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Hütchenspiel in La-La-Land? Kontroverse um die Ausrichtung des US-Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO
Anfang September fand in Los Angeles der Kongress der American Federation of Labor – Congress of Indus¬trial Organizations statt. Geprägt war er von deutlichen Signalen für eine Öffnung des Gewerkschaftsdachverbandes in Richtung soziale Bewegungen. Erstmals fanden einen ganzen Tag lang sogenannte »action sessions« statt, in denen neben GewerkschafterInnen auch die Aktiven aus Umwelt-, Frauen- und Stadteilbewegungen sowie internationalistische Initiativen ihre Anliegen und Strategien zur Diskussion stellen konnten. Ein längst überfälliger Schritt – oder eher ein Trick, den eigentlichen Problemen der Arbeiterbewegung auszuweichen? Diese Frage wird auch in der linken Gewerkschaftszeitung Labor Notes kontrovers diskutiert, deren September- und Oktober-Ausgabe die folgenden drei Kommentare entnommen sind:
- „Unter dem Dach der Arbeiterbewegung braucht es Reparaturen, nicht bloß neue Mitbewohner“ von Steve Early
- „AFL-CIO-Kongress lässt Gewerkschaften für alle ArbeiterInnen sprechen“ von Jeff Crosby und Bill Fletcher
- „ALF-CIO geht den Weg des geringsten Widerstands“ von Peter Olney
Die Kommentare in einer Übersetzung von Stefan Schoppengerd, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/2013
Unter dem Dach der Arbeiterbewegung braucht es Reparaturen, nicht bloß neue Mitbewohner
Von Steve Early*
[…] Wer möchte nicht gern glauben, dass ein aufregenderes Kongressformat auf einen Wendepunkt für die Arbeiterbewegung hindeutet? Dummerweise sind die größere Inklusivität, die engeren Bindungen an außergewerkschaftliche Partnerorganisationen und die Verabschiedung gefällig-progressiver Resolutionen nur ein Anfang im Umgang mit den wirklichen Organisierungs-Herausforderungen, vor denen die Arbeiterbewegung steht, sei es die »alte« oder die neue.
Was bei den Feierlichkeiten fehlte, waren Strategien zur Verteidigung und Aktivierung der heutigen Gewerkschaftsmitglieder. Angesichts der heftigen Angriffe, unter denen sowohl organisierte wie unorganisierte ArbeiterInnen leiden, war die starke Betonung herkömmlicher politischer Strategien und die Fokussierung auf ein Organisationswachstum durch verwässerte Formen von Mitgliedschaft nicht »transformativ« genug, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden.
Déjà vu?
Die Beratungen hatten einen progressiven Grundton und einen Anschein von Graswurzel-Bewegung, wie er nicht mehr zu sehen war, seit der »New Voice«-Kandidat John Sweeney 1995 die erste umstrittene AFL-Präsidentenwahl des Jahrhunderts gewonnen hat. Sweeneys Team, einschließlich dem jetzigen AFL-CIO-Präsidenten Rich Trumka, versprach die Förderung von neuen Organisierungs- und Politikinitiativen, von gemeindeorientierten Bündniskonzepten sowie von Anti-Globalisierungs-Ansätzen, und das verbesserte die Position von Frauen, MigrantInnen und Schwarzen.
Aber diesen Reformanstrengungen ging schon 1998 die Luft aus, wie der frühere AFL-Vorstandsmitarbeiter Bill Fletcher in seinem Buch »Solidarity Divided« berichtet. Für das darauf folgende Jahrzehnt oder länger war die AFL-CIO-Neustrukturierung eher rhetorisch als real.
Letzte Woche adaptierte der Kongress mit zwei jüngeren Funktionären in Trumkas neuem Führungsteam (beide sind in den Vierzigern) nun 20 Jahre alte »New Voice«-Ansätze. Die Delegierten bejahten erneut die Notwendigkeit von Bündnissen im Stadtteil, eine größere Unabhängigkeit in der Politik, und natürlich von mehr Mitgliedern – vorzugsweise im Millionenbereich.
