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Fordert alles! Lehren aus dem »Transformativen Organizing«

mini_expressArtikel von Steve Williams erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 2/2014

Transformatives Organizing: schon wieder ein neues Schlagwort? Das, was heute als Organizing in Gewerkschaften probiert wird, hat seine Wurzeln in Konzepten zur kollektiven Interessenvertretung in Armenvierteln der USA. Der bekannteste Vertreter dieses Ansatzes ist Saul Alinsky, dessen Methoden des zivilen Ungehorsams den Gewerkschaften heute noch als Inspirationsquelle dienen. Sie basieren auf der Überlegung, welche Durchsetzungspotenziale sich entwickeln lassen, wenn die Beteiligten nicht per se über ökonomische Machtmittel verfügen, sondern nichts als ihre Rechte oder noch nicht einmal das haben. Und sie zielen auf weit mehr als Techniken der Organisationsentwicklung, mess- und zählbare Gewinnung von Mitgliedern oder »Einfluss«. Es geht vielmehr »ums Ganze« – die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Auch das ist nicht gerade eine neue Idee, viele haben sich an ihr versucht. Meist sind nicht mehr als ›links‹ apostrophierte Techniken des Politbetriebs herausgekommen, die sich nicht von gängiger Buchclub-Werbung oder den Kundengewinnungsstrategien von Versicherungskonzernen unterscheiden.

Form und Inhalt, Ziele und Mittel zusammenzudenken, ist dagegen Vorzug des Ansatzes von POWER (People Organized to Win Employment Rights) in den USA. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge eines vom Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York herausgegebenen Textes von Steve Williams, langjähriger Aktivist von POWER und Community-Organizer aus San Francisco. Transformative Organizing soll den Kampf um kleine Änderungen verknüpfen mit der Vision einer anderen Gesellschaft. Unsere Auszüge behandeln die Themen »Demokratie« und »Führung«. Auch der Rest ist ›mehr als lesbar‹. Wir verraten so viel: Die einführenden Kapitel beschäftigen sich mit dem arabischen Frühling und damit, was dieser mit einer Klientel zu tun hat, die hierzulande als weitgehend anonyme Masse und als desorganisiert bis ›unorganisierbar‹ gilt: Arbeitslose, die in den sog. Workfare-Programmen für ein Taschengeld zur Arbeit verpflichtet werden, die amerikanischen Ein-Euro-Jobber.

Demokratie muss ein zentrales Prinzip des transformativen Organizing sein. Dabei geht es nicht um Moralismus. Demokratisches Engagement stärkt das Bewusstsein und die Fähigkeiten, die notwendig sind, um eine starke Organisation, Bewegung oder Gesellschaft aufzubauen. In den frühen Jahren von POWER waren wir in einer Kampagne aktiv, die sich gegen eine Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes richtete, welche es Workfare-Arbeitern verbot, für sich selbst zu sprechen. Die Gewerkschaft hatte in ihrem neuen Vertrag mit der Stadt eine Klausel, die für alle künftigen Veränderungen des Workfare-Programms ein Planungskomitee vorschrieb. Dem Vertrag zufolge sollte dieses Komitee aus je sechs Vertretern der Gewerkschaft und der Stadt bestehen – und keinem einzigen Workfare-Arbeiter.

Demokratie ist Macht

Als wir von dem Komitee erfuhren, waren die Mitglieder von POWER zunächst erfreut, da wir zuvor monatelang erfolglos versucht hatten, das Thema Workfare auf die Agenda der Gewerkschaft zu setzen. Es schien, als hätten wir einen Durchbruch erlangt. Der Ausschluss der Workfare-Arbeiter, so dachten wir, sei lediglich ein Versehen gewesen. Weil unsere wiederholten Anrufe bei der Gewerkschaft unbeantwortet blieben, änderte sich dieser Eindruck. Als nach einigen Tagen der Vertrag zur Ratifizierung beim Stadtrat lag, entschlossen sich Mitglieder von POWER zu protestieren. Da die Vereinbarung vorsah, dass das Komitee aus zwölf Vertretern bestehen sollte, von denen keiner im Workfare-Programm arbeitete, forderten wir, dass das Komitee auf 13 Vertreter vergrößert werden solle und die Stadträte den Vertrag ablehnen sollten, bis diese Forderung erfüllt sei.

