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Es rappelte gestern, am zweiten Jahrestag des Ausbruchs der (ersten Etappe der) Revolution – Steine auf den Präsidenten

Artikel von Bernard Schmid vom 18.12.2012 – Teil 4

Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich der 26jährige „Prekäre“ und „illegale“ Gemüseverkäufer Mohammed Bou’azizi in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid, vor einem Polizeigebäude. Dieses Ereignis löste jene Revolte aus, die man damals – mit einem leicht folklorisierenden Begriff – als „Jasminrevolution“ bezeichnete und später mit dem allgemeineren Begriff „Arabischer Frühling“ belegte. Es führte zunächst zum Sturz des damaligen, seit November 1987 amtierenden, tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben ‘Ali am 14. Januar 2011 (nachdem Mohammed Bou’azizi am 04. Januar in einem Krankenhaus von Tunis seinen Verbrennungen erlegen war). In den darauffolgenden Wochen und Monaten erreichte die Schockwelle der Geschehnisse Ägypten, dann Jemen, Bahrein, Syrien und andere Staaten.

Zum zweiten Jahrestag des Auslösers all dieser Ereignisse fand am gestrigen Montag in der 40.000 Einwohner/innen zählenden Stadt Sidi Bouzid eine Gedenkfeier statt. An ihr nahmen auch hochrangige Vertreter der tunesischen Zentralregierung statt, darunter Staatspräsident Moncef Marzouki (ein früherer Menschenrechtler, von der nationalistisch-liberalen Partei „Kongress für die Republik“ CPR) und Mustapha Ben Ja’afar (Chef der sozialdemokratischen Partei Ettakatol alias „Forum für Arbeit und demokratische Freiheiten“).

Beide politischen Kräfte regieren derzeit in einer Drei-Parteien-Koalition zusammen mit der islamistischen Partei En-Nahdha („Wiedergeburt“), werden durch diese jedoch weitgehend marginalisiert und stehen perspektivisch am Rande der Bedeutungslosigkeit. Real bedeutende Kräfte sind derzeit En-Nahdha, die zum Teil aus Anhängern des alten Regimes bestehende – und als Oppositionskraft im Aufwind befindliche – Partei Nidaa Tounès („Appell Tunesiens“, „Aufruf Tunesiens“) – sowie, auf sozialer Ebene, der Gewerkschaftsdachverband UGTT. Jüngst suchte die UGTT, nach Prügeleien mit En Nahdha-Anhänger vor dem Gewerkschaftssitz in Tunis am 04. Dezember, eine Kraftprobe mit der Regierung und rief zu einem eintägigen Generalstreik am Donnerstag, den 13. Dezember d.J. auf. Letzterer wurde jedoch 24 Stunden vorher abgesagt, nachdem die UGTT mit der Regierung einen verbalen Formelkompromiss ausgehandelt hatte (siehe Teil 3 dieses Artikels). Realer Grund dafür war jedoch hauptsächlich, dass relevante Teile der UGTT im Inneren des Gewerkschaftsverbands geltend machten, man sei nicht genügend auf eine Kraftprobe vorbereitet und solle sich lieber wesentlich mehr Zeit lassen. Im Januar 13 wird die UGTT über eventuelle künftige Aktionen entscheiden (vgl. dazu http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article27307 externer Link)

Unterdessen hat sich die soziale Situation im Land jedoch keineswegs beruhigt. Angesichts der Gedenkfeier in Sidi Bouzid wurde Präsident Moncef Marzouki von Teilnehmern zum Teil heftig angegangen. Bereits am Morgen, als Marzouki einen Kranz zum Gedenken an Mohammed Bou’azizi an dessen Grabstein niederlegte, wurde er verbal attackierte. Ein Einwohner rief ihm etwa zu: Wir wollen Sie hier nicht!“ Ein anderer rief aus: „Sie sind vor einem Jahr hierher gekommen und haben versprochen, dass sich innerhalb von sechs Monaten etwas ändern werde. Und nichts ist passiert!“ Moncef Marzouki antwortete darauf, dass die Regierung über „keinen Zauberstab“ verfüge.

