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Alle Jahre wieder im Januar: In Tunesien werden die Versprechungen des Sturzes der Ben Ali-Diktatur eingeklagt
10 Jahre ist es nun her, dass die jahrzehntelange Diktatur des Ben Ali-Regimes im Januar 2011 unter dem Druck einer enormen demokratischen Massenbewegung zerfiel. Versprechungen, Hoffnungen und Erwartungen waren groß – und blieben weitgehend unerfüllt. Und jedes Jahr im Januar werden diese unerfüllten Erwartungen eingeklagt gegen ein Regime konservativ-religiöser Kräfte, die nichts anderes zu tun wussten, als einen normalen peripheren Kapitalismus zu befördern, der vor allem die jungen Menschen in die Erwerbslosigkeit treibt – oder, bestenfalls, in prekäre Beschäftigung und Lebensweise. In diesem Jahr 2021 fällt aber alles „extremer“ aus: Die Proteste sind heftiger und finden im ganzen Land statt, die Polizeirepression ist brutaler – und die rechten politischen Kräfte melden sich mit ihrer Hetze stärker zu Wort. Siehe dazu einige aktuelle Berichte und Hintergrundbeiträge zur sozialen und politischen Entwicklung in Tunesien sowie den Hinweis auf unseren ersten Beitrag zu den aktuellen Protesten:
„Hunderte Festnahmen bei Protesten in Tunesien“ am 18. Januar 2021 bei der Deutschen Welle meldet: „… Nach Ausschreitungen und teils gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften ist die tunesische Armee in vier Städte des Landes gerufen worden. In Sousse, Bizerte, Kasserine und Siliana sollen Soldaten die Polizei unterstützen und Regierungsgebäude bewachen. In der Hauptstadt Tunis setzten staatliche Kräfte Tränengas ein, um die Menge zu zerstreuen. Auf Videos ist zu sehen, wie Demonstranten Straßen blockieren und Reifen in Brand setzen. Zahlreiche Geschäfte wurden geplündert. Nach Angaben des Innenministeriums wurden landesweit mehr als 630 Personen festgenommen. Bereits seit Freitag zogen überwiegend junge Menschen jede Nacht durch die Straßen und verstießen damit gegen eine nächtliche Ausgangssperre zur Eindämmung des Coronavirus. Klare politische Forderungen wurden vielerorts nicht erhoben. Beobachter werten die Randale als Ausdruck der Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Lebensbedingungen. In Tunesiens jüngerer Generation ist jeder Dritte arbeitslos…“
„Anniversaire de la chute de Ben Ali: Émeutes“ am 18. Januar 2021 bei Anthropologie du Présent ist eine Materialsammlung zu den aktuellen Protesten am Montag – mit Berichten aus: Tunis, Siliana, Kasserine, Sidi Bouzid, le Kef, Kairouan, Cité Ettadhamen, Hammam Lif, Menzel Bourguiba, Hammamet, Tebourba, Sidi Hassine, Bizerte, Cité Al Intilaka, Cité Ezzouhour, Mnihla, Sbeitla, Gafsa, El Yesminet, Beja, Menzel Abderrahmane, Le Kram und La Marsa… was schon deutlich machen dürfte, auch ohne das Land genauer zu kennen, dass es überall ist…
„Maghreb. Les jeunes Tunisiens allument le feu de la colère“ am 19. Januar 2021 bei Assawra berichtet von einigen Reaktionen des politischen Establishments – die im wesentlichen aus Kriminalisierungsversuchen, Drohungen und abenteuerlichen Konstruktionen bestehen. Kein Zufall, dass die Vorsitzende der erzreaktionären Destour-Partei (jenem traurigen Verein, der die ganze Zeit Stütze des Ben Ali-Regimes war) in den Protesten „bezahlte Agenten“ am Werk sieht, die einen Staatsstreich organisieren sollen (ohne auch nur zu sagen, wer eigentlich dann bezahlt…). Auch der Vorsitzende von Qalb Tounes, wichtigster Partei der tunesischen Rechten verlangt nicht etwa irgendwelche Reformen, sondern polizeiliche Untersuchungen. Der gleichzeitig stattgefundene Regierungswechsel (also der Austausch einer ganzen Reihe von Ministern) interessiert die Menschen, die da protestieren überhaupt nicht – weil sie sich zu Recht davon nichts erwarten, und ob sie überhaupt etwas erwarten weiß keiner, niemand hat Forderungen irgendwelcher Art erhoben, die Aktionen seien eher Ausdruck explodierender Unzufriedenheit, wird in der Meldung unterstrichen.
„Violences en Tunisie dix ans après la révolution: que se passe-t-il“ am 18. Januar 2021 ebenfalls bei Assawra berichtet von Ausgangssperre bis 17. Januar (wirkungslos) und dem Einsatzbefehl an die Armee, öffentliche Einrichtungen zu schützen – und weist darauf hin, dass es in allen betroffenen Städten ausdrücklich die jeweiligen Armenviertel sind, in denen die Proteste explodieren – bei einer in diesen Regionen vorherrschenden Erwerbslosigkeit von über 20% – nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Epidemie auf die für Tunesien so wichtige Tourismusbranche…
„Tunisie: L’UGTT étonnée par le silence des autorités face aux actes de pillage et de vandalisme“ am 18. Januar 2021 bei Tunisie Numérique berichtet von der Erklärung des Gewerkschaftsbundes UGTT – in der Unverständnis für die Verantwortlichen unterstrichen wird, angesichts des herrschenden Vandalismus der Aktionen – wohingegen den Protestierenden zwar irgendwie „Verständnis“ signalisiert wird, das einzig konkrete jedoch der Appell ist, aufzuhören…
„Tunisie – Protestations : Entrée en jeu fracassante de l’UGET qui appelle à la chute du système“ am 17. Januar 2021 bei Tunisie Numérique berichtet von einer überall verbreiteten Erklärung des Studierenden-Verbandes UGET, in der – zum Entsetzen der Berichterstatter – die aktuellen Proteste nicht nur „bedingungslos unterstützt“ werden – sondern auch zu weiteren aufgerufen…
„Tourisme, transport et textile: secteurs sinistrés par le Covid-19 en Tunisie“ von Manel Derbali am 07. Januar 2021 bei Nawaat war ein Artikel, der die offiziellen Statistiken der Regierung zur wirtschaftlichen Entwicklung Tunesiens im Jahr 2020 zusammen fasst. Wobei die drei erwähnten Branchen mit besonderer Krisenhaftigkeit auch die drei wesentlichsten Branchen der tunesischen Ökonomie sind…
- Siehe für aktuelle Berichte und Videos auf Twitter #Tunesien #Tunisie #Tunisia #TunisiaProtest und die laufende Berichterstattung von BlxckMosquito und sebastianlotzer
- Zu den Protesten am 10. Jahrestag der Revolution in Tunesien zuerst: „Neue Welle sozialer Proteste quer durch Tunesien gegen Polizeigewalt und schlechte Lebensbedingungen“ am 18. Januar 2021 im LabourNet Germany