Für die erste Demonstration konnte POWER 100 Workfare-Arbeiter und Verbündete mobilisieren, und wir überzeugten den Stadtrat, diese Angelegenheit nochmals zu überprüfen. Zufrieden mit diesem Ergebnis zogen wir nach Hause, wo mich eine Flut von Anrufen einiger der mächtigsten Gewerkschaftsführer der Stadt erwartete, die mich dringend aufforderten, sie zurückzurufen. Jeder, mit dem ich sprach, sagte dasselbe: Wenn POWER die Proteste nicht beende, würden die Gewerkschaften uns als Gegner betrachten und nicht mehr mit uns zusammenarbeiten. Ich war erschüttert, denn ich sah POWER als progressive Stimme in einer Arbeiterbewegung, die gerade neuen Aufschwung erhalten hatte. Die Gründungsstrategie der Organisation war es, Arbeiter aus dem informellen Sektor zu organisieren und mit Arbeitern des formellen Sektors zusammenzubringen, um gemeinsam gegen die Tyrannei des Kapitals zu kämpfen. Ich dachte deshalb daran, den Protest zu beenden. Doch POWER hatte demokratische Strukturen der Entscheidungsfindung entwickelt. Ich wusste also, dass diese Entscheidung nicht bei mir allein lag; sie oblag dem Lenkungsausschuss, einer gewählten Gruppe von Vertretern, die für strategische und taktische Entscheidungen der Organisation verantwortlich war.

Gewerkschaftsgegner?

Als ich von den Drohungen der Arbeiterorganisationen berichtete, schienen die POWER-Mitglieder wenig beeindruckt; also unterstrich ich, wie ernst die Sache sei. Garth Ferguson, Mitglied des Lenkungsausschusses, hob daraufhin seine Hand und sagte, er hätte noch ein paar klärende Fragen: »Du sagst also, dass sie uns diffamieren werden?« »Sie werden sagen, dass wir Gewerkschaftsgegner sind«, antwortete ich. »Nun ja«, antwortete Garth, »mir wurde schon viel an den Kopf geworfen, und als schwuler Mann, der sein Leben lang der Arbeiterklasse angehört hat, finde ich, dass gegen die Gewerkschaften zu sein nicht die schlimmste Beleidigung ist, die mir widerfahren ist.« Der Rest der Versammlung lachte zustimmend. Er fuhr fort: »Du meinst, dass sie aufhören würden, mit uns zu arbeiten, wenn wir mit den Protesten weitermachen. Meine Frage lautet: Wann haben sie uns denn überhaupt jemals in einer Kampagne beigestanden?« Die zweite Runde des Gelächters machte die Position des Lenkungsausschusses offensichtlich. Wir beschlossen einstimmig, die Proteste fortzusetzen und bei den Verhandlungen eine Vertretung der Workfare-Arbeiter zu erkämpfen.

Nach zwei weiteren Demonstrationen, die mehr und mehr Leute mobilisierten, und kurz bevor der Stadtrat abschließend zu dem Vertrag abstimmen wollte, kam der Gewerkschaftsvorsitzende auf uns zu und sagte, dass man bereit sei, unsere Forderungen zu erfüllen. Dieser Sieg wurde möglich, weil sich POWER demokratischen Prinzipien verpflichtet hatte und es darum ging, dass Entscheidungen von denen gefällt werden, die am meisten betroffen sind. In diesem Fall haben die anderen Mitglieder eine klügere Entscheidung gefällt, als ich es selbst getan hätte. (…)

