„Gerechte“ Sozialpolitik, nicht als alleiniges Mittel gegen den Rechtsrutsch ausreichend – und doch nicht in Sicht
Dossier
Zweifellos ist richtig, dass (qualitativer und ökologischer) Wohlstand für alle und eine gerechte Sozialpolitik – ohnehin im Osten wie Westen dringend erforderlich – rechte Bewegungen schwächen können. Dies war z.B. in den 60ger und 70ger Jahren der Fall – als auch die sog. „Gastarbeiter“ weitgehend willkommen, weil sie Drecksarbeiten verrichteten, die kein einheimischer Mensch machen wollte und auch keinen Druck hierzu bekam. Bloß warum war dann plötzlich das „Boot so voll“, dass es nicht nur zu rassistischem Terror, sondern auch starker Asylrechteinschränkung Anfang der 90ger kam? Weil der zeitweilige relative Wohlstand (natürlich nie für alle) durch die unterlassene Entnazifizierung nur zu einer Verdrängung genau jener Ideologie führte, der z.B. die AfD heute anhängt. Wenn der Kapitalismus seine Gerechtigkeitsversprechen nicht mehr realisieren kann oder will tritt der Rassismus zu Tage, der nie weg war und mit etwas mehr Sozialpolitik eben nur kaschiert werden könnte – würde ihr Mangel nicht sonst die antikapitalistische Bewegung stärken? Siehe im neuen Dossier einige erste Hinweise zur hoffentlich breiten Debatte:
- [„Das nationale Wir ist nicht unser Wir“] Wer den Faschismus verhindern will, muss mit dem Neoliberalismus brechen
„Die neoliberale Politik, die die AfD stark gemacht hat, droht sich unter der kommenden Regierung noch zu verschärfen. Die antifaschistische Antwort wäre eine Wirtschaftspolitik, die die Menschen ermächtigt und ihnen die Hoffnung gibt, dass es auch wieder bergauf gehen kann. (…) An dieser Stelle sei gesagt, dass niemand davon ausgeht, dass durch höhere Löhne, geringere Lebenshaltungskosten, bessere Zukunftsperspektiven und weniger Ungleichheit ideologisch gefestigte Rechte zu Linken werden oder Nationalismus und Rassismus einfach verschwinden. Es geht erst einmal darum, sich zu fragen, wie man diese Ressentiments politisch so weit entwaffnet, dass sie nicht wahlentscheidend werden. Es geht um Protestwähler, die noch keine gefestigten Rechten sind, aber durchaus welche werden können, wenn wir jetzt einfach so weitermachen. Und es geht darum, den Rechten die Unterstützung dieser Menschen zu entziehen und damit den strukturellen Aufbau der AfD zu schwächen.
Kritikerinnen und Kritiker dieses Ansatzes wie etwa Sabine Nuss und Michael Heinrich vermuten in dieser Strategie [»antifaschistischer Wirtschaftspolitik«] aber einen verkappten Standortnationalismus. So betonen sie etwa, dass durch höhere Löhne auch die Nachfrage im Inland gesteigert wird, weshalb nicht bloß Beschäftigte, sondern auch deutsche Unternehmen davon profitieren würden. Damit würde die antifaschistische Wirtschaftspolitik am Ende in dieselbe Kerbe schlagen wie Konservative und Liberale, die von »unserer Wirtschaft« und »Deutschlands Wohlstand« sprechen, so als habe man hier eine homogene Gemeinschaft vor sich.
Das nationale Wir ist nicht unser Wir
Natürlich stimmt es, dass Liberale und Rechte bewusst von »der Wirtschaft« sprechen, um zu verschleiern, dass sich in dieser Wirtschaft gegensätzliche Interessen gegenüberstehen. Doch man sollte eine Politik, die die Verhandlungsmacht arbeitender Menschen in diesem Land – ganz egal, was sie für einen Pass haben – erhöht, nicht mit einer wirtschaftsliberalen Politik verwechseln, die im Gegenteil die deutsche Privatwirtschaft stärkt und die Bevölkerung ihrem Gewinnstreben schutzlos ausliefert. Genau dazu ist Austerität schließlich da. (…)Es sind Rechte und Liberale, die die Bevölkerung in ihren Standortnationalismus einspannen wollen, damit die Bevölkerung die ökonomischen Einschnitte akzeptiert, die notwendig sind, um die deutsche Wirtschaftskraft fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Eine antifaschistische Wirtschaftspolitik tut genau das Gegenteil. Sie arbeitet proaktiv gegen diese ökonomische Entmachtung der Mehrheit der Bevölkerung an, adressiert das Gefühl, den Mächtigen in Politik und Wirtschaft ausgeliefert zu sein, und stärkt damit die Handlungsfähigkeit im eigenen Leben…“ Artikel von Astrid Zimmermann vom 21. Dezember 2024 in Jacobin.de – „eine Wirtschaftspolitik, die die Menschen ermächtigt“ kann es nicht nur im Neoliberalismus nicht geben, da muss schon derKapitalismus dran glauben - Debatte um „Ökonomen-Antifa“ zeigt: Antifaschistische Wirtschaftspolitik kann nur eine antikapitalistische sein.
- Die Ökonomen-Antifa: Welche Wirtschaftspolitik könnte gegen den Rechtstrend helfen?
„Warum wählen Menschen rechts? Unter jenen, die sich für AfD, Trump & Co entscheiden, finden sich überdurchschnittlich viele, die arm oder arbeitslos sind, die sich um ihre soziale Lage sorgen, die wirtschaftlichen Abstieg erleben oder befürchten. Da liegt es nahe, im Kampf gegen rechts an der Wirtschaftspolitik anzusetzen, um den Menschen den Grund für ihre Unzufriedenheit zu nehmen. Ein geschlossenes Konzept von »antifaschistischer Wirtschaftspolitik«, so ein Begriff der Ökonomin Isabella Weber, gibt es nicht. Was es aber gibt, ist eine Reihe von Ideen, die großteils schon länger auf dem Tisch liegen und die in zwei Richtungen zielen: Erstens den Menschen soziale Sicherheit geben und zweitens verstärkte Kontrollmöglichkeiten zu eröffnen, um Ohnmachtsgefühlen entgegenzuwirken. (…) Einig ist man sich darin, dass die Schuldenbremse reformiert werden sollte. (…) Damit allerdings würde noch nicht die Quelle der sozialen Verunsicherung angegangen: der Markt selbst und seine Konjunkturen. Um soziale Sicherheit zu schaffen, muss die Marktlogik vielmehr durch eine Gemeinwohlorientierung ersetzt oder zumindest abgemildert werden. (…) Sicherheit kostet Geld, was Umverteilung nötig macht. Geldquellen gibt es: Denkbar wären unter anderem die Wiedereinführung einer Steuer auf Vermögen über einer Million Euro pro Person, die Abschaffung der Privilegierung von Unternehmenserben, höhere Steuersätze für hohe Einkommen, für Unternehmensgewinne oder Einkommen aus Kapitalanlagen. Die Konzepte liegen vor. Zur öffentlichen Daseinsvorsorge kommt die Sicherung der Markteinkommen im Betrieb: bessere Löhne, sicherere Arbeitsplätze. (…) Aber nicht nur an den Einnahmen kann man ansetzen, auch an den Ausgaben der Menschen. (…) Über einen Preisdeckel können die Forderungen der Unternehmen und damit ihre Gewinne begrenzt werden. (…) Mitbestimmung allerdings erweitert nur die Beteiligungsmöglichkeiten der Belegschaft in Betrieben, die weiter der Marktlogik