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Ungebrochene Polizeigewalt in den USA: Im Jahr 2022 wurden 1176 Menschen im Dienst getötet und 2023 geht es so weiter
Dossier
„Es ist, als hätte es »Black Lives Matter«, eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der USA, nie gegeben: Laut der gemeinnützigen Initiative »Mapping Police Violence« haben US-Polizeibeamt*innen im vergangenen Jahr 1176 Menschen im Dienst getötet – so viele wie nie zuvor. Eine traurige Bilanz des gescheiterten gesellschaftlichen Wandels. »Reformieren oder abschaffen?« – innerhalb der US-amerikanischen Linken dreht sich die Diskussion um die Tötungen der Polizei oft um diese vereinfachende Gegenüberstellung. Doch trotz der institutionellen Dysfunktion und des offensichtlich tief verwurzelten Rassismus lässt sich das Problem der grassierenden Polizeigewalt in den USA nicht darauf reduzieren (…) »Anstatt die Armen in Sozialwohnungen unterzubringen, steckt man sie in Gefängnisse«, so der Politikwissenschaftler Cedric Johnson in einem Interview mit dem Magazin »Jacobin« . Polizeireformen alleine werden die USA nicht befrieden.“ Kommentar von Julian Hitschler vom 5. Januar 2023 in Neues Deutschland online („Gewaltsame Konfliktlösung“) und dazu:
- Polizeigewalt in den USA: Rufe nach einer Polizeireform
„… Folgenlos bleibt der gewaltsame Tod des Schwarzen Tyre Nichols nicht. Die Polizei von Memphis im US-Bundesstaat Tennessee hat inzwischen sechs Beamte entlassen, weil sie gegen interne Vorschriften verstoßen haben. Im Fall des doppelt beinamputierten Afro-Amerikaners Anthony Lowe lassen Konsequenzen noch auf sich warten. Er wurde durch die Polizei in Los Angeles erschossen wenige Tage nach der brutalen Ermordung von Tyre Nichols auf den Straßen von Memphis. Nun werden wieder Rufe nach einer Polizeireform laut. Seit dem Mord an George Floyd vor fast drei Jahren ist das Bewusstsein über die Auswüchse der Polizeigewalt zwar gewachsen, eine Lösung des Problems aber noch nicht gefunden. An Ansätzen für eine Polizeireform fehlte es in den vergangenen Jahren nicht. Bittere Ironie ist, dass diese Reformen oft zu Verschlimmerungen führen. Los Angeles und Memphis sind seit über zehn Jahren Pioniere bei den Experimenten mit der »vorausschauenden« Polizeiarbeit. Mittels technologischer Wundermittel – ursprünglich Software von IBM – sollten Polizisten mit Mitteln ausgestattet sein, Verbrechen im Voraus zu bekämpfen. (…) Vorausschauende Polizeiarbeit bedeutet, dass Armenviertel noch mehr und noch sinnloser überwacht werden. Die Algorithmen verstoßen brutal gegen die Annahme der Unschuld des Einzelnen. Jeder Bewohner in einem Problemviertel wird nun öfter und stärker erfasst, durch immense Informationsströme, die nicht durch einen Polizisten, sondern durch Algorithmen interpretiert werden. Weil das nicht reicht, um Kriminalität zu verhindern, wird den Polizei-Einheiten mehr Gewalt gestattet. Auch waren diese Einheiten in Memphis meist in Zivil unterwegs. (…) In Memphis war die Hauptbeschäftigung der Eingreiftruppe das Anhalten von Autos, und zu 90 Prozent wurden diese Autos von jungen, schwarzen Männern gefahren. Die Eskalationsgeschwindigkeit war berüchtigt: Ein Bürger wurde gestoppt, und dann stürmten die Offiziere aus ihren Wagen. Nur konnten die Opfer dieser Methoden nie sicher sein, mit wem sie es zu tun hatten, denn die Polizisten waren nicht zu erkennen, sie sahen aus wie eine enorm aggressive Gruppe. Das machte Angst und führte unweigerlich zu Fluchtversuchen wie im Fall von Nichols. Etliche junge Männer erzählen solche Geschichten aus Memphis. Nur Tyre Nichols war anders; er hatte die schwere Krankheit Morbus Crohn. Obwohl er fast zwei Meter lang war, war er extrem schlank und bekam schnell innere Blutungen. Mag sein, dass die meisten jungen Schwarzen in Memphis robuster sind, Tyre Nichols war es nicht. 20 Minuten hat es gedauert, bis die angekommenen Notfallsanitäter sich ernsthaft mit ihm beschäftigt haben; die Hilfe kam zu spät. (…) Polizeilicher Übereifer bedeutete für den amputierten Anthony Lowe in Los Angeles den Tod durch Polizeikugeln: Lowe hatte mit einem Messer einen 46-jährigen Mann niedergestochen, ohne lebensgefährliche Folgen. Lowe verlor vergangenes Jahr beide Beine, laut seiner Familie bei einem Vorfall mit der Polizei in Texas. Diese Woche wollte er seine Prothesen abholen. Dazu kommt es nicht mehr. US-Amerikaner sind ein Volk der Haudegen, mit dem Motto: Viel hilft viel. Bei Polizeiarbeit wird dieses Motto ad absurdum geführt.“ Artikel von Anjana Shrivastava vom 7. Februar 2023 in Neues Deutschland online - Polizeigewalt in den USA: Immerhin lokale Lichtblicke – trotz neuem Fall in Memphis