Eine der schwierigsten Aufgaben ist es, ein Gefühl der Zugehörigkeit in der Organisation zu kultivieren. Oft kamen potenzielle Neumitglieder und baten uns, ein Problem, das sie erlebt hatten, zu »klären«. Und selbst wenn wir sagten, dass wir kollektiv arbeiten und solche Probleme alle gemeinsam angehen, sprachen neue Mitglieder über die Organisation oft in der zweiten oder dritten Person: »Was Ihr tun solltet…«, oder »Als ich POWER von meinem Problem erzählte, halfen sie uns, meinen Chef zur Rede zu stellen…« Solange ein Mitglied über die Organisation nicht in der ersten Person sprach, wussten wir, dass es noch nicht vollkommen dabei war. Doch wenn dasselbe Mitglied das erste Mal sagte: »Ich glaube, wir sollten…«, dann war klar, dass es sich selbst als Teil der Gruppe begriff. Obwohl wir eine solche Einstellung bei jedem Mitglied anstreben, kann dieser Prozess für die meisten Leute Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, und dazu bedarf es eines solidarischen Umfeldes. Klare und wohlüberlegte Organisationsstrukturen und -praktiken können diesen Prozess beschleunigen. Die Mitglieder sehen, dass sie die Möglichkeit haben, wichtige Entscheidungen mitzufällen und auszuführen, und dass dies von ihnen auch erwartet wird. Unter dieser Voraussetzung übernehmen sie dann immer mehr Verantwortung und tragen so zum Erfolg der Organisation bei. In gewisser Weise gilt das auch für Entscheidungen, die von einigen als falsch erachtet werden. In diesen Fällen verstehen Mitglieder, dass es kein geheimes Komitee gibt, das darauf wartet, ein Veto einzulegen. Die Praxis der Organisation stimmt mit ihrer Rhetorik überein, und nicht selten arbeiten die Mitglieder dann doppelt so hart dafür, das Beste aus der Entscheidung zu machen, die sie mit getroffen haben, und werden aus dieser Erfahrung lernen. In beiden Fällen dient es der Entwicklung der Organisation.

Darin steckt eine wichtige Lektion für jeden Organizer, vor allem aber für diejenigen, die aus einem anderen sozialen Umfeld kommen als die Zielgruppe. POWER beruft sich daher auf Paolo Freire, der einmal schrieb:

»Es gibt Angehörige der unterdrückenden Klasse, [die sich] den Unterdrückten bei ihrem Kampf um Befreiung anschließen und so von einem Pol des Widerspruchs zum andern überwechseln. Sie spielen eine fundamentale Rolle und haben diese in der ganzen Geschichte dieses Kampfes gespielt. Doch während sie aufhören, Ausbeuter oder unbeteiligte Beobachter […] zu sein und sich auf die Seite der Ausgebeuteten stellen, bringen sie fast immer die Male ihrer Herkunft mit sich: ihre Vorurteile und ihre Schwächen, zusammen mit dem Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit des Volkes, denken, wollen und wissen zu können. Dementsprechend laufen die Anpässlinge an die Sache des Volkes ständig Gefahr, einer Art von Großmut zu verfallen, die so teuflisch ist wie die der Unterdrücker. […] [A]ufgrund ihrer Herkunft glauben sie, dass sie diejenigen sein müssten, die die Veränderung durchführen. Sie reden über das Volk, aber sie trauen ihm nicht. Dabei ist das Vertrauen in das Volk die unverzichtbare Vorbedingung für revolutionären Wandel. Ein echter Humanist ist eher an seinem Vertrauen in das Volk zu erkennen, das ihn an seinem Kampf teilnehmen lässt, als an tausend Handlungen zugunsten des Volkes ohne dessen Vertrauen.«1

In einer Gesellschaft, in der die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung immer geringer werden, helfen solche Organisierungsstrukturen dabei, eine Reihe von wichtigen Fähigkeiten zu entwickeln, die sonst nicht zutage träten. Durch Engagement und kollektive Entscheidungsfindung lernen die Mitglieder, wie sich Solidarität mit Menschen herstellen lässt, die anders sind als sie. Dies kann die Erwartungen eines Einzelnen verändern. Wer einmal echte, reflektierte Mitbestimmung und deren offensichtliche Vorteile erlebt hat, der möchte nicht mehr ohne sie sein, egal in welchem Lebensbereich, wie wir immer wieder beobachten konnten.

