Ungarn: Der Protest von Kurieren als Initialzündung für landesweite Proteste gegen Orbáns Steuerreform der Verarmung

In Ungarn gibt es mittlerweile landesweite Demonstrationen gegen die Regierung. Die Proteste begannen zunächst mit der Blockade einer Brücke in der Hauptstadt Budapest, wo Essenskuriere gegen hohe Spritkosten und eine neue Besteuerung ihrer Arbeit demonstrierten. Deren gewaltsame Räumung durch die Polizei entfachte weitere Proteste. Insbesondere für kleine Unternehmen und Selbstständige soll die neue Steuerreform KATA zum Nachteil werden. Auch die Mietnebenkosten sollen drastisch ansteigen. Unter anderem die linke Oppositionspartei Momentum organisiert die Proteste. Hierzu weitere Hintergründe:

• Blockaden in Budapest: Bevölkerung protestiert wegen Steuererhöhung und Einsparungen gegen Orbán-Regierung
  „Fahrradfahrer und Fußgänger blockierten in den vergangenen Tagen zu Tausenden Budapester Brücken und Straßen. Einige von ihnen gerieten darüber mit Autofahrern in Streit. Äußerlich erinnern diese Bilder an Klimademos. Doch in Ungarn geht es um etwas anderes. Viele der Demonstranten waren als Fahrradkuriere von Lieferdiensten zu erkennen. Sie demonstrierten gegen eine Steuererhöhung, die sie und viele Selbstständige betrifft. (…) Die Steuerreform, die die Ungarn auf die Straße treibt, belastet rund 460 000 Selbstständige, die bisher von einer niedrigen Pauschalsteuer, der sogenannten KATA, profitiert haben. Die Fidesz-Regierung hatte die KATA 2013 selbst eingeführt. Sie sieht vor, dass Selbstständige mit einem Jahreseinkommen bis zu umgerechnet 30 000 Euro eine gestaffelte monatliche Pauschale von umgerechnet 60 bis 180 Euro an das Finanzamt abführen können. Laut Umfragen genoss die KATA hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die monatlichen Pauschalen weit niedriger sind als die übliche Einkommenssteuer. Die Reform sieht nun vor, dass über KATA nur noch abgerechnet werden kann, wenn man ausschließlich für Privatpersonen arbeitet. So kann ein Elektriker zum Beispiel KATA in Zukunft nur noch nutzen, wenn er Leitungen ausschließlich in Privathäusern verlegt. Sollte er nur einmal für eine Firma arbeiten, dürfte er die Steuerpauschale überhaupt nicht mehr beanspruchen. In der Praxis kann wohl kaum ein Handwerker in Ungarn ausschließlich für Privatpersonen arbeiten. (…) Ausgenommen von der Reform sind nur Taxifahrer. Der inoffizielle Grund hierfür dürfte wohl die Erinnerung an die Taxiblockade sein, die 1990 den Verkehr in Budapest blockiert hatte, um gegen eine plötzliche Benzinpreiserhöhung der damaligen konservativen Regierung zu protestieren. Eine Wiederholung möchte Fidesz sicher vermeiden. Neben der Steuerreform hat die Fidesz-Regierung auch beschlossen, die staatliche Stützung der Energiepreise für private Verbraucher zurückzufahren, die sie 2013 selbst eingeführt hat und die das vielleicht prestigeträchtigste Projekt des Orbán-Regimes ist. Obwohl Orbáns Fidesz eine Austeritätspolitik bislang kategorisch ausgeschlossen hatte, setzt sie nun auf Einsparungen, die weite Teile der Bevölkerung treffen. (…) Fraglich ist, ob die Wähler Fidesz den Bruch wichtiger Versprechen verzeihen werden. Dafür sind die aktuellen Proteste ein Gradmesser. Doch die paar tausend Demonstranten sind noch zu wenig, um die Regierung ernsthaft in Bedrängnis zu bringen.“ Artikel von Edmond Jäger vom 21. Juli 2022 in neues Deutschland online 
• Erneut Protest in Budapest