Es wurde als gegeben hingenommen, dass die neuen »Working Americans« nicht in traditionelle Interessenvertretungen hinein rekrutiert werden können. Das neue Denken besteht darin, dass Gewerkschaften ihre Mitgliederstatistiken und ihr politisches Gewicht aufblasen können, indem sie engere Verknüpfungen mit dem Sierra Club, NAACP, National Council of LaRaza oder MomsRising 1 schaffen. Das würde es den Arbeiterorganisationen ermöglichen, auch Leute auf den Mailinglisten dieser Organisationen als Mitglieder zu verbuchen.
Eine andere Methode ist, jeden als neues Mitglied zu zählen, vor dessen Tür jemals ein Werber der AFL-CIO-eigenen, demnächst ausgeweiteten reformgewerkschaftlichen Kampagne »Working America« aufgetaucht ist. Diese Einrichtung, eigentlich zum Zweck politischer Mobilisierung geschaffen, zählt nun 3,2 Millionen »Mitglieder«. Kaum welche zahlen Beiträge oder haben miteinander irgendeine Art von Verbindung am Arbeitsplatz. Die AFL-CIO gibt mehr als zehn Millionen im Jahr für Working America aus, das außerdem durch nationale und lokale Gewerkschaftsspenden unterstützt wird.
Jenseits der offiziellen Botschaft
Häufig war zu hören: »Dieser Kongress wird der innovativste und vielfältigste der Geschichte sein. Es ist eine aufregende Zeit, da wir unsere Türen öffnen und uns so intensiv mit Verbündeten und den nicht-gewerkschaftlichen Gruppierungen verbinden wie nie zuvor.«
Zum Missfallen der Spin-Doctors des Vorstands blieben einige Avatare der traditionelleren Gewerkschaften nicht bei dieser Botschaft, und hinter den Kulissen war ihr Einfluss nach wie vor deutlich zu spüren. Zum Beispiel warnte der Vorsitzende der Feuerwehr-Gewerkschaft, Harold Schaitberger, in einem Interview mit The Nation vor einer AFL, die zur »Amerikanischen Föderation der progressiven und linken Organisationen« wird. Schaitberger würde keine Arbeiterbewegung wollen, die die »Verlängerung von nur einem ideologischen Teil der Gesellschaft« ist.
Terence O‘Sullivan von den Laborers schimpfte ausführlich über den Verrat des Sierra Clubs an den Arbeitern, weil dieser sich der Keystone XL-Pipeline 2 widersetzt, die von den Organisationen im Baugewerbe und den Teamsters befürwortet wird. Aber er machte auch einen konstruktiven Vorschlag: »Wir sind hier, um über eine neue Bewegung zu reden«, sagte er. »Aber wir sollten die alte Bewegung nicht vergessen.«
Größter Bedarf?
Trumka hat seinen fragwürdigen neuen Schwerpunkt ziemlich deutlich gemacht. »Die Arbeiterbewegung muss nicht dort sein, wo wir waren, sondern da, wo ArbeiterInnen den größten Bedarf danach haben«, postuliert er auf einer Konferenz von gewerkschaftsnahen AkademikerInnen im Juni.
Die offensichtliche De-Thematisierung betrieblicher Probleme von Gewerkschaftsmitgliedern zeigte sich darin, welche vorgeschlagenen Workshops in den Ablauf des Kongresses aufgenommen (oder abgelehnt) wurden. Gemessen am Inhalt der »Action Sessions« steht die Befassung mit den Beschäftigten an klassischen Arbeitsplätzen so gut wie gar nicht auf der To-Do-Liste der Gewerkschaften.
Es gab viel zu lernen über die Gesundheits- und Sicherheitsbedürfnisse von ArbeiterInnen in Bangladesch, aber es gab keinen Austausch über die Stärkung lokaler Sicherheitskomitees bei uns. Dem Kampf gegen Kürzungen und Beschleunigung, der Organisierung von Streiks, der Mobilisierung von Mitgliedern im Betrieb, dem Aufbau betrieblicher Vertretungen von Angesicht zu Angesicht (statt online) wurde kaum Raum gegeben.
Dem wichtigsten Kampf im Öffentlichen Dienst seit dem »Wisconsin-Aufstand« von 2011 wurde ein Redner in einem Panel (von 50) zugestanden, das sich mit Tarifkampagnen beschäftigte. Mark Luskin, Organizer bei der Lehrergewerkschaft von Chicago, schilderte, wie die Reformströmung dort ins Amt kam, die lokalen Strukturen erneuerte und mit lokalen Initiativen zusammenarbeitete, und so die Voraussetzungen für den erfolgreichen neuntägigen Streik gegen Bürgermeister Rahm Emmanuel und dessen Schulausschuss schuf.