Demokratische Praxis ist ein entscheidender Aspekt des transformative organizing, nicht nur, weil es häufig bessere Entscheidungen produziert, sondern auch, weil es unser Bewusstsein für demokratische Praxis in allen Bereichen unseres Lebens schärft.

Führungskompetenzen – anders gedacht

Um eine wirklich demokratische Praxis herzustellen, muss transformative Organisierungsarbeit Zeit und Energie auf die Ausbildung von Führungskräften aufwenden, die verschiedene Funktionen und Verantwortlichkeiten in der Organisation übernehmen können.

Innerhalb progressiver Zusammenhänge ist die Rolle von Führungspersönlichkeiten ein kontroverses Thema, was mit einer langen und schmutzigen Geschichte unverantwortlicher Anführer – nicht aus der herrschenden Elite, sondern innerhalb der progressiven und linken Bewegung – zu tun hat. Anführer, die Informationen zurückhielten, ihre Position für Sonderprivilegien ausnutzten und Debatten im Keim erstickten, um ihre Stellung zu sichern, sind Teil einer belastenden Geschichte, mit der die Aktivisten sich auseinandersetzen müssen. Einige Bewegungen haben entschieden, mit dieser Herausforderung so umzugehen, dass sie vorgeben, es gäbe keine Anführer. Diese Position beruht oft auf der Annahme, dass Machtungleichheit die Wurzel aller Probleme in der Welt sei. Deshalb werden Hierarchien in vielen Organisationen vollständig abgelehnt. Allerdings zielen sie damit oft am eigentlichen Problem vorbei, denn Anführer werden nicht wirklich abgeschafft. Man nennt sie nur nicht mehr beim Namen und verschweigt, wie sie in die Führungspositionen gekommen sind. Bei POWER war und ist unser Ansatz, dass wir von allen Mitgliedern erwarten, ihr Bestes zu geben, und dass wir alle, mit entsprechender Unterstützung und Verantwortlichkeit, über uns hinauswachsen können. Transformatives Organizing fördert eine verantwortliche Führung, indem Führungskompetenzen bei einer ganzen Reihe von Menschen ausgebildet werden. Führung soll so institutionalisiert werden, dass sie immer transparent ist und viele verschiedene Leute zu unterschiedlichen Zeiten in Führungspositionen befördert. (…)

POWER hat in einem Zeitraum von mehr als zehn Jahren auf drei Ebenen versucht, die Führungskompetenzen der Mitglieder auszubilden: institutionell, durch gemeinsame Fortbildung und in individueller Praxis.

Institutionell haben wir die Erfahrung gemacht, dass POWER für die meisten Leute die erste Mitgliederorganisation war, der sie als Erwachsene beigetreten waren. Viele Mitglieder stießen zu der Gruppe, nachdem sie jahrelang mit Dienstleistern, Sachbearbeitern und Anwälten zu tun hatten. Die Umgangsweise in diesen Büros bestand darin, dass man eine Person um Hilfe bat und anschließend wartete. Irgendwann wurde die Entscheidung dann von einer anonymen, unerreichbaren Instanz verkündet.2 Wie, wo und von wem die Entscheidungen gefällt werden, all das schien hinter einem geheimen Vorhang zu geschehen. Um die Integration der Mitglieder von POWER zu erleichtern und sie zur aktiven Teilnahme zu motivieren, haben wir Strukturen geschaffen, deren Zweck und Funktion transparent sein sollen. Ein Beispiel dafür ist die persönliche Einweisung neuer Mitglieder, bei der diese über die Arbeitsweise in der Organisation informiert werden. Auf diese Idee waren wir gekommen, weil neue Mitglieder berichteten, dass sie ihre ersten Monate oft damit verbrachten, sich in der Organisation zurechtzufinden. Durch die Einführung transparenter Strukturen sowie die persönliche Einweisung und Vermittlung der individuellen Aufgaben und Funktionen konnte die Organisation entmystifiziert werden, und es wurde deutlich, was es bedeutet, ein aktives Mitglied von POWER zu sein. Ein ähnliches Instrument ist der Lenkungsausschuss, eine gewählte Gruppe von Mitgliedern, die als primäre Entscheidungsinstanz dient. Alle Mitglieder sind eingeladen, an den Treffen des Lenkungsausschusses teilzunehmen, zuzuhören und die Entscheidungen zu kommentieren. Dies hat bei den Mitgliedern die Wertschätzung der Führungsaufgaben gefördert, während der Lenkungsausschuss ein ständiges und ehrliches Feedback bekommt.

