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Hardliner, Neoliberale, Oligarchen: Der fragwürdige Erfolg der Ukraine

Dossier

Eine der vielen Gewerkschaftsdemonstrationen in Kiew im Juni 2015„… In unzähligen Talkshows durfte man in den vergangenen zehn Monaten vielfach hören und in Zeitungen durfte man seit dem Beginn des russischen völkerrechtswidrigen Angriffskrieges immer wieder lesen, dass die Ukraine eine „blühende Demokratie“ sei, die „an den Grenzen Russlands Erfolg“ hat. Schaut man sich die sozioökonomischen Daten der an die EU angegliederten Ukraine an, sucht man diese angebliche Erfolgsgeschichte jedoch vergeblich. (…) Keine einzige Regierungen vom Februar 2014 bis zum Februar 2022 setzte sich vom Weltwährungsfonds und seinen wirtschaftsliberalen Vorgaben ab – die unter Selenskyj leisteten sogar noch weniger Widerstand als die unter Poroschenko. Nach Vorgaben des IWF wurden etwa die ukrainischen Zölle gesenkt, das Rentenniveau eingefroren, Subventionen für den Gaspreis gekürzt und die Privatisierung des aufgrund seiner fruchtbaren Böden besonders wertvollen Landes erlaubt…“ Beitrag von David X. Noack vom 2. Januar 2023 bei Telepolis externer Link – siehe mehr daraus und dazu sowie Hintergründe:

  • Nach uns die Kapitalflut: Westliche Investor*innen wollen die Ukraine zu einem »Leuchtfeuer der Hoffnung für die Kraft des Kapitalismus« machen New
    „Man dürfe nicht vergessen, dass der Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft »auch ein gewaltiges Konjunkturprogramm für die europäische Industrie und Wirtschaft« sei, erinnert der Handelsblatt-Journalist Mathias Brüggemann am Ende eines Beitrags über die Kosten und Risiken jener Operation, die derzeit von unterschiedlichsten Akteuren mit hohem Druck vorangetrieben wird: die Vorbereitung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der kriegszerstörten Ukraine. (…) Eine ganze Armada an Investor*innen, Unternehmen, staatlichen und multilateralen Akteuren schmiedet Pläne für eine neue, modernisierte Ukraine. (…) Ihre Erwartungshaltung, diesen Prozess mitzugestalten, ergibt sich vor allem aus ihrer Rolle als Schuldner*innen. (…) Der Finanzbedarf wird mittlerweile auf Summen zwischen 400 Milliarden und 1,2 Billionen Euro geschätzt. Dass diese Mittel nicht nur aus staatlichen Kassen kommen können, sondern private Finanziers einen Großteil des Geldes aufbringen sollen, darüber herrscht Einigkeit. (…) Dass Selenskyi den Kriegszustand genutzt hatte, um das ukrainische Arbeitsrecht zu schleifen, dürfte aus Investor*innensicht ein weiterer positiver Standortfaktor sein. (…) Aus Sicht deutscher, vor allem kleiner und mittelständischer Unternehmen ist die Ukraine als Produktionsstandort schon lange interessant, weil die Löhne niedrig sind, aber auch wegen der geografischen Nähe. (…) Und auch die große Mehrheit der aktuellen Hilfszahlungen sind keine nicht-rückzahlbaren Zuschüsse, sondern Kredite. Zwar gelten derzeit unterschiedliche Schuldenmoratorien, auch diese Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen sind aber nur zeitlich nach hinten verschoben. Der EU-Beitrittsprozess wird zudem weiter genutzt werden, um politische Reformen wie Privatisierungen von Staatsbetrieben, die weitere Liberalisierung des Agrarsektors, Korruptionsbekämpfung oder Sparmaßen im Bereich der öffentlichen Ausgaben einzufordern. Allein über diesen Hebel werden Investitionsentscheidungen effektiv gesteuert. Zudem wird die Ukraine neue Schulden aufnehmen müssen, um die alten zu begleichen. Ein bekannter Teufelskreis. Allein im letzten Jahr musste die Ukraine insgesamt 6,2 Milliarden Dollar für den Schuldendienst an ausländische Gläubiger aufbringen, 2,7 davon an den IWF, der seine »Hilfen« stets an eine neoliberale Reformagenda knüpft. Welchen Kurs die Entwicklung in der Ukraine in den nächsten Jahren einschlagen wird, ist unmöglich vorherzusagen. Weder ist klar, wie lange der Krieg noch dauern und wie er enden wird, noch ob die Selenskyi-Regierung bis zum Ende im Amt bleibt, oder wie sich das geopolitische Kräfteverhältnis bis dahin verschoben haben wird. Es ist eine Rechnung mit etlichen Unbekannten. Sicher ist aber, dass eine internationale Finanz-, Wirtschafts- und Politikelite gewillt ist, die Ukraine in Zeiten der wachsenden Systemkonkurrenz zu einem Leuchtturmprojekt des neoliberalen Kapitalismus zu machen.“ Artikel von Lene Kempe aus dem ak 694 vom 20. Juni 2023 externer Link