Wie der dissidente Wissenschaftler Stanley Aronowitz vor einigen Monaten feststellte, ist »die organisierte Arbeiterbewegung immer noch über 15 Millionen Mitglieder stark. Warum nicht Reformen der existierenden Gewerkschaften versuchen?« Die Unterstützung dieser Handlungsoption steht natürlich nicht auf der Agenda der AFL-CIO, nicht in diesem und nicht im nächsten Jahr.
Organizing ist kein Kinderspiel
Eins ist sicher: Die amerikanischen Gewerkschaften werden die anstehenden Herausforderungen nicht bewältigen, wenn sie weiter das betriebliche Terrain vernachlässigen, das immer noch von ihren Mitgliedern besetzt wird, oder, wie in der Telekommunikationsbranche, von zukünftig strategisch wichtigen ArbeiterInnen.
Die ursprünglich für »assoziierte Mitglieder« geschaffenen Programme wie Working America mögen nützlich sein für den Aufbau von politischen Mailinglisten, zur Anleitung bei der Wählerregistrierung, zur Weiterbildung der WählerInnen und für die Wahlbeteiligung. Vielleicht ist ein nächster Schritt, gewerkschaftliche Krankenversicherungen in der staatlichen Versicherungsbörse bekannt zu machen?
Aber die voranschreitende Entwertung des Konzeptes von Mitgliedschaft ist keine »strategische Verschiebung«, sondern ein Hütchenspiel. Sie hat kaum etwas gemein mit den existierenden, ernsthaften und langfristigen Bemühungen für den Aufbau betrieblicher Organisationen vor dem Hintergrund mangelnder Anerkennung durch den Arbeitgeber und der Abwesenheit von Interessenvertretungsstrukturen.
Einem lehrreichen Beispiel – der zehnjährigen »minority union«-Kampagne bei T-Mobile – wurde auf dem Kongress in Los Angeles etwas Raum gegeben. Die Plenar- und Workshoppräsentationen des gefeuerten T-Mobile-Arbeiters Josh Coleman und des Gewerkschaftsvorsitzenden der Kommunikationsarbeiter, Larry Cohen, lieferten einen dringend notwendigen Abgleich mit der Realität: Der Aufbau und die Stabilisierung von TU, einer freien Organisation von T-Mobile-ArbeiterInnen, war alles andere als leicht.
Sogar mit Unterstützung durch die deutsche Gewerkschaft bei der Muttergesellschaft von T-Mobile und trotz des hohen Engagements von lokalen CWA-Mitgliedern und Organizern hat es zehn Jahre gedauert, aus einer Belegschaft von 20 000 potenziellen Gewerkschaftsmitgliedern 1 000 TU-UnterstützerInnen zu rekrutieren.
Lediglich 15 T-Mobile-ArbeiterInnen in Connecticut haben es bislang geschafft, die formelle Anerkennung als Verhandlungspartner zu erreichen. Allerdings haben Bildung im Betrieb, grenzüberschreitende Vernetzung, direkte Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, juristische Klagen und die Unterstützung vor Ort dazu beigetragen, einige außertarifliche Erfolge durchzusetzen.
Für vergleichbare Orientierungen im Aufbau von Gewerkschaften plus tiefergehender Diskussion von Organizing, Verhandlungen und Streiks sollten die LeserInnen in Erwägung ziehen, an der Labor Notes-Konferenz vom 4. bis 6. April 2014 in Chicago teilzunehmen. Sie allein wird die Welt der Arbeiterbewegung auch nicht ändern, aber sie wird auch die betrieblichen Perspektiven umfassen, die beim AFL-Kongress so deutlich vernachlässigt waren.
Die Erneuerer der Bewegung und die »alte Arbeiterbewegung« werden Gemeinsamkeiten finden, die wesentlich solider sind als die offiziellen Verkündungen in La-La-Land letzte Woche.
* Steve Early ist Mitglied des Labor Notes Policy Committee.