unterworfen sind. Eine Vergesellschaftung von zentralen Anbietern der Daseinsvorsorge dagegen würde es ermöglichen, die Produktion in den Dienst aller Menschen zu stellen anstatt die Menschen in den Dienst der Wirtschaft. Vergesellschaftete Betriebe könnten kostendeckend produzieren, anstatt dem Zwang zur wettbewerbsfähigen Kapitalrendite zu folgen. Zudem könnten so Entscheidungen über Betriebszweck, Produkte und Produktionsbedingungen demokratisiert werden. Damit wäre quasi eine materielle Grundlage auch für den Kampf gegen rechts gelegt. Ob dieser Kampf gelingt, ob die Menschen also sich von den rechten Parteien abwenden, ist jedoch nicht nur eine Frage der materiellen Grundlagen, sondern der Haltung der Menschen – wie sie ihre Lage deuten. Neben einer »antifaschistischen Wirtschaftspolitik« bliebe Aufklärung daher vonnöten…“ Artikel von Stephan Kaufmann vom 29. November 2024 in Neues Deutschland online - Demokratie statt Marktlogik: Wirtschaftspolitik gegen rechts: Über liberale und sozialistische Konzepte und mögliche Bündnisse
„Die an der University of Massachusetts lehrende Ökonomin Isabella Weber provozierte jüngst ihre Kollegen mit dem Vorschlag einer »antifaschistischen Wirtschaftspolitik«. Sie reagiert auf enorm gestiegene Preise seit dem Ukraine-Krieg, die jüngst die Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten beförderten. Weber ermuntert die liberalen Gegner des Rechtspopulismus zu mehr Mut: Preiskontrollen, Übergewinnsteuern, Industriepolitik für eine grüne Wende. Das Konzept bezeugt Risse in der neoklassischen Volkswirtschaftslehre und bricht mit Austeritätspolitik vergangener Tage. Doch wirtschaftsdemokratische Elemente fehlen ebenso wie die Eigentumsfrage. Als das letzte Mal eine Ölkrise zu einem Inflationsschock führte, setzten deutsche Gewerkschaften auf genau diese Wirtschaftsdemokratie. (…) Die langgestreckte Transformationskrise mündete Ende der 80er Jahre nicht eine regionalisierte Wirtschaftsdemokratie, sondern in den Autokorporatismus. Dieses Modell der betrieblichen Sozialpartnerschaft basierte auf starken Betriebsräten und Mitbestimmung der Arbeitenden in den Aufsichtsräten. Ihr Musterbetrieb war Volkswagen, wo die Gewerkschaftsseite durch das Land Niedersachsen als Eigentümerin gestärkt wurde. Im Übergang zum Finanzmarktkapitalismus unserer Gegenwart holte der Autokorporatismus einiges für die Arbeitenden heraus, gerade im Vergleich zu einer De-Industrialisierung wie in Großbritannien. Doch das 1990 auch auf Ostdeutschland übertragene Modell erwies sich spätestens hier als defensive Sozialpartnerschaft. Öffnungsklauseln in Tarifverträgen erlaubten Verschlechterungen bei Löhnen und Arbeitszeiten. Unter dem Druck des globalen Wettbewerbs waren die Belegschaften erpressbar, die im Osten erprobte »Flexibilisierung« kam bald im Westen an und plagt uns bis heute. (…) Antifaschistische Wirtschaftspolitik hingegen kann bei der liberalen Verteidigung des Marktes gegen die Monopole innehalten – das zeigt der historische New Deal ebenso wie die aktuelle Debatte. Wo diese Politik den arbeitenden Menschen dient, ist sie für eine sozialistische Linke interessant: bei der Entmachtung von Big Tech, bei der Verteidigung des Sozialstaates oder eben mit Preiskontrollen. Nur verwechseln sollte man beide Konzepte nicht. Will die Linke eine Rolle spielen in der Polarisierung zwischen Rechtspopulismus und progressivem Neoliberalismus, dann braucht sie eigene Ideen – auch in der Wirtschaftspolitik. Die Forderungen nach Vergesellschaftung, wie sie Mietenbewegung, Klimabewegung und soziale Bewegungen im Gesundheitsbereich erhoben haben, könnten erste Schritte sein. Ausbuchstabiert sind sie jedoch nur für Teile der Wirtschaft, in den Gewerkschaften sind sie nicht verankert, und nur die Mietenbewegung hat mit ihren Volksentscheiden Druckmittel zur Umsetzung erprobt. Die Debatte um Vergesellschaftung liefert bislang keine ausbuchstabierte Transformationsstrategie – aber sie ist ein Anfang.“ Artikel von Ralf Hoffrogge vom 29. November 2024 in Neues Deutschland online - Vor allem scheinen die Vertreter eines Antifaschismus durch eine andere Wirtschaftspolitik nicht zu bemerken, dass sie eigentlich nur sagen, dass rechte Ideologie – auch in den Arbeiterkreisen – ohne Beseitigung des Kapitalismus nicht möglich ist. Eine Demokratie unter kapitalistischen Verhältnissen bleibt immer unvollkommen und gefährdet. Aktuell die Demokratie verteidigen, ist ohne Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung – analog dem Klima übrigens – nicht möglich.
- Die Ökonomen-Antifa: Welche Wirtschaftspolitik könnte gegen den Rechtstrend helfen?
- Weg vom nationalen »Wir«. Das »Antifaschistische Wirtschaftspolitik« bleibt ein leeres Versprechen, wenn sie den nationalen Rahmen nicht durchbricht.
„Eine derzeit populäre Erklärung für den Erfolg Donald Trumps lautet: Inflation und Einkommensverluste hätten bei großen Teilen der US-amerikanischen Arbeiterklasse zu Verunsicherung und Abstiegsängsten geführt. Trump habe diese Sorgen mit seiner Kampagne »Make America Great Again« in nationalistischer bis faschistischer Weise aufgegriffen. Um dem Erstarken der Rechten zu begegnen, müsse man daher die Inflation mit Preiskontrollen bekämpfen und für soziale Sicherheit sorgen, so die Ökonomin Isabella Weber. Sie nennt dieses Programm »antifaschistische Wirtschaftspolitik«. Auch hierzulande kämpfen die Menschen mit Teuerung, Unsicherheit und Abstiegsängsten. (…)
In diese Lücke will die Partei Die Linke mit einem »antifaschistischen Wirtschaftskonzept« stoßen. Es soll die Kluft zwischen Arm und Reich zu Ungunsten der Reichen schließen, soziale Sicherheit für die Lohnabhängigen garantieren und damit auch verhindern, dass eine Rechtspartei wie die AfD immer weiter Zulauf erhält. Gegen dieses Vorhaben ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Damit das Label »antifaschistisch« aber seinen Namen verdient, wären einige Voraussetzungen nötig.
Nationalismus und Klassenkampf
Es ist zwar richtig, dass ein Teil der AfD-Wähler*innen ihre ökonomische Situation als schlecht betrachtet und Abstiegsängste hat. Aber dies geht mit nationalistischen und ausländerfeindlichen Einstellungen einher, die auch schon vor der Gründung der AfD bei einem Teil der Bevölkerung vorhanden waren. Die Annahme, dass eine bessere Sozialpolitik und ein höheres Lohnniveau bereits die zentralen Instrumente sein könnten, um der AfD das Wasser abzugraben, ist nicht nur zu optimistisch, auch die Analyse greift zu kurz.
