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In Erinnerung an Barbara Ehrenreich (1941- 2022), die dienstleistenden Armen und hier v.a. Frauen eine Stimme gab

Barbara Ehrenreich: Nickel and DimedBarbara Ehrenreich, die am 1. September im Alter von 81 Jahren starb, war eine der größten literarischen Vertreterinnen der Arbeiterklasse. Sie war eine wilde Vordenkerin, die mit einem säuerlich-witzigen Prosastil gesegnet war, der selbst die düstersten Themen fesselnd darzustellen vermochte, und sie war der Beweis dafür, dass Aktivismus und Journalismus sich nicht nur vermischen können, sondern wirklich öfter vermischen sollten. (…) Sie entstammte eher einer aktivistischen und gewerkschaftlichen Kultur als den hyperprofessionellen Bereichen der Nachrichtenredaktion oder der Journalistenschule. Ihr Buch Nickel and Dimed aus dem Jahr 2001, in dem Barbara undercover bei Niedriglohnjobs wie Kellnern oder Putzen arbeitete, war ein Bestseller, kann aber heute fälschlicherweise als eine bloße Erzählung über die Armen abgetan werden. (…) Die so genannte Neutralität von Politikern hat sie ebenfalls verärgert, und diese Abneigung gegen den distanzierten Jargon von Angestellten ist auch in Nickel and Dimed zu spüren. Es war eines der ersten Bücher, das Amerikas arbeitende Arme als Notlage darstellte. (…) Ihre 21 Bücher und zahlreichen Essays stehen in den Regalen mit der zeitlosesten Literatur zum Thema Klasse, auch weil ihre unverblümte Stimme den Lesern das Gefühl gab, weniger allein zu sein…“ Aus dem engl. Nachruf von Alissa Quart am 10.9.2022 in TIME externer Link („Remembering Barbara Ehrenreich, Acid Wit and Workers‘ Champion“) – siehe einen weiteren Nachruf in der dankenswerten Übersetzung durch Jörg Nowak und einen weiteren:

  • Nachruf auf Barbara Ehrenreich: Auf zum Klassenverrat! New
    Das Leben der 1941 geborenen US-Amerikanerin Barbara Ehrenreich war geprägt von politischem Aktivismus und marxistischer Gesellschaftsanalyse. Unter anderem kritisierte sie neoliberale Arbeitsverhältnisse.
    Am 1. September 2022 starb Barbara Ehrenreich. In Deutschland erschienen nur wenige kurze Nachrufe, die vor allem auf ihre bekannten Arbeiten zu prekärer Arbeit und zur Wellness-Industrie abstellten. US-amerikanische Linke ehrten sie als kritische Theoretikerin der Mittelklasse, doch ihre Bedeutung geht darüber noch hinaus. Weltweit bekannt wurde Ehrenreich 2001 durch ihr Buch »Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft«. Über mehrere Monate hinweg hatte sie sich in Jobs zum Mindestlohn verdingt, um zu erkunden, wie man damit über die Runden kommen konnte. Das Ergebnis: Man konnte es nicht – sie musste Zweitjobs aufnehmen. Aber Ehrenreich zeigte zugleich, dass diese Jobs alles andere als »ungelernte« Arbeitskräfte erforderten, sondern eine Menge an speziellen Fähigkeiten und intellektuellem Aufwand voraussetzten. Mitten in der ersten großen Börsenkrise des 21. Jahrhunderts, der »dot-com bubble«, zeigte Ehrenreich mit ihrer Arbeit die Auswirkungen der Sozialgesetze, die 1996 von der Clinton-Administration – noch in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs – beschlossen worden waren: jene Sozialgesetze, die für die 2001 in Deutschland beschlossenen Hartz 4-Reformen Stichworte wie das vom »aktivierenden Sozialstaat« lieferten. Ihr Buch ist oft als investigativer Journalismus gelesen worden, aber es leistet auch die Untersuchung einer Klassengesellschaft zu einer Zeit, als das Wort außerhalb marxistischer Kreise selten benutzt wurde. Außerdem begründete es Ehrenreichs jahrelangen Aktivismus in der Bewegung für eine Verdopplung des Mindestlohns in den USA. (…) Es ist diese unauflösbare Verbindung von akademisch-theoretischem Unterbau, journalistischer Recherche und entsprechend zugänglichem Schreibstil sowie einer aktivistischen Perspektive, die Ehrenreichs Werk auszeichnet. Dazu gehörte auch ihre Selbstpositionierung. In ihren Büchern thematisierte sie immer auch ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Untersuchungsgegenstand: als Frau, die selbst den Schikanen eines patriarchalen Gesundheitssystems unterworfen war; als Angehörige der Mittelklasse, die radikale linke Politik machte; als Feministin, die über die Konstruktion von Männlichkeit schrieb; und als Brustkrebspatientin mit einem analytischen Blick auf die zersetzende Wirkung des »Positive Thinking« und die Weigerung, über den Tod nachzudenken. Damit zwang sie auch ihre Leser*innen dazu, ihr eigenes Verhältnis zu dem Gelesenen zu bestimmen. (…) Ihre Sensibilität für die Menschen, über die sie berichtet, sowie ihre Fähigkeit, ihre eigene Rolle zu reflektieren und die Leser*in dazu zu bringen, ebenfalls ihre eigene Position zu bedenken, zeichnen Ehrenreichs Texte aus. Dabei sind ihre Analysen auch fundiert durch einen marxistisch informierten Feminismus, den sie bereits in ihrer frühen Schaffenszeit entwickelte – und aus dem auch ihre Sensibilität für die globale Dimension der Ausbeutung insbesondere in Care-Berufen, Dienstleistungsberufen und der Sexarbeit hervorging. Damit bildet Ehrenreichs Werk, so stellten amerikanische Nachrufe fest, auch ein Scharnier zwischen der »New Left« der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den neueren linken Bewegungen des 21. Jahrhunderts von Occupy Wall Street bis zum Aufstieg von Bernie Sanders und den Democratic Socialists of America…“ Nachruf von Robert Heinze am 12.10.2022 im ND online externer Link