Anmerkung:
1 Sierra Club: große Naturschutzorganisation; National Association for the Advancement of Black People (NAACP): Schwarze Bürgerrechtsorganisation; National Council of La Raza: Hispanische Bürgerrechtsorganisation; Mom’s Rising: Frauenrechtsorganisation.
2 Vorhaben zur Erweiterung der kanadisch-amerikanischen Keystone-Pipeline, das vor allem aus ökologischen Gründen umstritten ist.
AFL-CIO-Kongress lässt Gewerkschaften für alle ArbeiterInnen sprechen
Von Jeff Crosby und Bill Fletcher*
Der AFL-CIO-Kongress hat einen entscheidenden Schritt gemacht, Gewerkschaften zum Sprachrohr aller Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten zu machen. Das war eine Korrektur des beschränkten, unseligen Fokus auf die beitragszahlenden Mitglieder und auf die traditionellen Wahlkampagnen, den die Bewegung über den größten Teil ihrer Geschichte beibehalten hat. Zu behaupten, dass diese Wende ein Im-Stich-lassen der bisherigen Mitglieder darstellt, wie Steve Early das tut, ist faktisch und politisch falsch.
Man muss verstehen, was die AFL-CIO als Gewerkschaftsbund ist und was sie nicht ist. Sie ist eine Ansammlung von Gewerkschaften, »die durch ein imaginäres Band zusammengehalten werden«, wie es ein früherer Vorsitzender formuliert hat. Von Gesamtbetriebsräten bis zu landesweiten Organisationen treten die Mitgliedsvereinigungen, denen der Lauf der Dinge nicht passt, einfach aus.
Dem Gewerkschaftsbund ist es durch seine Satzung untersagt, sich in Tarifauseinandersetzungen einzubringen, außer er wird von einer Mitgliedsgewerkschaft ausdrücklich dazu aufgefordert. Insofern hat es keinen Sinn, einen Kongress zu erwarten, der sich auf solche Auseinandersetzungen konzentriert. Der Kongress hat sich auf neue Formen von Organisierung und Interessendurchsetzung konzentriert. Die heldenhafte Organisierungskampagne der KommunikationsarbeiterInnen bei T-Mobile und der starke Streik der LehrerInnen in Chicago waren keineswegs die einzigen Beispiele, die dafür geboten wurden.
Organizer im Bereich der häuslichen Dienstleistungen wurden am Eröffnungsabend auf der Bühne gewürdigt. Migrantische »Dreamer«, die zur Organisierung von klassischen Interessenvertretungen in Autowaschanlagen, im Einzelhandel, in Hotels und auf dem Bau angeheuert wurden, wurden am nächsten Tag ähnlich herausgestellt.
Der Vorsitzende der New Yorker Taxifahrer-Organisation ist Teil des AFL-CIO-Exekutivkomitees geworden und genießt die Unterstützung der Stahlarbeiter und des Dachverbandes bei Organisierungsbemühungen in anderen Städten.
Workshops widmeten sich internationalen Kampagnen und der Organisierung im Süden. Tagelöhner, bislang als Gegner der Baugewerkschaften betrachtet, wurden mit ihren eigenen Organisationen unter dem Dach der Gewerkschaftsbewegung willkommen geheißen. Partnerschaften von Workers Centers mit Gewerkschaften in Texas wurden in Workshops und im Plenarsaal vorgestellt.
Wie Early darauf kommt, daraus folgende Einschätzung zu machen, ist schwer begreiflich: »Es wurde als gegeben hingenommen, dass diese neuen ›Working Americans‹ nicht in traditionelle Interessenvertretungen hinein rekrutiert werden können«.
Mit klarem Kopf
Es war kaum möglich, diese Entwicklungen auf dem Kongress zu übersehen, es sei denn, man hatte den Geist schon vor der Anreise entsprechend konditioniert.
Die falsche Behauptung, dass » Gewerkschaften ihre Mitgliederstatistiken und ihr politisches Gewicht aufblasen können«, indem sie »Leute auf den Mailinglisten dieser Organisationen als Mitglieder verbuchen« (siehe Text von Steve Early), stand kein einziges Mal im Raum und wurde erst Recht nicht verabschiedet. Sie tauchte vor einigen Monaten in der Presse auf, wurde aber zurückgewiesen.