Mit der Diagnose, dass Sparhaushalte, soziale Unsicherheit und Abstiegsängste rechte Weltanschauungen befördern, lässt sich nicht die Frage beantworten, warum es rechte und nicht etwa linke Auffassungen sind, die davon profitieren. Ein Grund dafür dürfte darin bestehen, dass die Rechten etwas anbieten, das den Menschen vertraut ist: das nationale »Wir«. Die bürgerliche Mitte lebt es vor. Stets geht es um »unsere Wirtschaft«, »unser Land«, »Deutschlands Wohlstand«. Besonders deutlich wird dies in den Debatten über internationale Wettbewerbsfähigkeit, wenn es immer wieder heißt, »wir« müssen oder »Deutschland« muss wettbewerbsfähiger werden. Damit wird unterstellt, dass die Nation eine harmonische Interessengemeinschaft ist. An dieses nationale Framing der bürgerlichen Mitte kann das rechte Gedankengut problemlos andocken. Eine Linke, die sich eine »antifaschistische« Wirtschaftspolitik auf die Fahnen schreibt, muss sich von diesem nationalen »Wir« verabschieden. Es ist nicht nur anschlussfähig für rechte Ideologien, es überdeckt vor allem die Klassengegensätze (…)
Wenn beispielsweise von links für Lohnerhöhungen plädiert wird, weil sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren – die höheren Löhne also nicht allein den Lohnabhängigen, sondern »unserer« Wirtschaft insgesamt zugutekommen –, verbleibt man innerhalb der harmonischen Vorstellung des »Wir«. Zwar wird gesehen, dass es innerhalb dieses »Wir« verschiedene Gruppen gibt, die in unterschiedlicher Weise am Ergebnis beteiligt werden. Die einen bekommen ihren Lohn, die anderen Profit und eine dritte Gruppe Zinsen für geliehenes Kapital. Aber die Illusion bleibt bestehen, es gäbe eine »gerechte« Verteilung, bei der »unsere« Wirtschaft wieder in Schwung kommen würde. Doch ein solcher gerechter Zustand existiert nicht, es gibt nur den Kampf um diese Anteile. Klassenkampf hieß das früher einmal. (…) Auch die Kritik an den »Superreichen« droht aus den Augen zu verlieren, dass nicht deren Reichtum das grundlegende Problem ist, sondern die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die diese Konzentration des Reichtums überhaupt erst ermöglichen. Diese Konzentration ist weder zufällig noch das Resultat einer »verfehlten« Politik. (…) Das alles heißt nicht, dass eine linke Wirtschaftspolitik gar nicht möglich wäre. Sofortmaßnahmen sollten die Schäden, die die kapitalistische Produktionsweise an Mensch und Natur anrichtet, begrenzen. Gleichzeitig sollten sie aber in ein längerfristiges Konzept zur Überwindung des Kapitalismus eingebettet sein…“ Artikel von Sabine Nuss und Michael Heinrich vom 22.11.2024 in ND online – unser Reden… - [Verwaltungswillkür, Attacken auf Menschenrechte und populistische Angstmache] Asyl und Bürgergeld: „Der Rechtsstaat ist nicht in guter Verfassung“
Die Arbeitsrechtlerin Regina Steiner und der Forscher Maximilian Pichl im Interview von Pitt von Bebenburg bei der Frankfurter Rundschau online am 26. September 2024 „über Verwaltungswillkür, Attacken auf Menschenrechte und populistische Angstmache. (…) Steiner: Der deutsche Rechtsstaat ist in keiner guten Verfassung. Weil immer mehr an Grundrechten und sozialen Rechten gerüttelt wird, nicht nur beim Asylrecht. Ich denke an das Bürgergeld, das Hartz IV abgelöst hat. (…) Das Bürgergeld wurde gepriesen als Errungenschaft nach Hartz IV. Die Sätze wurden leicht erhöht. Aber es gibt weiterhin eine Unterdeckung im Bürgergeld. Und es gibt immer noch Sanktionen, die bis zu einer Totaleinstellung von Leistungen reichen. Das halte ich nicht für vertretbar. (…) Artikel 20 des Grundgesetzes garantiert, dass wir ein Sozialstaat sind und die Grundversorgung der Menschen sichern. (…) Pichl: Wir sehen schon seit Jahren eine Kaskade von Vorschlägen in einem Überbietungswettbewerb, bei dem Grund- und Menschenrechte ausgehebelt werden. Es waltet teilweise exekutive Willkür. Es gibt die Idee, eine „nationale Notlage“ auszurufen. Das würde dazu führen, dass nur noch das Primat der Politik gelten würde, nicht das Primat des Rechts. So eine „Notlage“ findet sich zwar in den europäischen Verträgen. Der Europäische Gerichtshof hat sie aber in keinem einzigen Fall für anwendbar erklärt. Nicht jeder europäische Partner soll einfach eine nationale Notlage erklären und das europäische Recht aussetzen können. (…) Außerdem hat weiter jeder Mensch, der um Asyl ersucht, einen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. (…) Wir beobachten eine Art von autoritärer Internationaler, die viele Gemeinsamkeiten hat: den Angriff auf Verfassungsgerichtsbarkeit, den Angriff auf die Menschenrechte, den Ausstieg aus internationalen Pakten. Wir können auch in Deutschland sehen, dass rechte Kräfte erstarken, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aushebeln wollen. Steiner: Ein Schutz der Verfassungsgerichtsbarkeit nützt uns nur wenig, wenn das Land immer weiter nach rechts rückt. Es war die Idee, das Gericht davor zu schützen, dass Rechte Richterinnen und Richter austauschen können, wenn sie an die Macht kommen. Wenn aber die Gesellschaft als Ganze nach rechts rückt, wird uns das nicht viel nützen. (…) Wir haben nach den Anschlägen von Solingen und Mannheim ein Klima, das bedient wird. Dieses Thema bestimmt die Schlagzeilen. Ich will das nicht kleinreden. Aber wenn der Sicherheitsapparat dermaßen aufgerüstet wird, muss man sich schon fragen: Wo kommt die Angst her? Ist die wirklich begründet oder gerade Teil einer populistischen Meinungsmache?“- Siehe zum Thema auch unser Dossier: Am autoritären Kipppunkt: „Law and Order“-Politik hat Konjunktur
- Der andere Konflikt: Zum Erfolg der extremen Rechten, der sozialen Frage und Verteilungskämpfen zwischen Armen und Reichen
„Die Ergebnisse der Landtagswahlen erschrecken nicht nur deshalb, weil die extrem rechte Alternative für Deutschland bislang noch in keiner Wahl so gut abgeschnitten hat und in Thüringen sogar stärkste Partei wurde. Die Wahlerfolge sind auch Ausdruck einer Ethnisierung des Sozialen. Gegenstrategien müssen diesen Umstand berücksichtigen. (…) In Thüringen gaben 49 Prozent der Arbeiter*innen [der AfD] die Stimme, wobei dieser Wert etwas relativiert wird, weil die Kategorisierung als Arbeiter*in einzig auf den Angaben der Befragten beruht. Die Umfrage ergab auch, dass sogar die Wähler*innen aller anderen Parteien in ihrer übergroßen Mehrheit der Meinung sind, dass eine Wende in der Migrationspolitik notwendig ist, »damit weniger Menschen zu uns kommen«. (…) Die soziale Frage wird rassistisch entstellt. Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit sollen nicht als Verteilungsungerechtigkeit zwischen Reichen und Armen, sondern zwischen »Deutschen« und »Fremden« erscheinen. Obwohl die AfD wie keine andere Partei davon profitiert, ist diese Entwicklung nicht ihr Erfolg. Möglich wurde sie durch Bundesregierungen, die zunehmende soziale Verunsicherung konsequent mit einer Politik der Inneren Sicherheit adressiert haben. Kriminalität wurde und wird dabei immer auch kulturalisiert. Restriktive, grundgesetzwidrige Änderungen im Asylrecht werden als vermeintlich wirksame Maßnahmen gegen terroristische Bedrohungen und Kriminalität präsentiert. Und schließlich soll dem so in Gang gesetzten Rechtsruck mit Zugeständnissen an die Rechte begegnet werden, die diese noch weiter stärken. Abschiebungen »in großem Stil« und entsprechende Kooperation mit Islamisten wie den Taliban sind Geländegewinne der Rechten und werden absurderweise als Politik verkauft, die der Gefahr des Islamismus begegnet. Aber auch die Schuldenbremse und ihre kommunalen Auswirkungen bereiten dem rechten Vormarsch den Boden. Statt in Kindergärten, Schulen, Nahverkehr oder Krankenhäuser zu investieren, werden gerade die Kommunen kaputtgespart. (…) Mittelfristig müssen demokratische und fortschrittliche Strukturen und Bündnisse gestärkt und aufgebaut werden. (…) Gleichzeitig muss der Ethnisierung der sozialen Frage der Boden entzogen werden, indem der soziale Charakter von Auseinandersetzungen wieder herausgestellt wird. Diskursiv in der Kommunikation demokratischer Akteure, aber auch praktisch durch soziale Kämpfe. Vor wenigen Monaten setzte die Lokführergewerkschaft die 35-Stunden-Woche durch, ein Beispiel, dem weitere Berufsgruppen folgen werden. Auch Verdi und die Gewerkschaft NGG haben erfolgreiche Arbeitskämpfe geführt und nach einem jahrelangen Abwärtstrend wieder einen Mitgliederzuwachs verzeichnet. Und es ist noch nicht lange her, da wurde Björn Höcke im thüringischen Eisenach von Gewerkschafter*innen und Opel-Arbeiter*innen von einer Kundgebung gejagt. Das war richtig, weil es deutlich machte: Die Faschisten stehen nicht auf der Seite der Arbeiter*innen. Neben konkretem Schutz, breiten Bündnissen und entschlossenem Antirassismus müssen soziale Kämpfe um Wohnen, Arbeiten und Leben organisiert werden, um darin solidarische Ermächtigungserfahrungen zu ermöglichen und Perspektiven zu stärken, die gesellschaftliche Konflikte wieder als das begreifen, was sie sind: Auseinandersetzungen zwischen oben und unten.“ Gastbeitrag von Sebastian Wehrhahn vom 6. September 2024 in Neues Deutschland online - Es liegt nicht (nur) an der Migrationspolitik: Zukunftssorgen, Abwanderung der Jugend, wegbrechende Daseinsvorsorge als Schlüsselfaktoren für Wahlerfolge von AfD und BSW
