somit keinen Antrag auf „Hartz IV“ stellen konnten. Die Abweisung passiere häufig pauschal ganz ohne Begründung oder mit dem Hinweis, ihre Deutschkenntnisse wären nicht ausreichend oder eine dolmetschende Person wäre nicht dabei – was eindeutig rechtswidrig sei, erläutert Natalia Bugaj-Wolfram, Referentin für Migrationssozialarbeit beim Paritätischen Gesamtverband. Gelingt die Antragstellung, werden von EU-Bürger*innen oft unverhältnismäßig hohe Anforderungen an das Vorlegen von Dokumenten gestellt. Teilweise werden aufstockende Leistungen trotz belegtem Erwerbstätigenstatus verweigert. Hintergrund sei eine BA-interne Arbeitshilfe zur „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“. Sie bewirke, dass an Ausländer*innen, die Hartz IV beantragen, erhöhte Anforderungen gestellt und letztlich Hürden zur Antragstellung aufgebaut würden. “Ich weiß nicht, ob das, was wir aus den Jobcentern hören, bereits struktureller Rassismus ist. Wenn nicht, ist es auf jeden Fall recht nahe daran”, warnt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider…“ Pressemeldung des Paritätischen Gesamtverbands vom 16. März 2021 , siehe dazu die Umfrage selbst und Reaktionen:
- Studie zeigt Vorurteile gegenüber ausländischen Hartz-IV-Empfängern: Sanktionen für Yildirims härter als für Bergmanns?
„Aus einer neuen Studie ergibt sich der Verdacht, Menschen mit nicht-deutschem Namen könnten von Jobcentern besonders hart bestraft werden (…) Die Sanktionen sollen bleiben. Wer sich nicht an die sogenannten Mitwirkungspflichten hält, dem wird auch weiterhin das Geld zusammengestrichen. Damit sind die künftigen Empfänger des Bürgergeldes weiterhin ein Stückweit der Willkür der „Fallmanager“ ausgeliefert. Denn Sanktionsregeln sind nur formal gleich – in der Realität treffen sie die ohnehin schwächsten Teile der Gesellschaft und – potenziell – auch die, deren Namen nicht deutsch klingen. Letzteres hat eine Studie der Universität Siegen verdeutlicht, die Ende 2021 in den WSI-Mitteilungen publiziert wurde . Die Forscher untersuchten, unter welchen Bedingungen die Studienteilnehmer fiktiven Hartz-IV-Beziehern die Leistungen kürzen würden. Nicht nur fehlende Motivation würde bestraft werden, sondern die Sanktionen fielen auch dann härter aus, wenn es um Menschen mit ausländisch klingenden Namen geht…“ Artikel von Bernd Müller vom 06. Januar 2022 in Telepolis - Rassistischer Sozialstaat
„Das bundesdeutsche Sozialrecht hat ein Rassismusproblem: Das Gesetz ist durchzogen von systematischen Leistungsausschlüssen für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums scheint demnach in vielen Fällen für nicht-deutsche Staatsangehörigen außer Kraft gesetzt – oder nur unter der Bedingung zu gelten, dass sie wirtschaftlich verwertbar sind. Diese gesetzlich normierte rassistische und klassistische Diskriminierung führt zum Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe von den sozialstaatlichen Schutzmechanismen und hat Verelendung, Ausbeutbarkeit und Prekarisierung zur Folge. So wird eine neue migrantische Unterklasse geschaffen. Bundesregierung und Gesetzgeberin haben dafür seit Jahren durch eine systematische Verzahnung von Sozial- und Aufenthaltsrecht die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Diese Form von gezielter sozialer Entrechtung ist eines modernen sozialen Rechtsstaats unwürdig und gehört abgeschafft. (…) Bei erwerbstätigen EU-Bürger_innen werden immer häufiger ergänzende Leistungen abgelehnt – vor allem, wenn sie in prekären, schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Grund dafür ist eine unveröffentlichte Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit mit dem Titel „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“. Darin