NSU und Co: Nicht aufgeklärt. Sondern versucht, abzuhaken – was nur die antifaschistische Bewegung verhindern kann
„In der mündlichen Urteilsbegründung radikalisierte der Senat diese Lesart noch insofern, als er auf keinen der kritischen Punkte einging, die im Rahmen von fünf Jahren Prozess und sieben Jahren Aufklärungsarbeit zum NSU-Komplex herausgearbeitet wurden: kein Wort zum institutionellen Rassismus in den Ermittlungsbehörden, kein Hinweis auf die Rolle des Verfassungsschutzes, kein Eingehen auf die neonazistische Ideologie. Vollends verworfen wurde selbst die Möglichkeit, dass mehr als die drei Angehörigen des Kerntrios an den Morden des NSU beteiligt gewesen sein könnten. In seiner Konsequenz war das Urteil sicher auch für langjährige Prozessbeobachter*innen überraschend. Dass es dem Gericht nicht um Aufklärung, sondern vor allem ums Abhaken ging, war allerdings spätestens seit denjenigen Beschlüssen klar, mit denen es weitere Beweisanträge zum hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme abgelehnt hatte. Zuvor konnte bei Beobachter*innen der Eindruck entstehen, dass der Senat ein aufrichtiges Interesse hat an der Klärung der offenen Fragen rund um den Verfassungsschützer, der zum Tatzeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 am Tatort anwesend war. (…) All dies macht deutlich: „Kein Schlussstrich“ geht nur ohne den Staat und seine Vertreter*innen, gemeinsam mit den Betroffenen und Angehörigen. Dazu gab es am Abend des 10. Juli 2018 einen ersten Auftakt: In München demonstrierten 6.000 Menschen mit der Forderung, dass es keinen Schlussstrich unter die NSU-Aufklärung geben darf. An der Spitze der Demo liefen einige Angehörige von Mordopfern und Betroffene des Anschlags in der Kölner Keupstraße sowie Nebenklagevertreter*innen. Insgesamt gingen am Abend des Urteilsspruchs bundesweit über 10.000 Menschen auf die Straße.“ – aus dem Beitrag „Abhaken statt aufklären“ von Felix Hansen und Sebastian Schneider am 28. Juli 2018 in Lotta , worin nochmals deutlich unterstrichen wird, welche Absichten mit dem Urteil ausdrücklich und mehrfach auch entgegen dem eigentlichen Prozessverlauf verfolgt wurden. Siehe dazu auch einen zusammenfassenden Beitrag über den Verfassungsschutz und den NSU – und eine Mitteilung der Anwälte der Nebenklage:
- „Mord unter staatlicher Aufsicht: Von Solingen zum NSU“ von Rolf Gössner in der Ausgabe Juli 2018 der Blätter für Deutsche und Internationale Politik , worin die Arbeit der Behörden unter anderem so abschließend bewertet wird: „Doch ausgerechnet solche skandalträchtigen und letztlich demokratiewidrigen Geheiminstitutionen erhalten im Zuge des Antiterrorkampfs wieder unverdienten Auftrieb. Statt ernsthafte Konsequenzen aus ihren skandalreichen Karrieren und Desastern zu ziehen, wird der „Verfassungsschutz“ völlig geschichtsvergessen weiter aufgerüstet und massenüberwachungs- tauglicher gemacht – anstatt die Bevölkerung endlich wirksam vor seinen Machenschaften zu schützen. Ja, er darf sich inzwischen sogar ganz legal krimineller V-Leute bedienen und diese gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen – ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission. So unglaublich es klingen mag: Bisherige Skandale und illegale Praktiken werden praktisch legalisiert – und damit auch die obzönen Verflechtungen des Verfassungsschutzes in gewalttätige Nazi-Szenen wie den NSU. Und all dies, obwohl Geheimdienste ohnehin Fremdkörper sind in der Demokratie. Warum? Weil diese Institutionen, die Verfassung und Demokratie eigentlich schützen sollen, selbst demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Die reguläre parlamentarische Kontrolle geheimdienstlicher Arbeit erfolgt ihrerseits geheim, also wenig demokratisch. Und Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden tendenziell zu Geheimverfahren, in denen Akten geschreddert, manipuliert, geschwärzt sowie Zeugen ganz oder teilweise gesperrt werden. Dieses Verdunkelungssystem frisst sich weit hinein in Justiz und Parlamente, die Geheimdienste kontrollieren sollen – und meist daran scheitern. Deshalb neigen Geheimdienste auch in Demokratien zu Verselbstständigung und Machtmissbrauch, wie ihre Geschichte eindrucksvoll belegt. Wer solche Geheimdienste weiter aufrüstet, statt sie rechtsstaatlich wirksam zu zügeln, schädigt Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit…“
- „Revisionen gegen das Urteil“ am 26. Juli 2018 auf dem Blog der AnwältInnen der Nebenklage gibt einen Überblick zu bisherigen juristischen Reaktionen auf das Urteil: „Zwei Wochen nach dem Urteil des Oberlandesgerichts München hat das Gericht mitgeteilt, wer alles Revision gegen das Urteil eingelegt hat: alle fünf Angeklagten fechten das Urteil an, die Bundesanwaltschaft nur hinsichtlich des Teilfreispruchs von André Eminger. Von Seiten der Nebenklage sind keine Revisionen eingelegt worden – Revisionen der Nebenklage sind aber auch ohnehin nicht zulässig, wenn und soweit Angeklagte verurteilt wurden. Vertreter_innen der Nebenklage können sich aber im Verfahren über die Revisionen der anderen Parteien äußern. Wann der Bundesgerichtshof über die Revisionen entscheiden wird, ist schwer vorherzusehen: zunächst muss das Oberlandesgericht das Urteil schriftlich ausformulieren. Dafür kann es sich theoretisch 93 Wochen ab dem 11.7.2018, also bis Ende April 2020, Zeit lassen; es wird aber eher nicht erwartet, dass das Gericht diese Frist ausschöpft, aber mehrere Monate wird es mindestens dauern, bis das schriftliche Urteil da ist…“