- [Studie] Einkommen, Demografie und Bildung in den Kreisen sind Schlüsselfaktoren für Wahlerfolge von AfD und BSW – Politik muss mehr in strukturschwache und demografisch ältere Kreise investieren
„… Die in Teilen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Alternative für Deutschland (AfD) und das neu gegründete Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) erzielen vor allem in Regionen mit negativen Strukturmerkmalen Wahlerfolge: Die populistischen Parteien sind im Osten besonders in überalterten Kreisen und solchen mit niedrigem Bildungsniveau stark. Im Westen schneiden sie zusätzlich in Regionen mit niedrigen Einkommen und solchen mit vielen Beschäftigen in der Industrie, deren Jobs von zunehmender Automatisierung bedroht sind, besser ab. Über diese negativen Strukturmerkmale hinaus hängt in westdeutschen Kreisen auch ein hoher Anteil an Menschen ohne deutschen Pass mit der Zustimmung zu AfD und BSW zusammen. Das sind die Kernergebnisse einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). (…) „Unsere Analyse zeigt, dass Migration als Erklärung für die Stärke von AfD und BSW bei der Europawahl 2024 viel zu kurz greift. Die Demografie – dort, wo viele junge, gut ausgebildete Menschen abwandern – ist vor allem für Ostdeutschland ein deutlich wichtigerer Faktor für die unterschiedlichen Ergebnisse in den Kreisen“, so DIW-Präsident Marcel Fratzscher. „Nötig sind Zukunftsinvestitionen, die die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit von strukturschwachen Regionen verbessern. Außerdem braucht es eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die gerade strukturschwächere und demografisch schnell alternde Regionen besser unterstützt“, betont Alexander S. Kritikos, wissenschaftliches Mitglied im Vorstand des DIW Berlin. (…) Im Vergleich zur Europawahl 2019 ist in Deutschland die Zustimmung zu populistischen Parteien um elf Prozentpunkte gestiegen. Dass sich die ungleichen wirtschaftlichen, strukturellen und demografischen Bedingungen in den Kreisen seitdem nicht verbessert haben, sehen die Studienautor*innen als Hauptgrund für den Stimmenzuwachs an. „Die Politik muss mehr tun, um möglichst gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland zu schaffen und Chancen für abgehängte Regionen zu eröffnen“, so Alexander Kriwoluzky, Leiter der Abteilung Makroökonomie im DIW Berlin und Co-Autor der Studie.“ DIW-Pressemitteilung vom 26. Juli 2024 zur Studie im DIW Wochenbericht 30/2024 - Es liegt nicht an der Migrationspolitik
„Zukunftssorgen, Abwanderung der Jugend, wegbrechende Daseinsvorsorge: Vor allem in Ostdeutschland gewinnt die AfD, aber auch das BSW, nicht nur wegen Migration Zuspruch.
Bei den Europawahlen haben viele Menschen in Deutschland die AfD und das BSW gewählt. Das liegt an der Unzufriedenheit mit Migrationspolitik, lautete bisher eine Erklärung. Doch das stimmt nicht. Die Resultate einer neuen Studie bei uns am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zeigen, dass die Demografie die wichtigste Erklärung für die Stärke von AfD und BSW ist, die Migration spielt hingegen eine geringere Rolle, vor allem in Ostdeutschland. Die Ergebnisse unserer Studie widersprechen somit dem gängigen Narrativ, Migration sei das größte Problem und die wichtigste Erklärung für den Aufstieg von AfD und BSW. Wichtigere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist. (…) Unsere Studie zeigt zwar, dass ein höherer Anteil von Zugewanderten, relativ zur Gesamtbevölkerung, im eigenen Kreis dazu führt, dass sowohl AfD als auch BSW höhere Stimmanteile erzielen, allerdings ist das nicht überall der Fall: Sondern dieser Befund gilt nur für Westdeutschland. Nicht aber für Ostdeutschland, obwohl hier der Stimmanteil von AfD und BSW zum Teil zwei- bis dreimal höher ist als im Westen.
Dies ist ein wichtiges Resultat, das jedoch mit Vorsicht interpretiert werden sollte: Es bedeutet nicht, dass Migration irrelevant für die Stärke von AfD und BSW wäre. Es bedeutet, dass der hohe Stimmanteil der beiden Parteien in Ostdeutschland und in bestimmten Kreisen auch in Westdeutschland nicht allein durch Migration erklärt werden kann, sondern auch durch andere Faktoren. Unsere Studie zeigt, dass die Demografie die wichtigste Erklärung für die hohen Zustimmungswerte für die AfD darstellt, in einem geringeren Maß gilt das auch für den hohen Zuspruch für das BSW. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung in einem Kreis ist sowohl bei der AfD als auch beim BSW die wichtigste Variable. Auch ein geringerer Anteil an jungen Menschen mit Abitur scheint einen Einfluss zu haben: Je weniger junge, gut gebildete Menschen in einem Landkreis leben, desto höher sind die Wahlergebnisse für die AfD. (…) Deutlich bedeutsamere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist. Politische Strategien im Umgang mit diesen Sorgen und Ängsten werden wohl scheitern, wenn sie sich allein auf das Thema Migration verengen. Es gibt wichtigere Gründe für die zunehmende politische Polarisierung und die Stärke antidemokratischer Parteien und Positionen als Migration. Erforderlich sind Zukunftsinvestitionen, die die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auch strukturschwächerer Regionen verbessern. Zudem braucht es eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die gerade strukturschwächere und demografisch schnell alternde Regionen besser unterstützt….“ Kolumne von Marcel Fratzscher vom 26. Juli 2024 in der Zeit online
- [Studie] Einkommen, Demografie und Bildung in den Kreisen sind Schlüsselfaktoren für Wahlerfolge von AfD und BSW – Politik muss mehr in strukturschwache und demografisch ältere Kreise investieren
- Europawahl: Zukunftsangst als Wahlentscheidung – Bildung kein Allerheilmittel gegen Rechtsextremismus
„… Der entscheidende Faktor für die Wahl rechtsextremer Parteien ist also nicht Bildung (die hat übrigens auch nichts mit Intelligenz oder Klugheit zu tun), sondern, ob man sich noch eine Zukunft vorstellen kann, in der man eine Rolle spielt und in der es einem gut geht. Wer ein positives Bild von der Zukunft hat, wählt viel seltener rechtsextrem. Darum ist es die Aufgabe demokratischer Parteien, dieses Bild zu zeichnen und umzusetzen. Wer also nicht möchte, dass Menschen die extreme Rechte wählen, muss Bedürfnisse erkennen und adressieren. Das bedeutet aber nicht, den Kulturampf der Rechtsextremisten mitzumachen, sondern (post-)materielle Bedürfnisse bedienen und diese in ein Narrativ für die Zukunft einzubetten. Und das bedeutet auch, sich nicht bürokratisch hinter 100-Seiten-Konzepten zu verstecken (so wichtig diese sind), sondern klar zu machen, wie die eigene Politik den Alltag positiv verändert. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Arikel von Natascha Strobl vom 19.06.2024 in ND online - Befragung zur EU-Wahl: Teilhabemöglichkeiten im Job und gute Arbeitsbedingungen positiv für demokratisches Klima – Transformationssorgen bedrohen es
„Arbeitsbedingungen haben europaweit einen Einfluss darauf, wie Erwerbspersonen zur Demokratie stehen. Das zeigt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, für die rund 15.000 Erwerbstätige und Arbeitsuchende in zehn EU-Ländern befragt worden sind. Erwerbspersonen, die unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind, bei denen die Bezahlung nicht stimmt und die im Job wenig Mitsprachemöglichkeiten haben, haben in Deutschland und zahlreichen weiteren untersuchten Ländern überdurchschnittlich oft negative Einstellungen gegenüber der Demokratie in ihrem Land und gegenüber Zugewanderten. Zudem fühlen sie sich stärker von der Transformation von Wirtschaft und Arbeitswelt bedroht. Bessere Arbeitsbedingungen korrelieren hingegen mit positiveren Einstellungen zur Demokratie und einem höheren Vertrauen in deren Institutionen. Dies gilt auch für das Vertrauen in die Europäische Union…“ Böckler-Meldung vom 03.06.2024 mit detaillierten Befunden zur Studie des WSI aus 10 Ländern, siehe auch:- Die Verteilungsfrage ist der Schlüssel
