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Kaum beachtete Wahlen in Tunesien – trotz Inflation, „Geheimvereinbarungen“ mit dem IWF und Protesten des Gewerkschaftsverbands UGTT

Tunisia’s public sector workers launch general strike (IndustriALL)Stell Dir vor, es sollen Wahlen stattfinden, und keiner schaut hin. Ungefähr so lässt sich die Situation in Tunesien im Hinblick auf die Parlamentswahlen, die am Samstag kommender Woche stattfinden sollen, zusammenfassen. Der Wahltermin fällt auf den Jahrestag der Selbstverbrennung des jungen Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010, die in den darauffolgenden Monaten politische Umbrüche in Nordafrika auslöste. Tunesiens amtierender Staatspräsident Kais Saied, er riss durch einen „institutionellen Putsch“ im Juli 2021 zahlreihe Machtbefugnisse an sich, ließ dieses Datum symbolisch aufwerten – allerdings hauptsächlich, um den bislang in der Öffentlichkeit stark präsenten Jahrestag am 14. Januar, das Datum der Flucht seines vor-vorletzten Amtsvorgängers Zine ben Abidine Ben Ali zu Anfang 2011, zu verdrängen…“ Artikel von Bernard Schmid vom 8.12.2022 – wir danken!

Kaum beachtete Wahlen in Tunesien
– trotz Inflation, „Geheimvereinbarungen“ mit dem IWF und Protesten des Gewerkschaftsverbands UGTT

Stell Dir vor, es sollen Wahlen stattfinden, und keiner schaut hin. Ungefähr so lässt sich die Situation in Tunesien im Hinblick auf die Parlamentswahlen, die am Samstag kommender Woche stattfinden sollen, zusammenfassen. Der Wahltermin fällt auf den Jahrestag der Selbstverbrennung des jungen Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010, die in den darauffolgenden Monaten politische Umbrüche in Nordafrika auslöste. Tunesiens amtierender Staatspräsident Kais Saied, er riss durch einen „institutionellen Putsch“ im Juli 2021 zahlreihe Machtbefugnisse an sich, ließ dieses Datum symbolisch aufwerten – allerdings hauptsächlich, um den bislang in der Öffentlichkeit stark präsenten Jahrestag am 14. Januar, das Datum der Flucht seines vor-vorletzten Amtsvorgängers Zine ben Abidine Ben Ali zu Anfang 2011, zu verdrängen.

Das undurchsichtige Wahlsystem, das auf einer Personenwahl mit Mehrheitswahlrecht beruht und das – vor dem durch Kais Saied seit anderthalb Jahren betriebenen, autoritären Staatsumbau und seit der „Revolution“ von 2011 geltende – Listen- und Verhältniswahlrecht ablöste, verringert das Verständnis der politischen Profile und Programme durch die tunesische Bevölkerung. Dies ist durch die Exekutive auch gewollt. In dieselbe Richtung geht die Tatsache, dass die Veröffentlichung jeglicher Umfragen zur Wahl verboten wurde. Zwar ist demoskopischen Erhebungen nicht immer zu trauen, und auch autoritäre Regime verstehen es oft, die Ergebnisse von Befragungen zu demagogischen und manipulativen Zwecken für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Doch in diesem Falle ist es die offenkundige Absicht der Machthaber, den Urnengang so stark wie möglich zu entpolitisieren und zum reinen Wettbewerb von Persönlichkeiten zu machen. Diese sollen wiederum eher regionale denn soziale Interessen vertreten. Dazu passt, dass die Nationalversammlung durch die im Juli 2022 vom Stimmvolk, bei auch laut offiziellen und möglicherweise manipulierten Zahlen siebzigprozentiger Enthaltung, angenommene neue Verfassung einer „Kammer der Regionen“ teilweise untergeordnet wird. Ohne diese zweite Kammer, die auf Gebietsinteressen aufbaut, ist das Parlament beschlussunfähig.

Das französisch-panafrikanische Wochenmagazin Jeune Afrique beobachtete am vorigen Mittwoch dazu: „Ein paar Tage nach dem offiziellen Start des Wahlkampfs verbergen viele Tunesier ihre Skepsis und ihre Politikmüdigkeit nicht. Ohnehin beherrscht zur Zeit der Fußball die Szene.“ So viel überbordender Wahlenthusiasmus war selten.

Zwar musste Tunesien inzwischen vor den Achtelfinalspielen aus der Weltmeisterschaft aussteigen, trotz dem am selben Tag errungenen Eins-zu-Null-Sieg gegen Frankreich. Dennoch interessieren die Spiele in Qatar die Tunesierinnen und Tunesier weitaus stärker als der Wahlkampf, sofern man  überhaupt von einem solchen sprechen kann. Zwar wurden 1.038 Kandidaturen für die insgesamt 161 Sitze in der Nationalversammlung registriert, darunter dieses Mal nur 15 Prozent weibliche Bewerberinnen; doch fehlt es in vielen Wahlkreisen an Kandidaten, so dass dort von Wettbewerb keine Rede sein kann.  Und wofür diejenigen stehen, die antreten, ist vielen in der Bevölkerung absolut nicht klar.