fordert die Behörde die Jobcenter-Mitarbeiter_innen auf, bei EU-Bürger_innen besonders streng zu prüfen, ob wirklich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Wenn Gehälter in bar ausgezahlt werden, der Arbeitgeber die Sozialabgaben nicht ordnungsgemäß abführt oder kein schriftlicher Arbeitsvertrag vorliegt, soll das Jobcenter im Zweifelsfall die Leistungen ablehnen, da im Rahmen eines Generalverdachts unterstellt wird, dass die Tätigkeit nur zum Schein ausgeübt werde. In einer früheren Fassung dieser Arbeitshilfe hat die Bundesagentur für Arbeit ungeschminkt auf den Punkt gebracht, auf welche Gruppen dies gemünzt ist: „Hier sind insbesondere rumänische und bulgarische Staatsangehörige zu nennen. Häufig gehören diese in ihrem Heimatland türkischsprachigen Minderheiten an. In Einzelfällen sind auch Italiener, Griechen, Polen und aus Marokko stammende Spanier bekannt geworden“, so die damalige Formulierung. Ist das Rassismus? Ja klar! Gepaart mit einer großen Portion Nützlichkeitsideologie…“ Ein Kommentar von Claudius Voigt, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender Münster, aus Forum Migration April 2021 - Kollege Fallmanager: Gewerkschaftliche Loyalitäten im Hartz-IV-System
„Rassismus-Vorwürfe gegen Jobcenter-Beschäftigte bringen ver.di-Vizechefin auf die Palme. Nicht alle Mitglieder der Gewerkschaft teilen ihre Empörung. Tatsächlich geht es auch um den Umgang mit Macht
Verärgert und verständnislos hat die stellvertretende ver.di-Chefin Christine Behle Anfang der Woche auf Rassismus-Vorwürfe des Paritätischen Wohlfahrtsverbands gegen Jobcenter reagiert.“Wir finden es befremdlich, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband pauschale Vorwürfe gegen Beschäftigte erhebt und damit alle in ein falsches Licht gestellt werden“, teilte Behle am Montag in Berlin mit . „Dieses Verhalten ist empörend“, befand sie. Doch nicht alle ver.di-Mitglieder halten die Kritik für unbegründet. (…) Solche „reflexhaften Reaktionen“ kenne er, sagt Hans Sander, der längere Zeit im Bundeserwerbslosenausschuss von ver.di mitgearbeitet hat. Bei Kritik an der Praxis der Jobcenter werde „sofort aufgejault“, betonte Sander gegenüber Telepolis. Nicht nur im Zusammenhang mit Rassismus, sondern allgemein, wenn es um den Umgang mit Macht im Hartz-IV-Sanktionssystem gehe. Natürlich gebe es Jobcenter-Mitarbeitende, die sich solidarisch verhielten – aber eben auch andere. Hinzu kämen „rassistisch anmutende Arbeitsanweisungen“. Tatsächlich scheinen die kritisierten Verhaltensweisen kein individuelles Problem zu sein, sondern durch Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) gefördert zu werden. Scharf kritisiert wird das zumindest in ver.di-Arbeitskreisen wie dem Zako (Zentraler Arbeitskreis Offensiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus). Nach Informationen des Erwerbslosenvereins Tacheles e. V. hat die Bundesagentur für Arbeit Anfang Februar „nur für den Dienstgebrauch“ die vierte Fassung ihrer Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ (früherer Titel: „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“) herausgegeben . (…) Ziel der besagten Arbeitshilfe ist nach BA-Angaben die Erkennung des „Missbrauchs von Sozialleistungen“ aufgrund einer „Vortäuschung des Arbeitnehmerstatus“. Daher sollen die Jobcenter entsprechende Anträge besonders streng prüfen, im Zweifelsfall die Leistungen ablehnen und Repressionsmaßnahmen verschiedenster Art in die Wege leiten. Manche Formulierung wurde zwar laut Tacheles gegenüber den Vorgängerversionen entschärft, die Wirkung bleibe aber rassistisch und „klassistisch“, da nur Personen nicht-deutscher Staatsbürgerschaft „in prekären, ungeschützten