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Barbara Ehrenreich und die wahre Arbeit des Tages der Arbeit

Jede Arbeitsniederlegung, jede ausgestreckte Hand, jedes Wort, das zur Verteidigung der Arbeitnehmerrechte geschrieben oder gesprochen wird, ist ein Sieg – unabhängig davon, ob es zu einem unmittelbaren und offensichtlichen Erfolg führt oder nicht.

Nur zwei Wochen vor Barbara Ehrenreichs Tod war ich in einem Antiquariat, wo ich eine vergriffene Broschüre fand und kaufte, die Ehrenreich 1988 gemeinsam mit der Journalistin und Autorin Annette Fuentes verfasst hatte. Es trägt den Titel „Frauen in der globalen Fabrik“.

In jenem Jahr, als der Reaganismus beide politischen Parteien umprogrammierte, widmeten sich Ehrenreich und Fuentes der ehrenwerten und nie endenden Aufgabe, die Ausbeutung durch Unternehmen zu dokumentieren. Ihre Arbeit zeigt uns, dass multinationale Konzerne schon vor Bill Clintons WTO-Abkommen mit China verarmte Arbeiter/innen ausbeuteten und insbesondere Frauen unterdrückten – und dass die US-Regierung dies unterstützte. Die später von beiden Parteien geförderten Handelsabkommen würden die Situation in den kommenden Jahrzehnten noch viel schlimmer machen.

Das Pamphlet erinnert uns auch daran, dass Ehrenreich schon lange vor ihrem bekanntesten Buch „Nickel and Dimed“, das sie 2001 berühmt machte, die Arbeit machte, die getan werden musste. Das Pamphlet enthält Fakten und Zahlen, aber auch sexistische Anpreisungen wie die Investitionsbroschüre der malaysischen Regierung, die sich rühmt, dass „die manuelle Geschicklichkeit der orientalischen Frau in der ganzen Welt berühmt ist. Ihre Hände sind klein und sie arbeitet mit Sorgfalt… Wer könnte also von Natur aus und durch Vererbung besser geeignet sein, zur Effizienz eines Fließbandes beizutragen, als das orientalische Mädchen?“

Aber es gibt auch Anlass zur Freude in dem Band, wie die Aufzählung einer Reihe von von Frauen geleiteten Arbeiter/innen-Mobilisierungen im globalen Süden. Diese Aktionen waren oft mit großen persönlichen Opfern verbunden. Sie enthalten die folgenden Beschreibungen:

  • Nuevo Laredo, Mexiko, 1973: Zweitausend Beschäftigte von Transitron Electronics legten aus Solidarität mit einer kleinen Zahl von Beschäftigten, die ungerechtfertigt entlassen worden waren, die Arbeit nieder. Zwei Tage später kamen 8.000 Streikende zusammen und wählten eine militantere Gewerkschaftsführung.
  • Bangkok, Thailand, 1976: Siebzig junge Frauen sperrten ihre japanischen Chefs aus und übernahmen die Kontrolle über ihre Textilfabrik. Sie produzierten weiterhin Jeans und Schlapphüte für den Export und zahlten sich selbst 150 Prozent mehr Lohn aus, als ihre Chefs ihnen gezahlt hatten.
  • Südkorea, 1979: Zweihundert junge Frauen, die in der Textil- und Perückenfabrik YH beschäftigt waren, protestierten mit einer friedlichen Mahnwache und einem Fasten gegen die drohende Schließung des Werks durch das Unternehmen. Am 11. August, dem fünften Tag der Mahnwache, drangen mehr als 1.000 mit Knüppeln und Stahlschilden bewaffnete Bereitschaftspolizisten in das Gebäude ein, in dem sich die Frauen aufhielten, und zerrten sie gewaltsam hinaus. Die einundzwanzigjährige Ria Kong Suk wurde bei dem Handgemenge getötet. Ihr Tod war der Auslöser für die landesweiten Unruhen, die nach Meinung vieler zum Sturz des Diktators Park Chung Hee geführt haben.

Die Aktion in Bangkok erinnert uns daran, dass die Arbeiter/innen in der Lage sind, sich durch ein Programm der betrieblichen Demokratie selbst zu verwalten. Und der Sturz von Park Chung Hee erinnert uns daran, dass es im Arbeitskampf um mehr geht als nur um die Verbesserung der Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen der Arbeiter/innen. So wichtig diese Dinge auch sind, sie können nicht dauerhaft erreicht werden, wenn sie nicht auch zu einer grundlegenden Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse führen.

Das ist die eigentliche Arbeit, die vor uns liegt. Denken Sie an diesen Satz aus Geoff Manns aktueller Untersuchung der De-Growth-Bewegung in The London Review of Books: „Alles (in der modernen Wirtschaft) basiert auf der Annahme, dass das Kapital entscheidet und die Arbeiter/innen tun, was man ihnen sagt“.

Diese Annahme ist genau das, was die Gewerkschaften des Baugewerbes in Brisbane, Australien, in den 1970er Jahren in Frage stellten, als sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Rechte anderer und für die ökologische Integrität der gesamten Stadt streikten. Diese Bemühungen sind in einem (inzwischen vergriffenen) Buch dokumentiert, mit dem Titel „Green Bans, Red Union: Environmental Activism and the New South Wales Builders Labourers Federation“. Wie die Autoren Meredith und Verity Bergmann zeigen, setzten die Bauarbeiter von Brisbane ihre Macht ein, um Grünflächen zu erhalten (und weigerten sich, an Gebäuden zu arbeiten, die diese zerstörten), und verteidigten die Rechte von Frauen, LGBTQ und indigenen Völkern. Ihre Arbeit wurde schließlich unterdrückt, aber nicht bevor sie einige grüne Teile von Brisbane für immer bewahrt hatten (zumindest bis jetzt).

Die von den „roten Gewerkschaften“ demonstrierte Arbeitersolidarität stellt die von Mann beschriebene Prämisse auf den Kopf und weist den Weg in eine demokratischere und lebenswertere Zukunft. Was das Pamphlet betrifft: Nicht alle darin aufgeführten Aktionen haben zu sichtbaren Fortschritten geführt. Aber jede Frau, die daran teilgenommen hat, hat dazu beigetragen, die Arbeiterrechte voranzubringen, indem sie präsent, bewusst und mutig war. Unsere Worte und Taten haben eine Wirkung, die wir vielleicht nie verstehen werden. Es ist unsere Pflicht und unser Privileg, unsere Arbeit zu tun, egal wie sie ausgeht. Barbara Ehrenreich hat diese Arbeit geleistet. Das taten auch die Frauen, deren Aktionen sie und Fuentes aufzeichneten.