  • In der Ukraine wird unter dem Lärm des Krieges eine oligarchische Diktatur errichtet 
    „(Red.) Man kann es nicht genug wiederholen: Noch kurz vor Beginn des Krieges im Februar 2022 wurde die Ukraine aus westeuropäischer Sicht richtigerweise als absolut korruptes Land gesehen und auch öffentlich so kritisiert. Man denke etwa an den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes – siehe hier. Aber jetzt verkauft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Land als „Verteidigerin europäischer Werte” – und die EU- und Schweizer Politiker verbreiten diese absurde Propaganda-These ungeprüft weiter. Zum Glück gibt es aber immer noch ukrainische Beobachter, die es wagen, die Realität in der Ukraine darzustellen. Zu ihnen gehört Maxim Goldarb, der der ukrainischen sozialistischen Bewegung vorsteht. (cm)(…) In der Ukraine kontrollieren mehrere oligarchische Clans seit langem den Löwenanteil der Wirtschaft und des nationalen Reichtums, fast alle wichtigen Medien, die Exekutive, die Strafverfolgungsbehörden und die große Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Es ist kein Geheimnis, dass hinter jeder großen Wirtschaftsstruktur, hinter jeder Parlamentsfraktion, hinter jedem Spitzenbeamten der eine oder andere Oligarch steht. In den letzten Jahren haben die Oligarchen – die Leute auf der Forbes-Liste aus der Ukraine – ihr Vermögen und die Kontrolle über das Land und seine Ressourcen stetig vergrößert und sie und seine Bürger gnadenlos ruiniert. Jetzt, nachdem sie durch die Feindseligkeiten finanzielle Verluste erlitten haben, haben sie beschlossen, diese zu kompensieren, indem sie ausnahmslos die absolute Kontrolle über alle Finanzströme erlangten: seien es Militärgüter, humanitäre Hilfe, Steuern, Kredite, internationale Hilfe für den Wiederaufbau, Exporteinnahmen, Versorgungszölle, und so weiter. Dazu werden unter dem Lärm des Krieges die letzten Hindernisse für die Errichtung einer oligarchischen Diktatur beseitigt. Gleichzeitig sind die derzeitigen hochrangigen präsidentennahen Beamten nicht abgeneigt, selbst zu neuen Oligarchen zu werden und den alten Oligarchen den Reichtum gewaltsam wegzunehmen. Es stehen zu viele Milliarden auf dem Spiel, also handeln sie dreist, fast offen (jüngste Videos des stellvertretenden Leiters des Büros des Präsidenten eines kriegsführenden, verwüsteten Landes, der ein Auto für eine Viertelmillion fährt, sind nur eine von vielen Bestätigungen dafür)...“ Artikel von Maxim Goldarb am 5. April 2023 im „Forum gewerkschaftliche Linke Berlin“ externer Link
  • [Den „Reformen“ sei Dank] Invasion der Investoren. Schon jetzt wittern neokoloniale Aasgeier im Wiederaufbau der Ukraine das große Geschäft 
    „Man mag es kaum glauben: Der Krieg, unter dem Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit leiden, wird wahrscheinlich nicht das letzte Kapitel ihrer Misere sein. Denn viele reiben sich schon die Hände und hoffen auf einen »Goldrausch«, den der Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg bieten könnte. Im November vergangenen Jahres unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij ein Memorandum of Understanding (MoU) mit Blackrock. Demzufolge wird die Financial Markets Advisory (FMA) des Unternehmens – eine spezielle Beratungseinheit, die nach dem Finanz-Crash 2008 eingerichtet wurde, um mit Regierungen von Krisenstaaten zusammenzuarbeiten – das ukrainische Wirtschaftsministerium bei der Ausarbeitung eines Plans für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Landes beraten. Seitens Blackrock