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Auch in Tunesien kommen Widerstand und selbstorganisierte Solidarität von jenen, die es besonders trifft: Informell Beschäftigte, Flüchtlinge, Arme…

Jugendprrotest in Tunesien im Februar 2016 - gegen Erwerbslosigkeit„… Um das zu verhindern, hat der Staat schnell strenge Maßnahmen getroffen, teilweise früher als viele europäischen Staaten. Bereits Anfang März, wenige Tage nachdem die erste Covid-19-Erkrankung bestätigt wurde, mussten Reisende aus Risikogebieten 14 Tage in Isolation, größere Versammlungen sowie Kultur- und Sportveranstaltungen wurden untersagt. Seit 18. März ist eine nächtliche Ausgangssperre in Kraft, seit 22. März gibt es auch tagsüber strikte Ausgangsbeschränkungen. Die Grenzen sind geschlossen. Regierungschef Elyes Fakhfakh, der erst seit Ende Februar im Amt ist, sprach in einer Rede im Fernsehen von einer „Ausnahmesituation, wie wir sie selbst bei der Revolution noch nicht erlebt haben“. Er bat die Bürger um Verständnis für die Einschränkungen und um Geduld. Die relativ langsame Ausbreitung des Virus scheint ihm bis jetzt Recht zu geben. In einer repräsentativen Umfrage vom vergangenen Wochenende bewerteten mehr als zwei Drittel der Befragten die Maßnahmen des Gesundheitsministeriums positiv, über 80 Prozent fühlten sich durch die Sensibilisierungskampagnen gut über Corona informiert. Doch die strikten Maßnahmen haben auch ihre Schattenseiten. Zwar hat die Regierung ein Hilfspaket von 2,5 Milliarden Dinar (rund 800 Millionen Euro) für Unternehmen aufgelegt. Dies entspricht rund fünf Prozent des Jahreshaushalts Tunesiens. Doch etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung wird im informellen Sektor erbracht, der in der offiziellen Statistik nicht erfasst wird und keine geregelten Arbeitsverhältnisse aufweist. So stehen viele Tagelöhner, die sonst von der Hand in den Mund leben, seit Beginn der Einschränkungen vor dem Nichts. Das tunesische Sozialministerium kündigte immerhin die Unterstützung von Bedürftigen in Höhe von 50 bis 200 Dinar (15 bis 64 Euro) an. Außerdem soll niemandem, der seine Rechnung nicht zahlen kann, in dieser Zeit Wasser, Strom oder Telefon abgestellt werden. Als diese angekündigten Unterstützungen zu Beginn der Woche nicht pünktlich ausgezahlt wurden, kam es nach Medienberichten in Vororten von Tunis zu Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei...“ – aus dem Beitrag „Eindämmung des Coronavirus: Tunesiens Balanceakt“ am 03. April 2020 bei den Weltsichten externer Link – worin auch noch zu den besonderen Auswirkungen in der wichtigen Tourismus-Branche informiert wird. Zu den Auswirkungen der Ausgangssperre, Solidarität und Widerstand in Tunesien drei weitere aktuelle Beiträge:

  • „Die Sprengkraft des Lockdowns“ von Sofian Philip Naceur am 03. April 2020 in der jungen welt externer Link zu den Protesten unter anderem: „… Doch seit Wochenbeginn zeigt sich im Land erstmals konkret, welche sozioökonomische Sprengkraft eine wochenlange Ausgangssperre haben kann. Zwischen 18 und 6 Uhr darf man nicht auf die Straße, tagsüber sind alle dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Am Montag kam es in den Arbeitervierteln Mnihla und Ettadhamen im Norden von Tunis zu ersten Protesten. Hunderte Menschen versammelten sich vor einer Postfiliale und einem Regierungsbüro und forderten die Auszahlung der von der Regierung versprochenen Sonderhilfen für die sozial Benachteiligten sowie Genehmigungen, ihre jeweiligen Jobs fortsetzen zu dürfen. Autoreifen wurden angezündet, Straßen blockiert. Die Nationalgarde schritt ein und löste die Proteste auf. Beide Viertel gelten als »soziale Brennpunkte« mit schlechter staatlicher Infrastruktur. Unzählige hier lebende Menschen haben praktisch weder soziale Absicherung noch ein festes Gehalt und sind daher auf die täglichen Erlöse ihrer prekären Jobs zwingend angewiesen. Hintergrund der Proteste vom Montag war dabei nicht nur die angespannte Lage vieler Menschen, sondern auch, dass die Behörden die in der Vorwoche