Ein guter Teil des politischen Schwerpunktes des Kongresses bestand darin, die Bedingungen für die gegenwärtigen Mitglieder wie für Nicht-Mitglieder zu verbessern. Zählt der Kampf gegen Privatisierungen oder die Abwehr von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen 1 als Kampf im Interesse der aktuellen Mitglieder? Oder ist das irgendwie Teil dessen, was Early eine »Vernachlässigung des betrieblichen Terrains« nennt?
Working America (WA), ein anderes Ziel von Earlys Unmut, verwässert nicht die Bedeutung von Mitgliedschaft in der AFL-CIO. Die Kampagne sammelt Leute, mit denen Gewerkschaftsmitglieder solidarische Beziehungen eingehen können.
In Lynn, Massachusetts, hat der Gewerkschaftsrat zum Beispiel eine mehrere tausend Leute umfassende Working America-Mitgliedschaft aufgebaut. Als der Rat die Verabschiedung einer Verpflichtung für den Bau einer neuen Mittelschule unterstützen wollte, hatten wir die doppelte Menge an Leuten, die wir erreichen konnten. Wir haben die Abstimmung gewonnen, und das hat unseren gewerkschaftlichen Lehrern und der Baugewerkschaft geholfen – die Arbeiterkinder von Lynn gar nicht zu erwähnen (die natürlich keine Beiträge zahlen).
Die Mitgliedschaft bei Working America ist überhaupt nicht das Gleiche wie eine klassische Gewerkschaftsmitgliedschaft – worüber sich WA-Organizer und die SkeptikerInnen in der AFL-CIO auch einig wären.
Aber es ist ein Mittel, unsere Reichweite zu vergrößern; in New Mexiko experimentiert WA zusammen mit der Bühnenarbeitergewerkschaft IATSE mit dem Aufbau klassischer Betriebsorganisationen und in Pittsburgh mit der Schaffung lokal verwurzelter Stadtteilorganisationen. In Lynn trifft sich eine kleine Gruppe von WA-AktivistInnen monatlich zu einer Kampagne für die Anhebung des Mindestlohns.
Der wahrscheinlich aufschlussreichste Teil von Earlys Verdammung des Kongresses ist jener, in dem er einen von denen zitiert, auf die er sich als eher rückwärtsgewandte Führungsfiguren der Bewegung bezieht. Der Vorsitzende der Laborers sagte: »Wir sind hier, um über eine neue Bewegung zu reden. Aber wir sollten die alte Bewegung nicht vergessen.« Early stimmt dann in den Ruf nach einer Rückkehr zur Konzentration auf die schwindenden Mitglieder ein. Kräftiger in die Pedale treten, kämpfen, kämpfen, kämpfen?
Fortschritt in Sachen Rassismus
Das wirft eine grundsätzliche Frage auf – nicht nur, über welchen Kongress wir reden, sondern über welches Land eigentlich.
Die Geschichte des Kampfes der Arbeiterbewegung gegen die weiße Vorherrschaft ist ziemlich armselig. Wir sind eine Arbeiterbewegung, die 1935 versprochen hat, den National Labor Relations Act von Senator Wagner zu Fall zu bringen, wenn nicht die Anti-Diskriminierungs-Rhetorik verschwindet. Unsere Föderation verweigerte die Unterstützung des Marsches nach Washington 1963, obwohl sich heute alle Gewerkschaften auf dieses Erbe berufen. Bis vor Kurzem agierten Gewerkschaften mit offener Feindseligkeit gegen den Beitritt von Einwanderern in unsere Organisationen und sogar gegen die Versuche dieser ArbeiterInnen, sich selbst zu organisieren.
Dieser Kongress hat eine längst überfällige Strategieänderung markiert. Eine Änderung dahin, für die ganze Klasse der ArbeiterInnen zu sprechen. Es gab keinen deutlicheren Indikator für diese Verschiebung als die Resolution zur Verurteilung von privaten Gefängnissen und der massenhaften Inhaftierung von Schwarzen. Sie war eine Reaktion auf den internen Druck von AFL-CIO-Mitgliedern, die Behandlung des Themas in den kongressvorbereitenden Gremien, auf die Diskussionen der Repräsentanten von Workers Centers und Wissenschaftlern wie Stephen Pitts von der Uni Berkeley, den Einfluss des Vorsitzenden Rich Trumka, die Antwort der Lehrergewerkschaft auf die verbreitete Kritik am direkten Weg von der Schule ins Gefängnis (»school-to-prison-pipeline«), und intensive Diskussionen mit AFSCME, die die Justizvollzugsbeschäftigten vertritt.