„Wie dem Rechtstrend begegnen? Indem man die gesellschaftliche Teilhabe verbessert, sagt die WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Die Ampel, die sich bei Sozialstaat und Infrastruktur selbst die Hände gebunden hat, sollte zumindest die Tarifbindung stärken…“ Interview mit Bettina Kohlrausch geführt von Lukas Scholle am 03. Juni 2024 in Jacobin.de - Siehe auch unser Dossier: „Zuspruch der Arbeiter für die AfD unterschätzt“ – der DGB will dagegen v.a. die Politik in die Pflicht nehmen für soziale Sicherheit und Mitbestimmung…
- Die Verteilungsfrage ist der Schlüssel
- Die ökologische Krise, die materiellen Bedingungen sozialer Reproduktion und der Aufstieg des Postfaschismus „Die ökologische Krise hat einen großen Einfluss auf die materiellen Bedingungen sozialer Reproduktion. Sie geht über „Naturkatastrophen“ hinaus und vertieft die dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche. Diese Krise manifestiert sich nicht nur in Überschwemmungen, Dürren und Pandemien, sie befeuert auch Konflikte, soziale Unruhen und massenhafte Vertreibung. Im folgenden Text wollen wir auf die Verbindung von ökologischer Krise und der, wie wir sie nennen, postfaschistischen Bewegung hinweisen. Bei dieser handelt es sich um eine politische und ideologische Strömung, die sich weltweit im Aufschwung befindet. Der Postfaschismus vermag es, die massenhafte Empörung über die sozialen Verhältnisse in Nationalismus, Rassismus und ethnisch-kulturelle Konflikte zu verwandeln, ohne den gegenwärtig herrschenden autoritären Liberalismus infrage zu stellen. Stattdessen ergänzt er ihn, indem er zur Normalisierung von politischen Maßnahmen beiträgt, die einst als extrem und inakzeptabel galten, während er gleichzeitig Feindbilder erschafft, die zur Legitimation dieser Politik beitragen. (…) Ein solch autoritärer Ansatz sorgt dafür, dass die Kosten und Risiken der Klimakrise auf die schwächsten Teile des globalen Proletariats abgewälzt werden, wodurch die Ausbeutung der Natur weiterhin ungehindert fortgesetzt werden kann. Angesichts wachsender Polarisierung und der Verschärfung des Staatsautoritarismus gegen an ihn gerichtete Forderungen wird sich ein signifikanter Teil der „einheimischen“ proletarischen Bevölkerung vermutlich dem herrschenden Autoritarismus fügen und eine autoritäre „Lösung“ für sämtliche sozialen Fragen, einschließlich des Klimawandels, akzeptieren. Dies wird die Spaltungen innerhalb des Proletariats noch weiter vertiefen. Der politische Ausdruck dieses Trends lässt sich im weltweiten Aufkommen einer neuen rechtsextremen Strömung beobachten, die entweder bereits an der Macht ist (in Argentinien, Ungarn oder Italien) oder sich mit autoritären neoliberalen Kräften abwechselt (die sogenannten linken und sozialdemokratischen Parteien, die sich innerhalb der letzten 35 Jahre zu neoliberalen Parteien gewandelt haben, eingeschlossen). In beiden Fällen wurde die Entmenschlichung undokumentierter Migrant:innen und ausgeschlossener Staatsbürger:innen (Rom:nja und Sinti:zze, Drogenabhängige und Wohnungslose) zur Normalität. Indem sie sich als Rebellen gegen „das System“ ausgeben, schafft es diese neue rechtsextreme Strömung die reaktionärsten und unzufriedensten Teile des Proletariats und des Kleinbürgertums massenhaft für die Wiederherstellung der nationalen Homogenität und sozialen Stabilität, d. h. für die gewaltsame Wiederherstellung der Einheit des Reproduktionskreislaufs des nationalen sozialen Kapitals, zu gewinnen. Dem ungarischen Marxisten Gaspar Miklos Tamás folgend, bezeichnen wir diese Strömung als postfaschistisch. Damit wird eine Form von Politik bezeichnet, die Elemente des Neoliberalismus, des Nationalismus, des libertären Individualismus und der modernen Demokratie vereint. Zugleich wird die Surplusbevölkerung, formell oder informell, aus dem Kreis der Staatsbürger:innen ausgeschlossen. Man exkludiert folglich den Teil der Bevölkerung, der nicht einmal mehr seine Arbeitskraft verkaufen kann, weshalb er sich ausschließlich durch „humanitäre“ Hilfsprogramme und die „informelle“ Wirtschaft am Leben erhält, und der den größten Teil der Bevölkerung der ärmsten Länder und einen beträchtlichen Teil in den entwickelten Ländern ausmacht…“ Beitrag von Antithesi vom 8. April 2024 in Communaut („Die ökologische Krise und der Aufstieg des Postfaschismus“)
- Regionalpolitik wirkt gegen Populismus: „100 Euro pro Kopf reduziert Stimmen für Rechts um 0,5 Prozentpunkte“ „Öffentliche Investitionen in die Entwicklung strukturschwacher Regionen reduzieren die Unterstützung für rechtspopulistische Parteien. Dies zeigen aktuelle Forschungsergebnisse des IfW Kiel. Untersucht wurde der Einfluss europäischer Regionalförderung auf die Ergebnisse bei Europawahlen. In geförderten Regionen sank der Stimmanteil rechtspopulistischer Parteien im Durchschnitt um 15 bis 20 Prozent oder 2 bis 3 Prozentpunkte. Gleichzeitig stieg das Vertrauen in demokratische Institutionen, während die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union (EU) abnahm. Die Unterstützung linkspopulistischer Parteien blieb unbeeinflusst. „Vor den Europawahlen im Juni befinden sich rechtspopulistische Parteien in fast allen Mitgliedsstaaten im Aufwind. Unsere Forschung zeigt, dass Regionalförderung diesem Trend effektiv entgegenwirken kann“, sagt Robert Gold, Kiel Institute Senior Researcher und Mitautor des heute erschienenen Kiel Policy Briefs Paying off Populism: EU-Regionalpolitik verringert Unterstützung Populistischer Parteien , der auf einem Kiel Working Paper basiert. Robert Gold und Jakob Lehr (Universität Mannheim) analysierten die Europawahlergebnisse in 27 EU-Ländern über den Zeitraum von 1999 bis 2019 mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden, um die Auswirkungen der EU-Regionalpolitik auf die regionalen Stimmanteile populistischer Parteien zu bestimmen…“ Meldung vom 9.04.2024 von Kiel Institut für Weltwirtschaft zur (darin verlinkten) Studie
- Ifo-Institut: Rechtspopulistische Wähler für Abbau des Sozialstaats
„Wähler rechtspopulistischer Parteien sprechen sich stärker für den Abbau des Wohlfahrtsstaats aus, um im Wettbewerb mit anderen Ländern bestehen zu können. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage unter 12.000 Wählern in Deutschland, Frankreich, Spanien und dem Vereinigten Königreich. „Das rechtspopulistische Spektrum sieht im Sozialstaat eine Umverteilung hin zu Zuwanderern“, sagt Marcel Thum, Leiter der ifo-Niederlassung in Dresden…“ Pressemitteilung vom 5. April 2024 des Ifo-Instituts – in der Studie werden dem gegenüber allerdings „linkspopulistische Wähler“ gestellt, was es auch immer sei - Bericht des Europarats: Deutschland tut zu wenig gegen Armut und Wohnungsnot und sollte Fremdenfeindlichkeit und Rassismus besondere Aufmerksamkeit widmen
- Bericht des Europarats: Deutschland tut zu wenig gegen Armut und Wohnungsnot
„In Deutschland wächst nach Ansicht des Europarats die soziale Ungleichheit: In einem Bericht wird die Bundesregierung aufgefordert, mehr dagegen zu unternehmen. Der Europarat rückt dabei drei Tätigkeitsfelder in den Fokus.
Ein Bericht des Europarats zu Deutschlands Sozialpolitik stellt der Bundesrepublik kein gutes Zeugnis aus: Darin fordert der Europarat mehr Anstrengung bei der Bekämpfung von Armut, Wohnungslosigkeit und Ausgrenzung. Das hohe Maß an Armut und sozialer Benachteiligung stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes, heißt es in dem Bericht. (…) Besondere Aufmerksamkeit sollte demnach auch dem wachsenden Rassismus gewidmet werden, der das Potenzial habe, den sozialen Zusammenhalt zu untergraben und demokratische Institutionen zu destabilisieren, heißt es in dem Bericht. Aus Berlin hieß es dazu, die Bundesregierung arbeite „derzeit an einer neuen Strategie“ mit einem „umfassenden Ansatz“, der „repressive“ und „präventive“ Ansätze“ umfassen soll.