Führungsfähigkeit ist kollektive Verantwortung

Neben diesen institutionalisierten Strukturen hat POWER verschiedene Aus- und Weiterbildungsprogramme etabliert, deren Zweck die Entwicklung von Führungskompetenzen der Mitglieder ist. Im Gegensatz zu einer engen Definition politischer Führung bestimmen wir diese abhängig von dem Beitrag, den einzelne Menschen für die Arbeit der Organisation und der Bewegung leisten können. Andere mit einer leidenschaftlichen Rede zu inspirieren, ist ein Aspekt, doch ebenso ist es die Fähigkeit, ein Treffen so zu moderieren, dass die Gruppe eine schwierige Entscheidung treffen kann. Führungsfähigkeit heißt, zuhören zu können und Vertrauensverhältnisse mit anderen aufzubauen, damit sie bereit sind, ihre Wünsche und Sorgen zu teilen. Führungsfähigkeit bedeutet, die TeilnehmerInnen bei einem langen Protest mit Essen zu versorgen oder raffinierte Taktiken und Strategien zu entwickeln, damit die Forderungen der Kampagne gehört werden. (…)

Führungsfähigkeit ist das Fundament, auf das eine Organisation gebaut ist. Unternehmen bezahlen ihre Leute, damit sie den entsprechenden Anreiz haben, eine breite Palette an Aufgaben zu übernehmen. Wir wussten von Anfang an, dass weder die Bewegung noch die Organisation jemals genug Geld haben würden, um all die Leute einzustellen, die wir brauchen, um den Status Quo umwerfen zu können. Stattdessen müssen wir unsere politische Führung bei jenen rekrutieren, die von der Bekämpfung und Abschaffung des Systems der Unterdrückung und Ausbeutung am meisten profitieren. Das war der Impetus zur Gründung der POWER-Universität. Die POWER-Universität ist ein zweistufiges politisches Ausbildungsprogramm, das Mitglieder in verschiedene Führungspositionen befördert und andere, die bereits leitende Funktionen innehaben, in entsprechende Stellen der breiteren sozialen Bewegung bringt. Alle Fortbildungsinitiativen bei POWER beruhen auf den Lehren von Paulo Freire und Myles Horton.3 Bei beiden ist die zentrale Idee, dass ganz normale Menschen allein durch ihren Alltag ein unglaubliches Wissen ansammeln. Während die meisten Bildungsmodelle davon ausgehen, dass neues Wissen in leere Köpfe gefüllt werden muss, geht dieser Ansatz von dem bereits erlangten Wissen aus, das Menschen durch ihre Erfahrungen gewonnen haben. Hierauf aufbauend umfasst das Programm der POWER-Universität marxistische Theoriekonzepte ebenso wie die Vermittlung besonderer Fachkenntnisse. Dabei wird stets versucht, diese Konzepte mit der Erfahrung der Mitglieder zu verbinden.

Für POWER ist Führungsfähigkeit eine kollektive Verantwortung. Oft nehmen mehrere Leute eine Führungsposition ein, doch selbst wenn es nur eine Person ist, müssen wir im Hinterkopf behalten, dass auch die anderen Mitglieder Erfolg und Niederlage der Organisation in hohem Maße beeinflussen können. Nehmen wir beispielsweise die Moderation eines Treffens, eine Aufgabe, die traditionell als Verantwortung des Führungspersonals gilt. Doch auch der Protokollant oder diejenige, die neue Mitglieder begrüßt und einweist, oder derjenige, der Fragen stellt, die die Diskussion voranbringen – sie alle sind Teil der Führung und tragen dazu bei, dass ein Treffen sowie die gesamte Organisation erfolgreich sind. Das Programm von POWER betont aber nicht nur die Ausbildung von Führung, sondern auch von Gemeinschaft, denn blinde und passive Unterordnung ist unvereinbar mit verlässlicher Führung.