Für die AFL-CIO ist es ein riesiger Schritt, sich zum gegenwärtigen System rassistischer Unterdrückung zu äußern, insbesondere angesichts der rassistischen Verbrechensbekämpfung durch die Rechten. Die Arbeiterklasse lässt sich nicht vereinen, wenn man die bestehenden Trennungen ignoriert.
Der Kongress hat die jetzigen Mitglieder und die Betriebe nicht alleingelassen, obwohl niemand eine Blaupause für die zukünftigen Beziehungen zwischen den existierenden Interessenvertretungsstrukturen und neuen Formen der Organisierung hat. Der Kongress hat anerkannt, dass es für die jetzigen Mitglieder keinen Weg nach vorn gibt, ohne die Richtung der Bewegung zu ändern, um eine Allianz aus der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten zu schaffen – mit dem Ziel, das Land zu ändern.
Eine solche strategische Offensive auf den Weg zu bringen, während unsere Bewegung unter Beschuss steht, wird – fast überflüssig, das zu sagen – sehr schwierig sein. Aber dies ist der Kontext, in dem wir die kollektive Interessenvertretung erneuern können, auch wenn wir schon unsere jetzige Position mit Klauen und Zähnen verteidigen müssen.
* Jeff Crosby ist Vorsitzender des North Shore Labor Council in Massachusetts. Bill Fletcher, Jr. ist Mitautor von »Solidarity Divided: The Crisis in Organized Labor and a New Path towards Social Justice«.
Anmerkungen:
1 Gemeint sind die »right to work-laws«, die es den Beschäftigten ermöglichen, auch in gewerkschaftlich erschlossenen Betrieben (»closed shops«) ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft zu arbeiten.
ALF-CIO geht den Weg des geringsten Widerstands
Von Peter Olney*
Es trifft zu, dass, wie Jeff Crosby und Bill Fletcher betonen, der Fokus der AFL-CIO-Konferenz auf neue Bündnisse mit den zuvor ausgeschlossenen ArbeiterInnen eine sinnvolle und positive Entwicklung ist. Es trifft ebenso zu, dass der Kongress nicht willens war, sich mit den Fundamenten auseinanderzusetzen, die für langfristiges Wachstum und Überleben entscheidend sind. Fletcher und Crosby stellen fest: »Der Föderation ist es durch ihre Satzung untersagt, sich in Tarifauseinandersetzungen einzubringen, außer sie wird von einer Mitgliedsgewerkschaft ausdrücklich dazu aufgefordert.«
Das ist zwar absolut richtig, könnte aber auf jede Aktivität ausgeweitet werden. Der Dachverband ist nicht mit der Blue-Green-Alliance verbunden, weil es unter seinen Mitgliedern eine Kontroverse um die Keystone-Pipeline gibt. Wenn die Föderation sich zu einer schärferen Resolution zur Einstellungspraxis in der urbanen Bauwirtschaft entschließen würde, gäbe es eine Rebellion von vielen Handwerkervereinigungen. Die operative Bezeichnung dafür ist »Weg des geringsten Widerstands«.
Extern ist einfacher als intern
Es ist wesentlich einfacher, mit externen Bündnissen oder Zusammenschlüssen umzugehen als mit dem Kern unserer Krise. Unsere Föderation und unsere landesweiten und lokalen Gliederungen sind nicht dafür gerüstet, ihren ursprünglichen Auftrag der klassenweiten Solidarität umzusetzen. Strömen wir etwa in Scharen herbei zur Verteidigung von ArbeiterInnen in großen Tarifauseinandersetzungen, Streiks und Aussperrungen? Mit wenigen Ausnahmen tun wir das nicht. Daher verlieren wir diese Schlachten, und jede Niederlage hallt im Rest der Klasse nach als Niederlage der ArbeiterInnen und ihrer Organisationen, so wie unsere früheren Erfolge in positiver Weise nachhallen.