  „Während das ungarische Parlament heute zu einer zweitägigen Sondersitzung zusammengetreten ist, finden in Budapest seit einer Woche Proteste gegen die rechtsnationale Regierung von Viktor Orban statt. Zuletzt blockierten Fahrradkuriere die Margaretenbrücke. Bei der Räumung der Brücke durch die Polizei wurden laut Medienberichten Elektroschockgeräte gegen zwei Demonstranten eingesetzt. Die Dauerproteste richteten sich gegen das „brutale Steuerpaket“ der Regierung, wie die Einschränkung der günstigen Pauschalbesteuerung für rund 450.000 Freiberufler, zu denen auch die Kuriere gehören. Protestiert wird auch wegen der Einschränkung der bisher günstigen Wohnnebenkosten. Die Petition der Kuriere wurde von Andras Jambor, Abgeordneter der Oppositionspartei Parbeszed (Dialog), den Abgeordneten der Regierungspartei FIDESZ überreicht. Darin wird gefordert, die Steuergesetzgebung für Freiberufler und die Regelung der Wohnnebenkosten neu zu überdenken. Zugleich wird Staatspräsidentin Katalin Novak durch die Oppositionspartei Momentum aufgefordert, das neue Steuergesetz nicht zu unterschreiben…“ Agenturmeldung, veröffentlicht am 18. Juli 2022 auf ORF.at 
• Ungarns Proteste dauern auch am fünften Tag an, und die Wut über Orbáns Steueränderungen wächst
  „Tausende von Menschen protestierten am Samstag in Budapest einen fünften Tag lang gegen die Regierung von Viktor Orbán, da die Wut über Steueränderungen, die laut Kritikern kleinen Unternehmen schaden werden, immer größer wird. Die Ungarn sind auf die Straße gegangen, nachdem das Parlament am Dienstag eine Gesetzesänderung verabschiedet hatte, die Hunderttausende von Kleinunternehmern betreffen wird. Die Proteste sind die ersten, seit Ministerpräsident Orbán im April eine vierte Amtszeit in Folge mit einem Erdrutschsieg gewonnen hat. Mehrere tausend Menschen marschierten am Samstag durch die Budapester Innenstadt und skandierten „Orbán, hau ab“. (…) Trotz Preisobergrenzen für unverzichtbare Güter sieht sich das mitteleuropäische Land mit einer steigenden Inflation und einer abstürzenden Landeswährung konfrontiert, und das inmitten von Gesprächen mit Brüssel über blockierte EU-Mittel. Ungarn, das weitgehend von russischem Öl und Gas abhängig ist, hat am Mittwoch wegen der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Energiekrise den ‚Gefahrenzustand‘ ausgerufen. Zu den Maßnahmen zur Bewältigung des Problems gehört die Vorschrift, dass Menschen, die mehr als die durchschnittliche Energiemenge verbrauchen, diese zum Marktpreis und nicht mehr zum subventionierten staatlichen Tarif bezahlen müssen…“ (engl.) AFP-Meldung, veröffentlicht am 17. Juli 2022 im Guardian („Hungary protests continue for fifth day amid growing anger at Orbán tax changes”)
• Die ungarische linke Partei „Momentum“ schreibt zu den Protesten am 14. Juli 2022 (ung. – Maschinenübersetzung): „Am Mittwochabend, dem 13. Juli, nahmen Tausende von Menschen an einer Momentum-Demonstration auf dem Kossuth-Platz teil, nachdem die Fidesz innerhalb von 24 Stunden eine Gesetzesänderung für Selbstständige vorgelegt und verabschiedet hatte, die 400.000 Arbeitnehmer in eine schwierige Lage gebracht hat. Der Vorsitzende von Momentum, Ferenc Gelencsér, einer der Redner auf der Veranstaltung, sagte, niemand, der etwas von Wirtschaft verstehe, könne ernsthaft glauben, dass die Zerstörung der Hufe von Selbstständigen in irgendeiner Weise zur Eindämmung der Inflation beitragen könne. ‚Die Regierung will von Ihnen, den Kurieren, Lehrerkräften, Immobilienmakler:innen, IT-Spezialist:innen, Übersetzenden, Blumenhändler:innen und Schriftsteller:innen, das Geld eintreiben, das dem Land durch eine inkompetente Wirtschaftspolitik verloren geht. Hunderttausende von Menschen werden ruiniert oder ins Ausland vertrieben‘. Gelencsér wandte sich auch an diejenigen, die nicht direkt von dem Katastrophengesetz betroffen sind, da jeder die Inkompetenz der Fidesz-Regierung durch den Anstieg der Kosten für Dienstleistungen erfahren kann. (…) Momentum fordert eine außerordentliche Sitzung des Parlaments, um den Gesetzentwurf der Partei zu verabschieden, der das Katata-Gesetz stoppen soll, das Hunderttausende von Menschen in der Schwebe halten würde.“