Einige haben POWER dafür kritisiert, dass wir zu viel Zeit auf die Ausbildung unserer Mitglieder und Mitarbeiter verwenden. Andere sagen, ihre Organisation habe einfach nicht die Ressourcen für derart intensive Ausbildungsinitiativen. Es stimmt, dass wir uns durch solche Programme entscheiden, andere Aktivitäten zurückzustellen, doch nach unserer Erfahrung wird die Organisation durch die Investition in die politische Führung gestärkt. Mitglieder fühlen sich plötzlich Aufgaben gewachsen, die sie früher nicht übernommen hätten. Außerdem bleiben sie länger aktiv, denn es gibt – ihrer eigenen Einschätzung zufolge – keinen anderen Ort, an dem sie eine solche Ausbildung erhalten.

Die Kultivierung von Führungsfähigkeiten findet bei POWER zudem nicht nur in der Bildungsarbeit statt. AktivistInnen wachsen mit ihren Aufgaben, weshalb POWER großen Wert darauf legt, dass Mitglieder sich trauen, neue Funktionen zu übernehmen – auch solche, die sie sich vorher niemals zugetraut hätten. Dabei wollen wir jedoch niemanden ins kalte Wasser werfen, weil das demoralisierend sein kann. Stattdessen gibt es kontinuierlich Einzelgespräche zwischen Organizern und Leuten in Führungspositionen und denen, die es noch werden wollen. Dort arbeitet man gemeinsam an Ideen, wie die jeweilige Person noch besser gefördert werden kann. Egal ob es um die Leitung eines Plenums, die Präsentation eines Statements vor einem legislativen Gremium oder um eine Rede bei einer Demonstration geht: Die Mitglieder sollen Funktionen in ganz verschiedenen Bereichen der Organisation übernehmen. Nach jeder dieser Aktivitäten gibt es dann die Möglichkeit einer individuellen Evaluation, also einer Auswertung dessen, was gut war, was besser hätte sein können und was in Zukunft vielleicht anders werden müsste. Aus diesem Prozess sind bei POWER hunderte Funktionäre hervorgegangen. Viele sind immer noch in der Organisation aktiv, doch selbst jene, die es nicht sind, haben durch die Fähigkeiten und Perspektiven, die sie in der Ausbildung bei POWER gelernt haben, hervorragende Voraussetzungen, um aktiv die Herausforderungen ihres Alltags, am Arbeitsplatz und in ihrer Community anzugehen.

Dieser Text ist ein Auszug aus der Studie von Steve Williams, die auf der Website des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde: www.rosalux-nyc.org externer Link .Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Anmerkungen:

1) Paulo Freire: »Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit«, Hamburg 1973, S. 46f.

2) Natürlich sind nicht alle Dienstleister, Sachbearbeiter oder Anwälte so. In San Francisco jedoch, wo Power seine Basis hat, herrscht dieses Modell vor.

3) Paulo Freire (1921 – 1997) war ein brasilianischer Erzieher und einflussreicher Theoretiker der kritischen Pädagogik. Sein Buch »Pädagogik der Unterdrückten« legte die Grundlage für viele zeitgenössische Entwürfe der Bildungsarbeit. Myles Horton (1905 – 1990), ein amerikanischer Erzieher, war Mitbegründer der Highlander Folk School im Süden Tennessees. Das Highlander-Projekt wurde als Schulungs- und Strategiezentrum der Bürgerrechtsbewegung berühmt und stellt noch immer einen wichtigen Partner im Kampf um soziale Gerechtigkeit in den Vereinigten Staaten dar.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=54009
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