heißt es dazu, die Vereinbarung habe »das Ziel, Möglichkeiten für öffentliche und private Investoren zu schaffen, sich am zukünftigen Wiederaufbau und der Erholung der ukrainischen Wirtschaft zu beteiligen«. Die ukrainischen Behörden erklären um einiges unverblümter, worum es im Kern geht. In einer Pressemitteilung des Ministeriums heißt es, man wolle »in erster Linie privates Kapital anziehen«. Mit der Vereinbarung werden vormalige Gespräche vom September 2022 zwischen Selenskij und dem Vorsitzenden und CEO von Blackrock, Larry Fink, offiziell formalisiert. Bereits damals hatte der Präsident betont, die Ukraine müsse »ein attraktives Land für Investoren« werden. Es sei »wichtig, dass eine solche Regelung für alle beteiligten Parteien erfolgreich wird«. Laut einer weiteren Mitteilung aus dem Büro des Präsidenten hatte Blackrock die ukrainische Regierung bereits Ende 2022 »mehrere Monate« lang beraten. Beide Seiten hatten vereinbart, sich darauf zu konzentrieren, »die Bemühungen aller potenziellen Investoren und Teilnehmer« am ukrainischen Wiederaufbau zu koordinieren und »Investitionen in die wichtigsten und einflussreichsten Branchen der ukrainischen Wirtschaft zu lenken«. (…) Die Ukraine hat sich bereits für Investitionen geöffnet. Im Dezember 2022, als die Gespräche zwischen Kiew und Blackrock schon seit Monaten im Gang waren, boxte das ukrainische Parlament ein von Bauunternehmern unterstütztes Gesetz durch, das vor dem Krieg ins Stocken geraten war. Es sieht vor, die Städtebaugesetze zugunsten der privaten Bauwirtschaft – die es vor allem auf den Abriss historischer Bauten abgesehen hat – zu deregulieren. Hinzu kommt der Schlag des Parlaments gegen die Arbeitsgesetze aus der Sowjet-Ära, mit dem Null-Stunden-Verträge legalisiert, der Einfluss der Gewerkschaften geschwächt und der rechtliche Arbeitsschutz für 70 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter faktisch abgeschafft wurde. Diese Änderung wurde nicht von Blackrock, sondern vom britischen Außenministerium unter der Regierung Boris Johnsons empfohlen und von Selenskijs eigener Partei vorangetrieben. Man war der Ansicht, dass die »extreme Überregulierung der Beschäftigung den Prinzipien der Selbstregulierung des Marktes widerspricht« und »bürokratische Hindernisse […] für die Selbstverwirklichung der Beschäftigten« schaffe. »Schritte in Richtung Deregulierung und Vereinfachung des Steuersystems sind Beispiele für Maßnahmen, die den Krieg nicht nur überstanden haben, sondern durch ihn beschleunigt wurden«, schwärmte The Economist in seinem »Reform Tracker 2022«. »Da sich sowohl das nationale als auch das internationale Umfeld für die rasche Erholung und Entwicklung der Ukraine einsetzt«, würden sich die Reformen nach dem Krieg wahrscheinlich beschleunigen, so die Hoffnung. Außerdem erwarte man weitere Deregulierung, die »den Weg für internationales Kapital in die ukrainische Landwirtschaft öffnet«. Das Erfolgsrezept, so der Rat des Economist, sei eine verstärkte Privatisierung »defizitärer Staatsbetriebe«, um so »die Staatsausgaben zu senken«. (…) Nach dem selben Muster wurde auch schon im Fall von anderen krisengeschüttelten Ländern vorgegangen – Länder, die auf die finanzielle Hilfe westlicher Regierungen und Institutionen angewiesen sind. Diese Staaten müssen oft feststellen, dass die Gelder, die sie dringend benötigen, an einige unangenehme Bedingungen geknüpft sind. Dazu gehören verbindliche Reformen, die die Beteiligung des Staates an der Wirtschaft abbauen und die Märkte des Landes für ausländisches Kapital öffnen – was die Verarmung und das Leid der Bevölkerung noch verschlimmert. Das geschah in der Ukraine schon lange vor dem russischen Angriffskrieg. Der Internationale Währungsfonds und westliche Funktionäre wie der damalige US-Vizepräsident Joe Biden setzten die Regierung in Kiew unter Druck, Reformen wie die Kürzung der Gassubventionen für ukrainische Haushalte, die Privatisierung tausender staatlicher Unternehmen und die Aufhebung des langjährigen Moratoriums für den Verkauf von Ackerland durchzuführen. Letzteres hat Selenskij unter dem finanziellen Druck der Pandemie durchgedrückt. Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wird aktuell von Moskaus Großmachtpolitik bedroht. Momentan sieht es leider so aus, als würden auf ein Ende dieses Krieges neue Angriffe aus einer anderen Richtung folgen. Die Investorenarmee des Westens bereitet sich jedenfalls schon auf ihre eigene Art von Invasion vor.“ Artikel von Branko Marcetic in der Übersetzung von Tim Steins am 3. Februar 2023 in Jacobin.de externer Link