Das reale Problem besteht dabei nicht so sehr darin, dass die Regierenden keine Zauberstäbe besitze (worüber man gerne hinwegsehen könnte), sondern dass sie keinerlei soziale und ökonomische Alternative zum Bestehenden anzubieten hat oder eine solche Perspektive erkennbar anstrebt. Bezogen auf die Region von Sizi Bouzid, sind die Investitionen in den ersten elf Jahresmonaten 2012 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2011) um 36 Prozent zurückgegangen, und die verfügbaren „Arbeitsplatzangebote“ um 24,3 Prozent (vgl. etwa http://www.assawra.info/spip.php?article1848 externer Link)

Im weiteren Verlauf des gestrigen Tages versammelten sich circa 2.000 bis 3.000 Menschen vor der Präfektur (= Polizeibehörde und juristische Vertretung des Zentralstaats im Bezirk) von Sidi Bouzid, dortselbst, wo Mohammed Bou’azizi sich mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen hatte. Am selben Ort sollte Staatspräsident Moncef Marzouki nun eine Rede halten. Dabei kam es erneut zu „unfreundlichen“ Zwischenrufen, und kurz darauf flogen nun sogar Steine.

Politisch problematischer ist, dass neben spontan ihren Unmut ausdrückenden Einwohner/inne/n auch Angehörige einer identifizierbaren politischen Strömung sich unter die Unzufriedenen gemischt hatten, und zwar Anhänger der salafistischen Partei Hizb ut-Tahrir (der Name bedeutet „Partei der Befreiung“, diese Strömung innerhalb des islamistischen Spektrums existiert als eher randständige Kraft auch in Deutschland). Ihre Fahnen waren gut sichtbar. Die Salafisten machen derzeit durch starken außerparlamentarischen Aktivismus auf sich aufmerksam und versuchen, aus dem „Verrat“ En-Nahdhas an der Regierung ihrerseits Profit zu schlagen. Sie werfen den Regierungsislamisten eine „Aufgabe“ ihres ideologischen Programms vor; wenn diese nur ihre ideologischen „Tugend“-Vorgaben der Gesellschaft mit hinreichendem Druck aufzwingen würden (etwa zu Themen wie Geschlechtertrennung und Alkoholverbot oder Bekleidungsvorschriften für Frauen), dann würde es schon klappen bei der Lösung sozialer Probleme, weil diese vor allem aus „Korruption“ resultierten und Letztere wiederum aus der „Sittenlosigkeit“. Neben gewerkschaftlichen Kräften und dem relativ aufstrebenden Linksbündnis Front populaire (ungefähr „Volksfront“) versuchen sich auch die Salafisten als Protestkraft zu profilieren. Gleichzeitig weisen sie Kontakte mindestens zu einem Flügel innerhalb der strategisch zerstrittenen und zerfahrenen Regierungspartei En-Nahdha auf.

Seit ihren Attacken auf die US-Botschaft in Tunis am 14. September 2012 gerieten die (in verschiedenen Organisationen, neben Hizb ut-Tahrir u.a. auch der „Reformfront“ – Dschabah al-Islah – und djihadistischen Vereinigungen zusammengeschlossenen) Salafisten allerdings erstmals unter repressiven Druck seitens der Staatsorgane. Nachdem sie zuvor oft monatelang Studierende oder Barbesucher terrorisiert hatten,kam es zu mehreren Dutzend Festnahmen unter djihadistisch orientierten Salafisten. Daraufhin traten mehrere salafistische Untersuchungshäftlinge in den Hungerstreik. Zwei von ihnen, der 23jährige Béchir Gholli und der 28jährige Mohammed Bakhti, starben am 15. Respektive 17. November dieses Jahres nach mehrwöchigem Hungerstreik. (Vgl. etwa http://www.lefigaro.fr/international/2012/11/18/01003-20121118ARTFIG00090-mort-d-un-deuxieme-detenu-salafiste-a-tunis.php externer Link)

Weder die soziale, noch die politische Front dürften sich in Tunesien kurzfristig beruhigen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=18451
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