gegebenen Versprechen nicht eingelöst hatten. (…) Proteste gab es derweil auch in dem vom Staat jahrzehntelang vernachlässigten Gesundheitssystem. Am Dienstag versammelte sich das Personal eines Krankenhauses in der westtunesischen Provinz Kasserine vor der Klinik, nachdem bekanntgeworden war, dass sich ein dort beschäftigter Arzt mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Mitarbeiter forderten die unverzügliche Versorgung mit sanitärer Schutzausrüstung und Tests sowie die Erlaubnis, sich in Quarantäne begeben zu dürfen, da zahlreiche Beschäftigte mit dem infizierten Arzt in Kontakt gewesen waren. Wie der Radiosender Mosaique FM berichtete, gingen Polizeikräfte mit Tränengas gegen das Klinikpersonal vor...“
  • „Hungerstreik im Abschiebeknast“ von Sofian Philip Naceur am 10. April 2020 in der taz online externer Link zu einer weiteren Protestaktion unter anderem: „… Seit Anfang der Woche sind 33 Insassen der berüchtigten Haftanstalt Wardia in der Hauptstadt Tunis in einem unbefristeten Hungerstreik. Die Insassen protestieren gegen unzureichende medizinische Versorgung und fordern aufgrund der Pandemie ihre sofortige Freilassung. Sie befürchten, dass das Corona-Virus früher oder später in das ausschließlich für Migrant*innen genutzte Zentrum eingeschleppt wird und sich angesichts der beengten Räumlichkeiten schnell ausbreitet. (…) Videoaufnahmen aus der Einrichtung, die der taz vorliegen, zeigen, dass offenbar kaum Schutzmasken verteilt wurden. Darüber hinaus ist soziale Distanz angesichts des Platzmangels praktisch unmöglich. Schon im Normalbetrieb sind die Lebensbedingungen in Wardia schwierig und entsprechen nicht den internationalen Standards. Derzeit sind rund 50 Menschen aus Algerien, Marokko, Senegal, Kamerun und anderen afrikanischen Staaten in der offiziell als „Empfangs- und Orientierungszentrum“ bezeichneten Anstalt interniert. (…) In einer am Freitag veröffentlichten Erklärung äußern sich mehrere Dutzend Menschenrechtsgruppen und Vereine betont wohlwollend zu einem Maßnahmenpaket zugunsten von im Land lebenden Ausländer*innen, das die Regierung diese Woche erlassen hat. Gleichzeitig fordern aber auch sie die Freilassung der in Wardia und anderen informellen Haftanstalten internierten Menschen. Diese seien angesichts der Corona-Pandemie „enormen Gesundheitsrisiken“ ausgesetzt. Tunesien hatte bereits unter der Regentschaft des 2011 gestürzten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali auf Druck der EU seine Haft- und Abschiebepraxis von Migrant*innen massiv verschärft. Vor 2011 unterhielt das Land mindestens 13 semi-legale Internierungseinrichtungen für Migrant*innen und schob Menschen immer wieder unter Verletzung internationalen Rechts in die Nachbarländer Algerien und Libyen ab...“
  • „Medienstar Polizeiroboter“ von Mirco Keilberth am 12. April 2020 in der taz online externer Link zur Entwicklung der Lage: „… Seit der Corona-Ausgangs­sperre ist irgendwie alles anders. Auch ohne Expertentalkshows in Dauerschleife wie in Deutschland wissen die Tunesier, dass ihre Welt nach der Krise nicht mehr dieselbe sein wird. Offiziell haben sich zwar weniger als 1.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Aber schon bald sind die Krankenhäuser überfordert, sagt der Minister. Der Weg in den Küsten-Vorort La Marsa führt vorbei an Polizeikontrollen, überall ernste Gesichter. Selbst die Taxifahrer sparen sich ihre sonst so verwegenen Verschwörungstheorien. Mohamed Kabiri zuckt nur mit den Schultern, auch wenn er nach seiner 10-Stunden-Schicht mit kaum mehr als 20 Euro nach Hause gehen wird. Die Straßenmärkte sind voll, denn ohne sie würden die ersten Familien schon hungern, Studenten verteilen selbst hergestellte Gesichtsmasken. Eine neue Solidarität hat Tunesien erfasst, das mit dem erneuten Wegfall der Tourismussaison wirtschaftlich am Abgrund steht. Viele private Initiativen packen dort an, wo der Staat ein Vakuum hinterlässt…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=170095
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