Letztlich bauen die Bündnisse mit externen Gruppierungen auf den Ressourcen und den Mitgliedern der jetzigen Gewerkschaften auf, wurden mit den Beiträgen unserer bestehenden Mitgliedsgewerkschaften und ihrer Einzelmitglieder finanziert. Wenn Gewerkschaften ihre eigenen Mitglieder nicht entschlossen vertreten können, wie sollen sie eine bedeutende Rolle auf der größeren Bühne einnehmen? Wie können Arbeiterorganisationen attraktiv erscheinen für die neuen Gruppen, mit denen wir Bündnisse eingehen oder für neue ArbeiterInnen, mit denen wir arbeiten?
Unsere »nationalen« Gewerkschaften gibt es, um branchenweite Solidarität und Macht zu zeigen. Das ganze Konzept landesweiter Gewerkschaften basiert auf dieser Aussicht und diesem Fundament. Es ist ja gut, den größten Discounter der Welt, Wal-Mart, unter Druck zu setzen oder AutowäscherInnen zu organisieren, aber wie gehen wir um mit den gigantischen landesweiten Supermarktketten oder den Stahltarifen, die wir immer noch haben? Verdammen wir unsere lokalen Gewerkschaften dazu, die Auseinandersetzungen individuell oder auf regionaler Basis auszutragen, ohne dass es landesweite Koordination und Aktionen gibt? Oft tun wir das.
Außerdem sind unsere Föderation und ihre Mitgliedsorganisationen nicht auf die Herausforderung vorbereitet, unsere existierende Basis in bestimmten Branchen zu nutzen, um in den unorganisierten Teilen dieser und verwandter Branchen zu wachsen. Solche Diskussionen und Strategien brauchen die Überwindung des trägen Status quo. Das ist schwierig und stellt die Machtpositionen unserer gewählten Führungen in Frage.
Das Zusammenspiel von alt und neu ist einer der Schlüssel zu unserer Renaissance, wie es dies bereits in den 30ern war, als die alten AFL-Gewerkschaften eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, den neuen mit ihrem Geld und ihren Mitgliedern auf die Beine zu helfen.
Streit verstößt nicht gegen die Satzung
Das Verbot in der AFL-Satzung, sich an Tarifverhandlungen zu beteiligen, das Crosby und Fletcher zitieren, ist kein Verbot von harten Diskussionen und Debatten, die geführt werden müssen, um unsere Ressourcen umzuleiten, unsere jetzigen Mitglieder zum Handeln zu ermutigen, und um einige der defensiven Kämpfe auf offensive Weise zu gewinnen. Diese Debatten treffen das Herz der Gewerkschaften, ihrer Führungen und ihrer Strategien.
Lassen wir Branchenverträge mit unterschiedlichen Lohnniveaus zu, um Arbeitsplätze zu erhalten? Versetzt uns das in die Lage, Unorganisierte in dieser Branche für die Gewerkschaft zu gewinnen? Es gibt keine rechtlichen oder strukturellen Hindernisse für diese Debatten. Es ist alles eine Frage des politischen Willens und der strategischen Führung.
Eine Defensivauseinandersetzung offensiv und mit Blick auf lokale Verankerung zu führen, ist die Botschaft der Lehrergewerkschaft von Chicago. Man kann sich sicher sein, dass es in den Chicagoer Gremien und unter den anderen Gewerkschaften intensive Diskussionen gab, wie dieser Kampf gewonnen werden kann, und das waren unangenehme und schwierige Diskussionen, weil einige Verbündete ihre jeweiligen Beziehungen zum Bürgermeister und anderen Mächtigen in der Stadt hatten. Wie auch immer, solche Hindernisse für schwierige Diskussionen, Themen und Entscheidungen müssen durch eine starke Führung überwunden werden.
Es ist toll zu sehen, wie der Kongress sich auf neue und längst überfällige Bündnisse konzentriert hat, insbesondere wenn es um Organisationen von Schwarzen geht, aber das ist kein Ersatz für die Beantwortung der Überlebens- und Wachstumsfragen.
* Peter Olney war für 40 Jahre Organizer und hat schwerpunktmäßig mit Gewerkschaften und Stadtteilorganisationen zusammengearbeitet, die migrantische ArbeiterInnen organisiert haben.
Übersetzung: Stefan Schoppengerd