„Wohnungslosigkeit mit allen Mitteln bekämpfen“
Über die zunehmende Zahl wohnungsloser Menschen zeigte sich Mijatovic besorgt. Das Recht auf Wohnen als Menschenrecht für alle werde leider nur begrenzt anerkannt. Um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen, seien umfassende und langfristige Maßnahmen nötig. Deutschland müsse alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, einschließlich Eingriffen in den Wohnungsmarkt und Änderungen des Mietrechts…“ Beitrag vom 19.03.2024 in tagesschau.de zu: - Deutschland: Menschenrechtsversprechen einlösen und den Zugang zu sozialen Rechten verbessern
„Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, veröffentlichte heute den Bericht über ihrem Besuch in Deutschland vom 27. November bis 1. Dezember 2023 mit Empfehlungen zu den verfügbaren Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Menschenrechten und zum Zugang zu sozialen Rechten, insbesondere dem Schutz vor Armut und dem Recht auf angemessenen Wohnraum. (…) Besondere Aufmerksamkeit sollte der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus gewidmet werden, die das Potenzial haben, den sozialen Zusammenhalt zu untergraben und demokratische Institutionen zu destabilisieren“, betont sie…“ PM der Menschenrechtskommissarin vom 19. Marz 2024 , siehe dazu:- Bericht des Kommissars über Deutschland (Englisch)
- Kommentare der deutschen Behörden zum Bericht des Kommissars (Deutsch)
- Bericht des Europarats: Soziale Menschenrechte in Deutschland nur unzureichend verwirklicht
Pressemitteilung des Menschrechtsinstituts vom 19.03.2024 - Der Europarat hat Deutschland einen Besuch abgestattet und beklagt ein hohes Maß an Armut und sozialer Benachteiligung
Beitrag vom 19. März 2024 von und bei Stefan Sell
- Bericht des Europarats: Deutschland tut zu wenig gegen Armut und Wohnungsnot
- ifo: Mehr Armutsgefährdung führt zu mehr Stimmen für Rechtsextreme
„Mehr Armutsgefährdung in einer Region führt zu mehr Stimmen für Rechtsextreme. Zu diesem Ergebnis kommen Berechnungen des ifo Instituts. Wenn der Anteil von Haushalten unter der Armutsgrenze um einen Prozentpunkt steigt, steigt der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien um 0,5 Prozentpunkte bei Bundestagswahlen. „Das ist statistisch und politisch bedeutsam“, sagt ifo-Forscher Florian Dorn. Denn zwischen 1998 und 2017 ist der Anteil der ärmeren Haushalte um 1,9 Prozentpunkte gestiegen. Die Armutsgrenze ist hierbei definiert als 60% des mittleren Einkommens. „Örtlich kann ein Nährboden für demokratiefeindliche und nationalistische Strömungen entstehen, je mehr Haushalte einer Region nicht mehr mit der nationalen Einkommensentwicklung Schritt halten und abgehängt werden“, sagt ifo-Forscher Florian Neumeier. Das zeigt ein anderes Maß: Erhöht sich die Armutslücke um einen Prozentpunkt, steigt der Stimmenanteil rechtsextremer Parteien sogar um 1,2 Prozentpunkte. Die Armutslücke misst den durchschnittlichen Abstand der Haushaltseinkommen zur Armutsgrenze. Dabei zeigt sich, dass die Effekte in Ostdeutschland deutlich stärker sind als im Westen…“ Pressemitteilung vom 13. März 2024 von ifo mit weiterführenden Hinweisen - [Rechtspopulismus und Sündenbocksuche in Zeiten des Wandels] Asylbewerber, Bürgergeld-Bezieher oder Grüne: Die Jagd auf Sündenböcke
„… Das Bedürfnis nach Sündenböcken ist in der Bevölkerung nicht zu allen Zeiten gleich vehement. Wenn es den Leuten leidlich gut geht und sie sich keine großen Sorgen um ihr tägliches Auskommen machen müssen, kommt es beinahe zur Ruhe. Sie benötigen dann keine Objekte, auf die sie ihre Malaise verschieben können. Ein gut ausgebauter und intakter Sozialstaat, der es nicht zulässt, dass Menschen aus der Gesellschaft herausfallen und verelenden, ist die beste Vorsorge gegen Minderheitenhatz. Ganz verschwinden wird dieses Bedürfnis indes nie, denn es ist keine Gesellschaft denkbar, die gänzlich ohne Verdrängung und Verzichtsleistungen auskommt. Überall dort, wo verdrängt werden muss, werden wir in unterschiedlichsten Verdünnungen auch auf das Bedürfnis stoßen, andere für die auferlegten Versagungen verantwortlich zu machen und sich an ihnen schadlos zu halten.
Bargeld vs. Bezahlkarten: Erst Asylsuchende, dann wer? Aktuellstes Beispiel ist die Debatte um Bezahlkarten statt Bargeld als Lohnersatzleistung – zunächst für Asylsuchende, wie es Bund und Länder bereits auf den Weg gebracht haben – vorgeblich, um zu verhindern, dass Teile des bescheidenen Betrags an Angehörige im Ausland transferiert werden. (…)
Sie sollen keine festen Bindungen mehr eingehen, sondern sich auf mehr oder weniger nomadische Existenzweisen und ständig sich wandelnde Lebens- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Das fällt nicht allen Menschen leicht, viele wünschen sich alte Gewissheiten und stationäre Lebensverhältnisse zurück.
Rechtspopulismus und Sündenbocksuche in Zeiten des Wandels
Ihre Fähigkeit, Veränderungen verarbeiten zu können, ist erschöpft, sie wollen, dass sich endlich nichts mehr ändert und alles so bleibt wie es ist, oder sogar wieder so wird, wie es mal war. Das scheint der subjektive Nährboden für den rechten Populismus zu sein. Und für die Spaltung der Gesellschaft in Gruppen und Schichten, die für Veränderungen offen und bereit sind und von ihnen profitieren, und solche, die genug davon haben und durch die ökonomisch und sozial verlieren.
Migration als Symbol für das Neue und Fremde, das ängstigt
Bei letzterer Gruppe ist das Bedürfnis nach Sündenböcken besonders virulent. Migranten und Asylsuchende symbolisieren all das Fremde, was neu ist und ängstigt. Gegen sie sollen Grenzen hochgezogen und ihr Zuzug eingeschränkt werden.
Die Grünen gelten als die politische Kraft, die den Wandel vorantreibt, deshalb konzentriert sich der Hass vieler auf sie. Seit Monaten werden ihre Repräsentanten überall, wo sie auftreten, ausgebuht, niedergebrüllt, beschimpft und beleidigt. (…)
Das Sündenbockbedürfnis wird erst zur Ruhe kommen, wenn den Menschen durch die herrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse in weniger Bosheit eingepresst wird.“ Beitrag von Götz Eisenberg vom 29. Februar 2024 in Telepolis- Siehe aktuell zur Bezahlkarte unser Dossier: Erhöhung der Asylbewerberleistungen: Die Regierung steht in der Pflicht [Denkste! Bezahlkarte!]
- Gegen rechten Populismus: Wie soziale Sicherheit Verunsicherung bekämpft
„Rechter Populismus befeuert Ängste, bietet aber keine Lösungen. Ein wirksames Gegenprogramm könnte in sozialer Sicherheit liegen.
Unsere Gesellschaft steht mit einer sich stetig verändernden Arbeitswelt vor großen Herausforderungen. Menschen haben Sorge, dass es ihnen in Zukunft schlechter geht. Der neuen Rechten spielt das zu, deshalb befeuert sie Ängste und Sorgen weiter, obwohl sie keine Antworten auf drängende Probleme hat. Klare Ansagen für gute Löhne und sichere Arbeit, bezahlbare Wohnungen, gute Bildung und Sicherheit im Alter oder Tarifbindung sucht man in den rechten Wahlprogrammen vergebens. Statt eine echte Umverteilungsdebatte zu führen wird versucht, Menschen gegeneinander aufzustellen.
(…) Wer Demokratie will, darf nicht Sozialleistungen runterschrauben. Menschen müssen abgesichert sein, wenn sie arbeitslos werden oder mit Erwerbsminderung durchs Leben gehen. Sie müssen sich bei Krankheit auf gute Behandlung vor Ort verlassen können. Und auf Weiterbildung und Zukunftsperspektiven, wenn die Arbeitswelt digitaler und klimagerechter wird. Kinder brauchen gute Bildung und im Alter brauchen Menschen eine Rente, die zum Leben reicht.