  • Weiter im Beitrag von David X. Noack vom 2. Januar 2023 bei Telepolis externer Link: „(…) Aufgrund der niedrigen Zölle und der geografischen Nähe überschwemmten Produkte aus der EU die Ukraine und das Land erlebte eine dramatische Deindustrialisierung aufgrund der EU-Assoziierung. (…) Zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine rückten im Jahr 2017 landwirtschaftliche Produkte zum Hauptexportgut des Landes auf. Damit stieg die Ukraine zu einem peripheren Staat – ähnlich vielen Ländern im Globalen Süden – ab. Mit der Deindustrialisierung gab es auch eine Neujustierung des Außenhandels. (…) Neben der Wirtschaft kollabierte auch das Gesundheitswesen – schon vor der Coronapandemie. 2017 gaben in Umfragen 90 Prozent der Ukrainer:innen an, sich Behandlungen in dem eigentlich kostenlosen Gesundheitswesen nicht leisten zu können. (…) Im Jahr 2020 hatte die Ukraine laut der Weltbank die niedrigste Lebenserwartung auf dem europäischen Kontinent – noch hinter Armenien und der Republik Moldau. (…) In Reaktion auf die desaströse wirtschaftliche Lage, das politische Klima und die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine emigrierten immer mehr Menschen. Wie der damalige Außenminister Pawlo Klimkin 2018 einräumte, verließen jedes Jahr rund eine Million Menschen das Land. (…) Für deutsche Konzerne hingegen sah die Situation ganz anders aus: Wie es Andreas Lier, der Präsident der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer, im Jahr 2018 formulierte, war die mit der EU assoziierte Ukraine die „beste Ukraine, die es jemals gab“. (…) Ein langsamer Niedergang setzte ein und verstärkte sich infolge der EU-Assoziierung. Allein im Jahr 2021 verlor die Ukraine über 440.000 Menschen durch niedrige Geburtenraten, hohe Sterbezahlen und eine anhaltende Emigration. Nach Erkenntnissen des IWF rutschte die Ukraine 2018 erstmals zum ärmsten Land Europas ab – noch hinter dem langjährigen Schlusslicht, der benachbarten Republik Moldau. Laut Angaben der neoliberal ausgerichteten Weltbank stieg die Zahl der Menschen, die unterhalb der offiziellen Armutsschwelle lebten, von 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2014 auf 25 Prozent im Jahr 2018. Das lag neben der allgemeinen Preisentwicklungen, den niedrigen Löhnen unter anderem an der Entwicklung der Energiepreise: Die Gaspreise für die einfache Bevölkerung stiegen von 2014 bis 2022 um sage und schreibe 650 Prozent. Bis in die Gegenwart erreichte die Ukraine nicht das BIP-pro-Kopf-Niveau von 1990 wieder. Ganz im Gegenteil: Laut Berechnungen der Weltbank liegt das BIP pro Kopf heute sogar 20 Prozent darunter. Die Geschichte der an die EU angelehnten und seit 2016 offiziell assoziierten Ukraine ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte eines anhaltenden wirtschaftlichen Niedergangs, einer schrumpfenden Bevölkerung mit immer niedrigerer Lebenserwartung, einer immer größeren Emigration von Menschen aus dem Land und einem zerbröselnden Gesundheitssystems. Wenn Politiker in Westeuropa meinen, dass die Ukraine für „unsere Werte“ kämpfe, dann meinen sie nicht wirklich eine repräsentative Demokratie – sondern einen kaum gezügelten Neoliberalismus, der das Land de facto aber sozioökonomisch heruntergewirtschaftet hat.“

Siehe zum Thema im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=207451
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