Die unter Staatspräsident Saied neu gebildete Wahlaufsichtsbehörde ISIE leistete sich zahlreiche Pannen und Peinlichkeiten. Unter anderem hatte sie zunächst schlicht vergessen, dass an einem Samstag, normalerweise Unterrichtstag, die als Wahlbüros benötigten Schulgebäude nicht zur Verfügung stehen. Daraufhin mussten kurzfristig die Jahresabschlussferien vorgezogen werden. Ansonsten machten die Mitglieder der ISIE eher dadurch auf sich aufmerksam, dass sie gegeneinander um ein gutes Ansehen bei Staatschef Saied buhlten. Zuletzt stritt die Instanz sich um Kompetenzen mit der Medienaufsichtsbehörde HAICA, die durch die vorherige Verfassung von 2014 eingerichtet worden war – der Text wurde zwar durch das Verfassungsreferendum im Juli dieses Jahres abgeschafft, die HAICA blieb jedoch in Ermangelung neuer Regeln erhalten. Beide Gremien lieferten sich eine Auseinandersetzung darum, welches von beiden die Medienberichterstattung während des aktuell, zumindest offiziell, ablaufenden Wahlkampfs kontrollieren soll. Am Samstag erklärte die HAICA, diese Kompetenz müsse ihr überlassen bleiben.

Ohnehin jedoch dürften die Medien in ihrer Berichterstattung zu politischen Dingen jeglichen Niveaus peinliche Vorsicht walten lassen. Denn seit dem 16. September trat eine Präsidialverordnung mit Gesetzeswirkung – Nummer 54 – in Kraft, das bei „Verbreitung von Falschnachrichten“ bis zu fünf Jahren Haft sowie 50.000 tunesische Dinar (umgerechnet rund 16.000 Euro) Geldstrafe androht – und diese Strafdrohung verdoppelt, sofern es sich bei den „Opfern“ um staatliche Repräsentanten handelt. Gegenstand der Verordnung mit Gesetzeskraft war offiziell der Kampf gegen Cyberkriminalität. Doch von Anfang an machte etwa die tunesische Journalistengewerkschaft SNJT darauf aufmerksam, hier hänge ein Damoklesschwert über den Häuptern von Journalistinnen und Berichterstattern.

Und dies nicht grundlos. Kurz vor der Verabschiedung des Präsidialdekrets war am 06. September der als links eingestufte, aus der historischen Opposition gegen das Ben Ali-Regime kommende Journalist Ghassen Ben Khelifa festgenommen, an einem geheimen Ort festgehalten und durch die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft verhört worden. Vorgeworfen wurde ihm, Betreiber einer Webseite zu sein, welche die islamistische Partei En-Nahdha unterstütze und in ihrem Namen zu einem Armeeputsch gegen Kais Saied aufstachele – diese von 2011 bis zum „institutionellen Putsch“ vom Juli 2021 in wechselnden Koalitionen mit regierende, stärkste Einzelpartei im vorherigen Parlament, die am Schluss allerdings nur noch knapp zwanzig Prozent der Stimmen (2019) auf sich vereinigte, wird durch Rached Ghannouchi geführt. Ihm wurde am 30. November in Washington D.C. ein Preis durch die Zeitschrift Foreign policy verliehen, während ein Gericht in Kasserine am Samstag darauf gegen seinen Sohn Mouadh Ghannouchi einen Haftbefehl wegen „Zugehörigkeit zu einer den Umsturz anstrebenden Bande“ verhängte. Wie die Mehrzahl der gegen Saied opponierenden Parteien ruft En-Nahdha zum Boykott der Parlamentswahl auf.

Der Journalist Ben Khelifa stand seinerseits jedoch den Positionen von En-Nahdha bekanntermaßen fern. Am 11. September wurde er ohne weitere Strafverfolgung freigelassen. Verbände wie die Gewerkschaft SNJT erblickten jedoch in dem, was vorausging, ein Einschüchterungsmanöver.

In den Wochen nach Verabschiedung des Präsidialdekrets wurden mehrere Journalisten vorgeladen und vernommen. Am 29. November nun wurde ein Journalist von Radio Mosaïque, Khalifa Guesmi, zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt. Er gefährdete angeblich die Staatssicherheit, weil er Informationen über die zuvor erfolgte Zerschlagung einer jihadistischen Terrorzelle im Raum Kairouan publiziert hatte und dabei aufgrund von Quellenschutz seinen Informanten nicht nannte. Die Gewerkschaft SNJT sprach in einem Kommuniqué vom 1. Dezember vom „letzten Sargnagel für die Demokratie und die Gewährleistung von Grundrechten“ in Tunesien.

Eine andere politisierte Justizaffäre ist derzeit in aller Munde: Gegen 25 Personen wird wegen „Gefährdung der Staatssicherheit“, „Präsidentenbeleidigung“ sowie „Bandenbildung zwecks Vorbereitung eines Umsturzes“ ermittelt. Dafür droht potenziell bis zu lebenslänglicher Haft, auch wenn die tunesische Webseite Business News vorige Woche mutmaßte, möglicherweise verlaufe das Ganze im Sande und diene vor allem der Ablenkung des Publikums von den gravierenden sozio-ökonomischen Problemen, aber auch der Austragung von Grabenkämpfen innerhalb der oligarchischen Führungsschicht.