Als wirksames Programm gegen rechten Populismus muss die Ampel deshalb mutig und einig sein, ihre Versprechen verlässlich einzulösen: Insbesondere beim Kampf gegen Kinderarmut, aber auch für ein anständiges Niveau bei den Renten und bei der Kranken- und Pflegeversicherung.
Weil für alle Kinder genug Geld da sein muss für Frühstück, Schwimmbad und Sportverein, fordern wir Gewerkschaften eine gute Kindergrundsicherung. Eltern dürfen sich nicht die Hacken wundlaufen, um die Leistung zu bekommen; sie muss aus einer Hand kommen. Wenn wir wollen, dass mit dem Alter keine Armut kommt, liegt das Minimum fürs Rentenniveau bei 48 Prozent. Ob der Gang an die Kapitalmärkte für die Rente als Idee für mehr Sicherheit taugt, ist offen. In jedem Fall eine schlechte Idee ist, Menschen noch viel länger arbeiten zu lassen…“ Artikel von Anja Piel (DGB) vom 15.02.2024 in der FR online , siehe auch:- Die Ampel verliert die Mitte und die Armen – an die AfD
„Die Ampel wird immer unbeliebter. Dabei verliert sie vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Und sie verliert sie ausgerechnet an die AfD. Gegen den Aufstieg der Rechten hilft nur eins: Politik für kleine Geldbeutel…“ Artikel von Maurice Höfgen vom 15. Februar 2024 in Jacobin.de
- Die Ampel verliert die Mitte und die Armen – an die AfD
- [Interview mit Soziologen Linus Westheuser zur moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen] „Der Begriff der Arbeit wird gerade von rechts besetzt“
„ZEIT ONLINE: Herr Westheuser, die politische Linke in Deutschland steht gerade vor einem Rätsel: Die Reallöhne in Deutschland sind in den letzten zwei Jahren so rasant gefallen wie in keinem anderen EU-Land, gleichzeitig haben die größten deutschen Unternehmen in den beiden zurückliegenden Quartalen Rekordgewinne eingefahren. Aber die einzige verteilungspolitische Debatte dreht sich derzeit um eine Erhöhung des Bürgergelds. Wie ist das zu erklären?“ – „Der Verteilungskonflikt zwischen Oben und Unten spielt in aktuellen Debatten kaum eine Rolle“, sagt der Soziologe Linus Westheuser im Interview von Robert Pausch in Zeit Online am 1. Februar 2024 : „Der Verteilungskonflikt zwischen Oben und Unten, der die Politik lange Zeit prägte, ist heute gesellschaftlich demobilisiert. Es gibt zwar nach wie vor Interessengegensätze zwischen Besitzenden und Lohnabhängigen, Reichen und Armen. Aber politisch wird daraus ganz offenbar keine Energie mehr gewonnen. In der Bevölkerung gibt es eine starke Kritik an der wachsenden Ungleichheit, die aber kaum in politische Forderungen nach verstärkter Umverteilung übersetzt wird. (…) Gerade in einer solchen Situation der Demobilisierung werden diese Debatten zunehmend von einer moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen dominiert. Menschen, die das Gefühl haben, ihre Leistung würde nicht honoriert, grenzen sich dann eher nach unten ab, von denen, die es vermeintlich leichter haben als man selbst. (…) Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung sind beide ein institutionelles Erbe des demokratischen Klassenkampfs. Sie wurden eingeführt, weil die Gefahr der Arbeitslosigkeit als Schicksal aller Arbeitenden galt und weil man sah, dass die Verfügbarkeit einer Reservearmee von Arbeitslosen auch die Löhne derer drückt, die in Arbeit sind. Andererseits ging es aber auch darum, die Lebensbedingungen der Menschen vor der Unberechenbarkeit der Märkte und wirtschaftlichen Krisen zu schützen. Die Sicherungssysteme wurden so als Sozialeigentum, als ein kollektiver Ersatz für fehlendes Privateigentum verstanden. Wenn man heute über dieses System spricht, als handelte es sich um eine Art Charity für gesellschaftliche Außenseitergruppen, dann ist das symptomatisch für eine historische Schwäche der politischen Linken. Denn es ließe sich ja auch ganz anders über das Bürgergeld sprechen. (…) Ich glaube, die Logik der Lohnverhandlungen wäre für die meisten eigentlich sehr eingängig. Man könnte aber auch ganz anders herangehen und beispielsweise sagen: Gerade in Krisenzeiten müssen wir alle zusammenhalten. Da würden vermutlich auch viele mit dem Kopf nicken. Aber grundsätzlich stimmt der Befund: Das konservative Lager scheint aktuell besser darin zu sein, den Common Sense, das moralische Alltagsgefühl der Menschen zu adressieren. Und das ist entscheidend. Denn Menschen folgen in der Mehrheit keinen kohärenten ideologischen Weltbildern, sondern eher intuitiven Grundüberzeugungen, die man entweder politisch trifft oder eben nicht. (…) In unserer Studie zu den Triggerpunkten sehen wir, dass von allen Parteien die AfD-Wählerschaft besonders stark der Meinung ist, dass es heute „nicht genügend Respekt für hart arbeitende Menschen“ gebe. Gleichzeitig wenden sie sich gegen sozialstaatliche Umverteilung. Um zu sehen, dass das ein Widerspruch ist, braucht man ein Verständnis, das die gemeinsamen Interessen der Arbeitenden in den Vordergrund stellt. Die Sozialdemokratie hat aber verlernt, in diesen Begriffen zu denken. Deshalb kann sie der rechten Rhetorik nichts entgegensetzen. (…) Die soziale Frage ist keine Robin-Hood-Veranstaltung, in der es nur um die Allerärmsten geht. Die ganz große Mehrheit ist nicht so wohlhabend, dass sie alle Widrigkeiten des Alltags mit Geld lösen kann. Unser Reichtum besteht in allererster Linie in der kollektiven Infrastruktur. Und in der Stärke von Organisationen, die im Interesse einfacher Leute gegen den Drall des Wirtschaftssystems anarbeiten. Es gibt bei all dem genug Themen, wo die Mehrheit mit dem Kopf nickt.“ - »Bemerkenswertes Paradox«: AfD-Wähler würden laut Studie am stärksten unter AfD-Politik leiden
„Laut Umfragen würden 20 Prozent der Befragten aktuell ihr Kreuz bei der AfD setzen. (…) Eine neue Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt nun allerdings fest: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wählerinnen und Wähler. (…) Demnach würden die Unterstützerinnen und Unterstützer der AfD in fast allen politischen Bereichen unter der Politik der Partei leiden: sowohl hinsichtlich Wirtschaft und Steuern, als auch beim Klimaschutz, der sozialen Absicherung, ebenso bei Demokratie und Globalisierung. Die Analyse zeige etwa, dass die AfD für eine »extrem neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik« stehe, da sie etwa die Rolle des Staates beschneiden und die Macht des Marktes vergrößern wolle. In der Sozialpolitik wünsche sich keine Partei stärkere Einschnitte, schreibt Studienmacher Marcel Fratzscher auch auf X, ehemals Twitter. (…) »Wie kann es sein, dass ein Fünftel der Bürger*innen die Politik einer Partei unterstützt, die stark dem eigenen Wohlergehen und den eigenen Interessen zuwiderläuft?«, fragt Fratzscher auf X. Das liege, so seine Studie, etwa an einer falschen Selbsteinschätzung vieler AfD-Anhängerinnen und Anhänger als auch an einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Realität. (…) Viele der AfD-Wählerinnen und Wähler würden nicht realisieren, dass sie selbst stark negativ von einer »Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung« betroffen wären: »So wären vor allem AfD-Wähler*innen von Arbeitsplatzverlusten, einer schlechteren Infrastruktur und weniger Leistungen, einer Schwächung der Europäischen Union oder Steuersenkungen für Spitzenverdiener*innen stark negativ betroffen«, heißt es in der Studie. (…) »Nicht wenige AfD-Wähler*innen sind überzeugt, dass eine Rückabwicklung der Globalisierung, ein erstarkender Nationalismus sowie eine neoliberale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ihnen persönlich bessere Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und bessere Chancen verschaffen würden. Dabei würde genau das Gegenteil passieren.«“ Meldung vom 21. August 2023 im Spiegel online – siehe detaillierter bei DIW selbst : Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen - So könnt ihr die AfD schlagen. Studien: Mehr Sozialpolitik verhindert die AfD, nicht Rechtspopulismus