Arbeitsverhältnissen“ betroffen seien. Da dies besonders häufig Frauen seien, wirke sich die Arbeitshilfe auch sexistisch aus. Nach Erfahrung von Dirk Heinke, der in der Berliner Fachstelle für Integration und Migration der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Betroffene berät, ist in den Jobcentern die Haltung verbreitet, dass Aufstockung in solchen Fällen eigentlich immer Leistungsmissbrauch sei – trotz anderslautender Rechtslage. (…) Dabei hatten Gewerkschaftslinke schon vor der Einführung der Hartz-IV-Gesetze Anfang 2005 vor einer neuen Erpressbarkeit aller Beschäftigten gewarnt, die sich aus den Zumutbarkeits- und Sanktionsregeln für Erwerbslose und den Schikanen gegen sie ergeben werde.“ Artikel von Claudia Wangerin vom 25. März 2021 bei Telepolis – wir erinnern an die Debatte (und Aktion) AgenturSchluss – mit oder gegen AmtskollegInnen? sowie Arbeitsverwaltungen wehren sich – wogegen? im LabourNet-Archiv - BAGFW fordert diskriminierungsfreien Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger/innen
„Die Bundesarbeitsgemeinschaft der der Freien Wohlfahrtspflege fordert im Rahmen der internationalen Woche gegen Rassismus den diskriminierungsfreien Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger/innen. Der Zugang zur Sozialleistungen ist für EU-Bürger/innen nicht in allen Behörden diskriminierungsfrei gewährleistet. Das ist Ergebnis einer bundesweiten Umfrage der BAGFW unter fast 400 Beratungsstellen aus dem Sommer 2020. So berichten fast die Hälfte der Beratungsstellen von Fällen, in denen EU-Bürger/innen bereits in der Eingangszone von Jobcentern abgewiesen worden sind und somit keinen Antrag auf „Hartz IV“ stellen konnten. Über 40 Prozent der befragten Beratungsstellen gaben an, dass die Jobcenter rechtswidrig aufgrund fehlender Sprachkenntnisse die Entgegennahme von Anträgen abgelehnt haben. Die vollständigen Umfrageergebnisse …“ Aus dem Thomé Newsletter 11/2021 vom 22.03.2021 - Kein Platz für Rassismus – Beschäftigte der Jobcenter wehren sich gegen Vorwürfe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes
„Für Rassismus gibt es keinen Platz. Nicht in unserer Gesellschaft und auch sonst nirgendwo. Dafür stehen wir als ver.di und dafür stehen auch unsere Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern“, betont die stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, Christine Behle. „Wir finden es befremdlich, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband pauschale Vorwürfe gegen Beschäftigte erhebt und damit alle in ein falsches Licht gestellt werden. Dieses Verhalten ist empörend.“ Hintergrund ist eine Pressemitteilung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in der er vor strukturellem Rassismus in Jobcentern warnt. „Das können und wollen wir so nicht unkommentiert stehen lassen“, erklärt die ver.di-Vize. Behle wies darauf hin, dass Beschäftigte in den Jobcentern entsetzt auf diese pauschalen Vorwürfe reagiert hätten. Sie stelle sich gemeinsam mit dem Hauptpersonalrat, den Personalräten und den Beschäftigten gegen pauschale und undifferenzierte Rassismusvorwürfe. Sollte es Beschäftigte geben, die sich Leistungsberechtigten gegenüber rassistisch verhalten, müsse das deutlich angesprochen und im Zweifel auch arbeitsrechtlich geahndet und sanktioniert werden. Dafür würden sich Personalräte und Betriebsgruppen auch immer wieder nachhaltig einsetzen.“ ver.di-Pressemitteilung vom 22. März 2021 - Schwierigkeiten von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern in der Durchsetzung von Leistungsansprüchen
Auswertung der Umfrage zu Praxiserfahrungen der Mitarbeitenden in der Beratung vom 19.03.2021 bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)