Die Affäre kochte hoch, nachdem Fadhel Abdelkafi, seit 2020 Chef der als opportunistisch einzustufenden, offiziell sozialliberalen Partei Afek Tounès am Flughafen von Tunis erfuhr, dass er mit Ausreiseverbot belegt sei. Da er das Motiv dafür nicht kannte, erkundigte er sich bei einem regierungsnahen Journalisten, Riadh Jrad, welcher wiederum erfuhr, Abdelkafi stehe auf einer Liste von Prominenten und Halbprominenten, gegen die wegen gravierender Vorwürfe ermittelt wurde.

Sodann stellte sich heraus, dass der Hauptbeschuldigte ein gewisser Walid Balti sei, ein politischer Berufsopportunist, der dem ersten Staatspräsidenten Tunesiens nach dem Sturz Ben Alis – Monef Marzouki – nahe stand und auf dem Umweg über mehrere Parteien zeitweilig in der Umgebung Saieds angesiedelt war. Balti betrieb seit 2019 eine Gesellschaft für Sportwetten, was eigentlich eine Lizenz zum Gelddrucken darstellte, allerdings auch illegal war, da das Gesetz theoretisch dem Staatsunternehmen Promosport ein Monopol darauf sichert. Nach dem Putsch Saieds wurden mehrere solcher privater Gesellschaften geschlossen, möglicherweise hatten sie der Finanzierung politischer Rivalen gedient. Durch Telefonabhöraktionen wollen die Ermittler daraufhin von gravierenden Äußerungen und Plänen erfahren haben. Beteiligung daran wird einer ganzen Gruppe von Personen vorgeworfen, unter anderem auch der einflussreichen Fernsehjournalistin Maya Ksouri und der Schauspielerin Saoussen (auch Sawsen transkribiert) Maalej.

Von deren fantasmagorischem Komplott braucht Saied sich wohl eher nicht bedroht zu fühlen. Ernster zu nehmen ist da schon die Oppositionshaltung eines gewichtigeren Verbands, welcher zwar anfänglich das Vorgehen des Staatspräsidenten ab Juli 2021 unterstützte – vorrangig, um die parlamentarische Machtbasis von En-Nahdha zu beschneiden -, sich mittlerweile jedoch von ihm ab- und gegen ihn wendet. Es handelt sich um den wichtigsten tunesischen Gewerkschaftsdachverband, die UGTT, die mit über einer halben Million Mitgliedern in einem Land mit knapp zwölf Millionen Einwohnern einen gewichtigen Faktor darstellt. (ANM.: offiziell 750.000 doch Zahl ist übertrieben) In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit Tunesiens 1956, unter der Modernisierungsdiktatur von Präsident Habib Bourguiba, war ihr die Hälfte der Ministerposten reserviert. Bis heute betrachtet die UGTT sich deswegen als einen innenpolitischen Machtfaktor, der an den Staat Ansprüche auch im Namen sozialer Interessen zu richten hat, ihn aber letztlich nicht destabilisieren möchte.

Seit den jüngst mutmaßlich zwischen der tunesischen Exekutive und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) getroffenen Geheimvereinbarungen – infolge derer die zuletzt kaum noch bestehende offizielle „Kreditwürdigkeit“ Tunesiens wieder leicht heraufgestuft wurde und die Auszahlung eines IWF-Kredits über 1,9 Milliarden Dollar bevorsteht – scheint jedoch zwischen Saied und der UGTT das Tischtuch zerschnitten.

Am vorigen Donnerstag, 1. Dezember rief Noureddine Taboubi vor einer Menschenmenge im Kongresspalast in Tunis aus: „Wir warnen die Regierung vor jeder Maßnahme, die die Preise für Grundbedarfsgüter erhöht“ – bislang sind in Tunesien, ähnlich wie fast überall in der Region, Grundnahrungsmittelpreise durch Subventionen der öffentlichen Hand gedeckelt – „und die Bevölkerung aushungert.“ Er verurteilte „Geheimvereinbarungen“ mit dem IWF und prangerte die bevorstehenden Parlamentswahlen als „geschmack- und geruchlos“ an. Das versammelte Publikum skandierte dazu: „Wahlfarce, Wahlfarce!“

Bis Ende Dezember will die UGTT nun ihre Gremien versammeln, um darüber zu beraten, ob sie sich zum Aufruf für einen Generalstreik entscheidet.

Artikel von Bernard Schmid vom 8.12.2022 – wir danken!

Es handelt sich um eine Langfassung von: Lustlos in die Wahlen. Viele Tunesier sehen in den anstehenden Parlamentswahlen eine Farce. Artikel von Bernhard Schmid in der Jungle World 2022/49 externer Link (im Abo)

Siehe zum Hintergrund auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=206764
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