„Die Politik zerfleischt sich gerade gegenseitig mit Schuldzuweisungen um den Aufschwung der AfD. Die einen geben der Ampel die Schuld, die wirklich keine gute Figur macht, andere der Union, FDP und Hubert Aiwanger, die mit den gleichen rechtspopulistischen Narrativen und Fake News der AfD die Ampel angreifen. (…) Doch so werden wir die AfD nie schlagen, so helfen wir ihr. Der Blick in die Wissenschaft zeigt, was man stattdessen braucht: Dafür brauchen wir ordentliche Sozialpolitik, die auch den Menschen zugutekommt, die Angst vor Armut und sozialem Abstieg haben. (…) Das würde nicht nur helfen, die AfD zu schwächen, sondern auch langfristig Deutschlands Wirtschaft zu stabilisieren. Und den Menschen helfen, die wegen der vielen Krisen in Schwierigkeiten stecken. Wenn Deutschland nämlich noch weiter nach rechts rückt, würde die AfD unsere Wirtschaft erst richtig auf Talfahrt schicken. Wirtschaftsvertreter sind vom AfD-Hoch bereits besorgt. (…) Eine im März erschienene Studie untersuchte am Beispiel Pakistan, wie finanzielle Hilfsprogramme die politische Einstellung von Bürger:innen beeinflusst. Die Studie wurde von Forscherinnen des International Food Policy Research Institute und der Universität Berkeley, Kalifornien, durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht nur für Pakistan relevant: Je stärker sich Bürger:innen von Einkommensungleichheit betroffen fühlen, desto weniger vertrauen sie der Regierung und desto weniger unterstützen sie demokratische Institutionen. (…) Auch Forscher:innen der Universität Harvard untersuchten bereits den Zusammenhang zwischen Sozialprogrammen und Wahlverhalten. Sie kamen zum Schluss, dass populistische Parteien dort schlechter abschneiden, wo Länder mehr für soziale Unterstützung ausgeben und wo die Ausgaben im Vergleich zu den früheren Niveaus nicht gesenkt wurden. (…) Eine Studie von Autoren der Universitäten Oxford, Mannheim und Zürich zeigt, wie steigende lokale Mietpreise die Unterstützung für rechtsradikale Parteien steigen lässt. In anderen Worten: Wenn Mieten steigen, wählen mehr Leute die AfD. (…) Die beiden größten Milieu-Gruppen, die die AfD wählen, kommen aus dem nostalgisch-bürgerlichen Milieu sowie aus der adaptiv-pragmatischen Mitte. Beide verbindet, dass die Wähler:innen nicht unbedingt akut von sozialem Abstieg betroffen sein müssen, jedoch große Angst vor einem Verlust ihres Status Quo haben. Genau an dieser Stelle sollte mehr Sozialpolitik ansetzen: anstatt sich in Debatten ums Gendern zu verlieren – angestoßen übrigens überwiegend von AfD und Union -, könnten die regierenden Parteien genau diesen Wähler:innen mehr Sicherheit bieten, indem beispielsweise der Mietpreisanstieg eingebremst würde…“ Analyse von Sophie Scheingraber vom 26. Juli 2023 beim Volksverpetzer mit Links zu den genannten Studien - Mindestlohn wegen der Inflation erhöhen: Mehr Geld – gegen die AfD
„Fast ein Viertel der Beschäftigten bekommt weniger als 14 Euro brutto. Das zeigt schlaglichtartig, dass der Mindestlohn von 12 Euro zu niedrig ist.
Superreiche und Bitterarme – das gibt es in den USA. Bei uns hingegen, im rheinischen Konsenskapitalismus, ist das anders. Dieses Selbstbild der deutschen Gesellschaft ist wetterfest, ja fast unzerstörbar. Und eine Täuschung. Diese Gesellschaft ist nicht egalitär. Weil krasse Ungleichheit reflexartig verdrängt wird, löst die Nachricht, dass derzeit fast ein Viertel aller Beschäftigten weniger als 14 Euro brutto bekommt, Erstaunen aus. Der bundesdeutsche Niedriglohnsektor ist nicht vom Himmel gefallen. Seine Ausweitung war das Ziel von Schröder und Rot-Grün. In Ostdeutschland arbeiteten 2007 fast die Hälfte aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Das ist übrigens ein Euphemismus für: Arm trotz Arbeit. Also alles rabenschwarz? Nein. Löhne sind kein Effekt einer unsteuerbaren Globalisierung, sondern politisch regulierbar. (…) Nötig ist nun ein politischer Eingriff: Die Mindestlohnkommission, die bloß Cent-Erhöhungen will, muss gezwungen werden, die Inflation stärker zu beachten. Das ist ein Gebot der Moral und der politischen Klugheit. Denn zu viel Ungleichheit fördert nachweislich die Neigung, AfD zu wählen.“ Kommentar von Stefan Reinecke vom 27.7.2023 in der taz online – einer von vielen in dieser Richtung (zuerst im Dossier: Mindestlohnanpassung gegen die Stimmen der Gewerkschaften beschlossen: Ab 1. Januar 2024 gibts inflationäre 41 Cent mehr) - Bürgergeld: Jeder dritte Arbeitslose wählt AfD – und schneidet sich damit ins eigene Fleisch
„… In keinem Milieu ist die AfD so erfolgreich wie bei den Arbeitslosen! Liegt es an der frustierenden Lebenssituation der Erwerbslosen, besonders der Bürgergeld-Bezieher? Laut einer INSA-Umfrage für die „Bild“ würden aktuell 30 Prozent aller Arbeitslosen die AfD wählen. Zum Vergleich: Bei den Menschen im Ruhestand sind es nur 14 Prozent, bei den Azubis lediglich 13 Prozent. Doch die Bürgergeld-Bezieher sollten besser mal in das AfD-Programm schauen. Ein Kreuz bei der selbsternannten Alternative für Deutschland kann sonst schnell zum Eigentor werden! Bürgergeld weg: DAS will die AfD: Die AfD-Fraktion im Bundestag hält nichts vom Bürgergeld, das die Ampel zum Jahreswechsel einführte. Jedoch keineswegs, weil sie die Sätze für zu gering hält! Stattdessen wirbt die Partei für eine „aktivierende Grundsicherung“. (…) Wer also Ärger mit dem Jobcenter hat, bekommt prompt nur noch Sachleistungen. Außerdem wird man als Bürgergeld-Empfänger zur Zwangsarbeit verdonnert. Kleinwächter drückt das noch Stammtisch-konformer aus: Die Leute sollten „nicht verlernen, in der Früh auftzustehen. Damit sie nicht lernen, auf der Couch zu liegen.“ Das Bild, das der führende AfD-Politiker von Arbeitslosen zeichnet, ist also ziemlich klischeebehaftet und negativ: Er verdächtigt sie, faul zu sein und zu schmarotzen. Mit dem AfD-Modell müssten sie rigorosere Sanktionen befürchten. In einem Antrag im Bundestag forderte die AfD im Herbst 2022, dass Arbeitslose zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden sollten, wenn sie mehr als sechs Monate Grundsicherung beziehen und körperlich fit genug sind. Die Fraktion nennt das „Bürgerarbeit“ und sieht 15 Stunden pro Woche vor…“ Artikel von Marcel Görmann vom 17.07.2023 in derwesten.de
Siehe zu Sozialpolitik und die AfD auch im LabourNet Germany:
- In ähnliche Richtung argumentieren auch einige Beiträge im Dossier: „Die Zeitenwende“: 100 Milliarden (nur) für die Aufrüstung
- Und als anderes Mittel geen die AfD wird nun ihr Verbot diskutiert: Die Debatte um ein Verbot der AfD ist eröffnet und soll die antifaschistische Bewegung stärken
- Dossier: [AfD-Rentenkonzept] Der national-soziale Anstrich der AfD
- Dossier: Zuckerbrot und Peitsche: AfD-Verein will Beschäftigte und Rentner mit sozial gefärbter Marktrhetorik ködern. Was tun Gewerkschaften dagegen?
- Am autoritären Kipppunkt: In Deutschland werden autoritäre Ereignisse mehr, politische Räume enger. „Law and Order“-Politik hat Konjunktur.
- 2 gute Dokumentationen zeigen: Wo Neonazis die Mitte der Gesellschaft sind