Jede Arbeitsniederlegung, jede ausgestreckte Hand, jedes Wort, das zur Verteidigung der Arbeitnehmerrechte geschrieben oder gesprochen wird, ist ein Sieg – unabhängig davon, ob es zu einem unmittelbaren und offensichtlichen Erfolg führt oder nicht. Der einzige Misserfolg ist, es nicht versucht zu haben.

Richard J. Eskow (Artikel „Barbara Ehrenreich and the Real Work of Labor Day“ am 5.9.2022 in Common Dreams externer Link – wir danken Jörg Nowak für die Übersetzung aus dem Englischen!)

  • Richard (RJ) Eskow ist freiberuflicher Schriftsteller. Ein Großteil seiner Arbeit ist auf eskow.substack.com zu finden. Seine wöchentliche Sendung The Zero Hour ist im Kabelfernsehen, im Radio, auf Spotify und als Podcast zu hören. Er ist Berater bei Social Security Works.

Siehe auch:

  • Barbara Ehrenreich lässt sozialistische Ideen wie gesunden Menschenverstand klingen
    Barbara Ehrenreich wurde sowohl von ihrer ungebrochenen Wut über die tiefgreifenden Ungerechtigkeiten des Lebens im Kapitalismus als auch von der inbrünstigen Hoffnung angetrieben, dass die Welt nicht so sein muss.
    Im Jahr 2009, als eine tiefe Rezession eine Epidemie von Entlassungen und Zwangsvollstreckungen auslöste, bat die New York Times Barbara Ehrenreich, eine Reihe von Artikeln über die Armut in den Vereinigten Staaten zu schreiben. Sie besuchte Los Angeles, wo ich sie mit Gemeinde-, Mieterrechts- und Gewerkschaftsorganisatoren bekannt machte. Sie reiste auch nach Detroit, Dallas, Baltimore, Saint Louis, Racine, Wisconsin, Wilmington, Delaware, und New York, wo sie mit Menschen mit niedrigem Einkommen sowie mit Armutsforschern und -aktivisten sprach. Nach ihrer Rückkehr nach Virginia mailte sie mir: „Ich bin bereit, meine Notizen durchzusehen und zu sehen, wo ich hingekommen bin. Es ist ein bisschen überwältigend, aber ich spüre, wie mein Wutpegel steigt, also überlege ich mir besser etwas.“
    Sie fand heraus, dass sich die Zusammensetzung der Armut verändert hatte. In vier bemerkenswerten Artikeln („Is It Now a Crime to Be Poor?“, „The Recession’s Racial Divide“, „Too Poor to Make the News“ und „A Homespun Safety Net“) beschrieb sie zwei Gruppen von Amerikanern, die Not und Elend ertragen müssen: die nach unten mobile Mittelschicht und diejenigen, die schon vor dem Wirtschaftsabschwung arm waren und deren Lage sich noch verschlechtert hat. Sie stellte aber auch eine aufkeimende Bewegung unter den Armen und ihren Verbündeten fest, die Amerikas Gleichgültigkeit gegenüber Armut, niedrigen Löhnen und einem dürftigen Sicherheitsnetz in Frage stellt.
    In ihren Berichten spiegelten sich ihre beiden unnachgiebigen Lebensansichten wider: Empörung und Hoffnung. Es war ein Drahtseilakt, den Ehrenreich – die am Donnerstag im Alter von einundachtzig Jahren in einem Hospiz in Alexandria, Virginia, an einem Schlaganfall starb – die meiste Zeit ihres Lebens vollzog.
    Das Radikale in das Vernünftige verwandeln
    Die Schlagzeile des Nachrufs der New York Times nannte Ehrenreich einen „Erforscher der dunklen Seite des Wohlstands“. Es stimmt, dass Ehrenreich wie viele andere Reporter und radikale Reformer die dunkle (und menschliche) Seite der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit und des unnötigen Leids in den Vereinigten Staaten aufdeckte. Aber sie war nicht nur eine Sozialkritikerin, die von der Seitenlinie aus rhetorische Granaten abfeuerte. Sie war auch eine Aktivistin, die ihre heiße Wut in Taten umsetzte…“ So beginnt der engl. Artikel von Peter Dreier am 7.9.2022 in Jacobin („Barbara Ehrenreich Made Socialist Ideas Sound Like Common Sense“)(Maschinenübersetzung)
  • Für Barbara Ehrenreich im LabourNet empfehlen wir die Volltextsuche, auch im LabourNet-Archiv bis 2012
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204201
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