„… Die USA diskutieren einen neuen Fall tödlicher Polizeigewalt: In Memphis, Tennessee, hatten am 7. Januar mehrere Beamte den 29-jährigen Afroamerikaner Tyre Nichols nach einer Verkehrskontrolle zusammengeschlagen sowie Pfefferspray und Elektroschocker eingesetzt. Nichols, der während der Festnahme gewaltlos blieb, starb wenige Tage später im Spital an seinen Verletzungen. Die involvierten Polizisten sind inzwischen suspendiert und wegen Totschlags angeklagt. Auch drei Rettungskräfte wurden wegen unterlassener Hilfeleistung am Tatort entlassen. Nachdem Ende Januar Videoaufnahmen der brutalen Festnahme publik geworden waren, kam es an etlichen Orten des Landes zu Protesten. Der Fall Nichols ist nicht zuletzt deshalb erschütternd, weil er zur Normalität gehört. Die US-Polizei tötete im Jahr 2022 insgesamt 1186 Menschen, also im Durchschnitt 100 pro Monat. Überproportional betroffen sind arme und Schwarze Menschen. Nur die wenigsten Fälle bekommen öffentliche Aufmerksamkeit, die meisten bleiben rechtlich ohne Folgen. Im Polizei- und Gefängnissystem der USA – historisch geschaffen, um Sklav:innenaufstände zu unterdrücken, die Arbeiter:innenklasse zu kontrollieren und kapitalistisches Eigentum zu schützen – zeigen sich immer wieder die Prioritäten des Staates: Statt soziale Infrastrukturen und universelle Programme aufzubauen, mit denen Kriminalität präventiv entgegengewirkt werden könnte, werden die Symptome sozialer Ungerechtigkeiten repressiv behandelt. (…) Trotz der anhaltenden Gewalt lassen sich in den USA allerdings auch Veränderungen feststellen. Mit dem Entstehen der Black-Lives-Matter-Bewegung im Jahr 2013 und vor allem seit den massenhaften und eruptiven Protesten nach dem Mord an George Floyd in Minneapolis im Sommer 2020 werden die Rufe nach radikalen Reformen des Strafsystems immer lauter. Viele linke Aktivist:innen fordern nicht nur eine Verbesserung oder «Professionalisierung» der Polizeipraktiken, sondern den Abbau der ganzen Institution. «Defund the police» ist der dazugehörige Slogan, der der abolitionistischen Bewegung entspringt. Anders als beispielsweise die Black Panthers, die in den sechziger Jahren forderten, die Polizei in die Hände der eigenen Community zu geben, ist das Ziel der heutigen Schwarzen linken Bewegung, den Kontakt zwischen Bürger:innen und Polizei sukzessive zu reduzieren und das jetzige Strafsystem durch einen emanzipatorischen Umbau der Gesellschaft letztlich obsolet zu machen. Solche Stimmen sind zwar noch immer in der Minderheit. Wie stark sich der Diskurs allerdings verändert hat, erkennt man schon daran, dass inzwischen selbst konservative Institutionen Reformen befürworten. (…) Visionäre Ziele und progressive Rhetorik sind das eine, Machtverhältnisse das andere. Was also wurde in den vergangenen Jahren konkret umgesetzt? Die kurze Antwort lautet: Während die Politik in Washington weitestgehend stagniert, zeigen sich zumindest auf regionaler Ebene so manche Lichtblicke. Noch im Sommer 2020, als direkte Reaktion auf die «grösste Protestbewegung in der Geschichte des Landes» («New York Times»), stellten das Movement for Black Lives und die zwei demokratischen Kongressabgeordneten Rashida Tlaib und Ayanna Pressley den «Breathe Act» vor, eine Gesetzesinitiative zur umfassenden Transformation des Strafapparats. Zu den Forderungen gehörten eine Verkleinerung der Polizeibehörden, die Entkriminalisierung von Drogen, die Einführung neuer Community-Justizverfahren und grossflächige Investitionen in soziale Programme. Umgesetzt wurde der «Breathe Act» jedoch genauso wenig wie seine abgeschwächte Version: Der «George Floyd Justice in Policing Act» erhielt im März 2021 immerhin eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, bevor er dann im Senat stecken blieb. Gescheitert sind auch Vorstösse auf Bundesebene, die «qualifizierte Immunität» abzuschaffen. Durch diese Klausel sind Zivilklagen gegen gewalttätige Polizist:innen nahezu unmöglich. Die Präsidentschaft Joe Bidens ist aus progressiver Perspektive ebenfalls eine Enttäuschung. (…) All diese Entwicklungen – so klein sie angesichts der notwendigen Transformation des ganzen Justizsystems auch erscheinen – wären ohne die Proteste der vergangenen Jahre und den Druck lokaler Gruppen nicht vorstellbar. Dass weiterhin ein Grossteil der Bevölkerung in Umfragen den Erhalt, oft sogar den Ausbau der Polizei will, hat verschiedene Gründe; einer davon ist, dass den Leuten zum Thema öffentliche Sicherheit seit Jahrzehnten kaum etwas anderes angeboten wird als eine stetig wachsende Polizeipräsenz. Für die abolitionistische Bewegung bleibt es eine der grössten Herausforderungen, innerhalb der Communitys Mehrheiten zu gewinnen. Sobald das der Fall ist, könnten über Volksentscheide radikale Reformen erzwungen werden. Das Referendum zum Erhalt der Abtreibungsrechte in Kentucky im vergangenen November ist dabei ein leuchtendes Vorbild.“ Artikel von Lukas Hermsmeier aus der WOZ Nr.5 vom 2. Februar 2023 („Polizeigewalt in den USA : Immerhin lokale Lichtblicke“) - Siehe aktuell auch: US-Polizei erschoss (u.a.) im Weelaunee Forest in Atlanta einen Umweltaktivisten gegen die Waldzerstörung für ein Polizeiausbildungszentrum „Cop City“